Basics der Schuldfähigkeitsbegutachtung Basics der Testierfähigkeitsbegutachtung Dr. med. Nahlah Saimeh n.saimeh@lwl.org forensikpsych@nahlah-saimeh.de
Teil I: Schuldfähigkeitsbegutachtung: Warum Gutachten zur Frage der Schuldfähigkeit? Schuld = subjektive Zurechnung normabweichenden Verhaltens, wenn von Anderen in vergleichbarer inner und äußerer Situation normgerechtes Verhalten erwartet werden kann. (Schreiber 1994, zit. nach Nedopil 2004)
BGH: die freie Willensentscheidung ist möglich! Pragmatischer Schuldbegriff. Kernfrage: Hätte ein Mensch auch anders handeln können? / Hätte er das Verhalten lassen können? Es kommt auf den inneren Zusammenhang zwischen psychischer Störung und dem in Rede stehenden Delikt an (Symptomatizität der Straftat!).
Stellung und Aufnahme des Sachverständigen: Sachverständige sind Personen, die aufgrund besonderer Sachkenntnis über Tatsachen, Wahrnehmungen oder Erfahrungssätze Auskunft geben oder einen bestimmten Sachverhalt beurteilen können. (vgl. Boetticher et al. 2005) BGH: Der Gutachter ist Gehilfe des Gerichts (BGH 3, 28) Er ist aber nicht Fahnder oder Ermittler. Das Gutachten hat keine Bindungswirkung. Der Sachverständige bleibt in seinem (!) Kompetenzbereich selbständig und unabhängig....
Juristischer versus medizinischer Krankheitsbegriff: Der juristische Krankheitsbegriff unterscheidet sich vom medizinischen Krankheitsbegriff. Der medizinische Krankheitsbegriff bezieht sich auf Ursache, Symptomatik, Verlauf und Therapie einer gesundheitlichen Störung. Der juristische Krankheitsbegriff setzt den Schwerpunkt vorwiegend auf den Ausprägungsgrad einer Störung und zwar unabhängig von der Ursache oder Behandelbarkeit. Es genügt dabei nicht, die Erkrankung dem juristischen Eingangsmerkmal zuzuordnen, sondern das Ausmaß der Funktionseinschränkung, die aus der Störung resultiert, aufzuzeigen.
Diagnosebegriffe: Im Strafrecht (vgl. 20 StGB) krankhafte seelische Störung tiefgreifende Bewusstseinsstörung Schwachsinn schwere andere seelische Abartigkeit
20 StGB Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung, wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. 21 StGB Verminderte Schuldfähigkeit Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach 49 Abs I gemildert werden. ( 19: Schuldunfähigkeit eines Kindes. Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.)...
Krankhafte seelische Störung: Organische Psychosen Psychosen aus dem affektiven und schizophrenen Formenkreis Degenerative Hirnerkrankungen Durchgangssyndrome (toxisch, traumatisch, rauschbedingt) Epilepsie Abhängigkeiten (stofflich) Genetische Erkrankungen: Trisomie 21, Klinefelter- Syndrom
Tiefgreifende Bewusstseinsstörung: Bewusstseinsveränderungen, die beim ansonsten psychisch Gesunden auftreten und zu erheblichen psychischen Funktionseinschränkungen führen. (Affekttat, Taten aus existentieller Angst oder Zorn heraus, aber auch Gefühlsabstumpfung)
Schwachsinn: Gemeint ist die idiopathische Minderbegabung. Nicht nur den gemessenen IQ berücksichtigen, sondern auch die sonstige soziale Reife, Täterpersönlichkeit, Sozialisation. Minderungen des IQ können eine leichtere Verführbarkeit, verminderte Erregungskontrolle oder geringe Handlungsfähigkeit in komplexen Situationen bedingen.
Schwere andere seelische Abartigkeit: Persönlichkeitsstörungen Neurotische Störungen Sexuelle Paraphilien Chronische psychische Abhängigkeiten (stofflich und nicht stofflich) Paranoide Entwicklungen Störungen der Impulskontrolle Die Schwere bezieht sich auf eine Vergleichbarkeit mit der Funktionseinbuße bei Psychosen (vgl. Saß 1985) oder aber der schwerwiegenden Einbuße sozialer Kompetenz im Sinne des strukturell- sozialen Krankheitsbegriffs von Rasch (1999)....
Einsichtsunfähigkeit: Einsichtsunfähigkeit liegt vor, wenn die kognitiven Funktionen nicht ausreichen, eine Einsicht in das Unrecht der Handlung zu ermöglichen. (ggf. bei schweren Psychosen, hochgradiger Minderbegabung) Wird Einsichtsunfähigkeit bejaht, entfällt die Prüfung der Steuerungsfähigkeit! Liegt Einsichtsfähigkeit vor, dann muss die Steuerungsfähigkeit geprüft werden.
Steuerungsunfähigkeit / erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit: Einbußen der voluntativen Fähigkeiten, die zu einem Handlungsentwurf beitragen. (Nedopil 2004) Beeinträchtigung innerer Freiheitsgrade und Handlungsspielräume Bei der Feststellung einer verminderten Steuerungsfähigkeit muss eine Quantifizierung erfolgen....
Immer ein zweistufiges Vorgehen: Liegt beim Probanden eine psychische Störung gem. der vier Eingangsmerkmale nach 20 StGB vor? Wenn ja, welche? Wodurch ist sie gekennzeichnet? Wie beeinflusst die Störung zur Tatzeit Einsichtsfähigkeit bzw. Steuerungsfähigkeit? Das ausschließliche Stellen einer Diagnose gem. ICD/DSM reicht nicht aus!...
Schritte der Beantwortung der vorgelegten Fragen: 1. Diagnose stellen und Störung beschreiben 2. Innerpsychische Zusammenhänge aufdecken 3. Subsumtion unter einen juristischen Krankheitsbegriff 4. Entwicklung einer Hypothese über die störungsbedingte Funktionsbeeinträchtigung 5. Quantifizierung der Funktionsbeeinträchtigung! 6. Benennung der Wahrscheinlichkeit, mit der die klinische Hypothese zutrifft.
Absolute Pflichtlektüre für alle Gutachter im Bereich strafrechtlicher Begutachtung!! Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten (Boetticher, Nedopil, Bosinski, Sass 2007) Die Mindestanforder. sollen den Verfahrensbeteiligten die Beurteilung der Sachkunde des Gutachters und der Gutachtenqualität erleichtern. Zuordnung einer Störung zu ICD/ DSM bedeutet noch keine Aussage über das Ausmaß, der Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit und seine forensische Bedeutung. Soziale und biographische Merkmale müssen unter dem Gesichtspunkt der zeitlichen Konstanz von Auffälligkeiten dargestellt werden.
Entscheidend ist immer das mündlich erstattete Gutachten vor Gericht Kommt es infolge der Störung auch jenseits des Deliktes im Alltag zu sozialen Einschränkungen bzw. Problemen? (Ausprägungsgrad der Störung). Auf den Zustand bei der Begehung der Tat kommt es an. Die Frage der Erheblichkeit gem. 21 StGB ist eine Rechtsfrage, in die normative Aspekte mit einfließen. Je gravierender das Delikt, desto höher sind die Anforderungen der Rechtsordnung, die an eine Person gestellt werden.
Formelle Anforderungen Nennung von Auftraggeber und Fragestellung Darlegung von Ort, Zeit, Dauer der Untersuchung Dokumentation der Aufklärung Darlegung besonderer Untersuchungsmethoden Exakte, getrennte Wiedergabe von Akteninhalt und Exploration Separate Darstellung der Ergebnisse von Zusatzuntersuchungen
Formelle Anforderungen Eindeutige Trennung von Befundwiedergabe und Interpretation/ Beurteilung Trennung von gesichertem medizinischen Wissen und eigener Meinung oder Mutmaßung des Gutachters Offenlegung von Unklarheiten Wissenschaftliche Zitierpraxis Klare Gliederung Hinweis auf Vorläufigkeit des schriftlichen Gutachtens
Inhaltliche Anforderungen Vollständige Exploration (Bei Sexualdelikten Sexualanamnese!,Deliktschilderung!!) Diagnosen gem. Klassifikationssystemen und bei Abweichung Erläuterung, nach welchem System und warum Darlegung von Differentialdiagnosen Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die diagnostizierte Störung im allgemeinen Vorkommen
Inhaltliche Anforderungen Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die Störung bei dem hier vorhandenen Probanden vorliegen und in welchem Ausmaß sie bei der Begehung der Tat vorlagen Zuordnung der Störung zu den vier Eingangsmerkmalen Darstellung des Schweregrades der Störung Folgen für Einsichts-/Steuerungsfähigkeit Denkbare Beurteilungsalternativen
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Geschäftsfähigkeit, Prozessfähigkeit und Testierfähigkeit sind juristisch nicht positiv normiert, sondern diese Fähigkeiten werden jedem Erwachsenen grundsätzlich zugesprochen.
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Gesetzliche Grundlagen: 104 Nr. 2 BGB: Geschäftsunfähig ist, wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. 105 BGB: Abs. 1: Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig. Abs. 2: Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zustande der Bewusstlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistestätigkeit abgegeben wird.
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Testierunfähigkeit ist ein Sonderfall der Geschäftsunfähigkeit 2229 Abs. 4 BGB: Wer wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, wegen Geistesschwäche oder wegen Bewusstseinsstörungen nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, kann ein Testament nicht errichten.
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Nur die Testierunfähigkeit ist zu beweisen. Dazu wird juristisch ein hoher Grad der Wahrscheinlichkeit gefordert (nicht ausschließbar reicht nicht aus!) Auch bei psychiatrischen Zweifeln muss dennoch von Testierfähigkeit ausgegangen werden.
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Der Sachverständige klärt, ob eine für die Testierfähigkeit relevante psychische Störung überhaupt zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung vorgelegen hat. Diagnose gem. ICD/DSM Dann folgt die Beurteilung des klinisch relevanten Ausprägungsgrades der Störung zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung in Bezug auf die für die Testierfähigkeit relevanten psychischen Funktionen Daraus folgt: konkrete Beschreibung der Psychopathologie für die freie Willensbestimmung
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Die allgemeine Vorstellung von einem Testament reicht nicht aus! Der Testamentserrichtende muss fähig sein, den Inhalt und die Tragweite seiner Entscheidungen eigenständig zu erfassen und kritisch zu würdigen. Es gibt keine partielle Testierunfähigkeit. Entweder ganz oder gar nicht! Auch unter Betreuung stehende Personen sind grundsätzlich erst einmal testierfähig.
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: KEINE psychodynamische oder sonst wie motivische Interpretation des Testaments durch den Gutachter! Hörigkeit ist kein Gegenargument! Testamente können vom Inhalt her fragwürdig erscheinen, das ist aber keine Fragestellung an den Sachverständigen! Ob die freie Willensbestimmung in rechtlicher Hinsicht aufgehoben war, bleibt der juristischen Würdigung durch das Gericht vorbehalten
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Übersetzung der medizinischen Diagnosen in juristische Terminologie: Krankhafte Störung der Geistestätigkeit Geistesschwäche Bewusstseinsstörungen
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Das Ausmaß der Psychopathologie (zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung) in Bezug auf Einsichtsfähigkeit und einsichtsgeleiteter Handlungsfähigkeit ist darzulegen.
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Krankhafte Störung der Geistestätigkeit: Demenz ab mittelschwerem Ausprägungsgrad (dauerhafte psychopathologische Symptomatik) Akute (!) Psychosen Bei Wahnerkrankungen, wenn der Inhalt des Testaments sich auf den Wahn bezieht Schwere schizophrene Residualzustände...
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Krankhafte Störung der Geistestätigkeit: Manien Depression mit psychotischen Symptomen Suizid bedeutet nicht per se eine Testierunfähigkeit im Vorfeld der Selbsttötung
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Geistesschwäche: Intelligenzminderungen (IQ unter 60)
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Praktisches Vorgehen: Alle verfügbaren Unterlagen durch das Gericht anfordern lassen Zeugenbefragung vor dem Zivilgericht Darlegung psychopathologischer Veränderungen an einer Zeitachse
Teil 2: Begutachtung zur Testierfähigkeit: Probleme in der Praxis: Klinisch- psychopathologische Dokumentation in Krankenhäusern und Pflegeheimen sowie bei ambulant betreuenden Ärzten sind oftmals in Bezug auf Testierunfähigkeit weitgehend ohne Aussagekraft Wünschenswert ist eine Dokumentation im Vorgriff auf eine mögliche etwaige Begutachtung zur Frage der Testierfähigkeit Wünschenswert ist auch eine andere Dokumentationspflicht der Notare
Weiterführende Literatur: Boetticher, N. Nedopil, H.A.G. Bosinski, H. Sass: Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1 3-9 (2007) E. Habermeyer, H. Sass: Die Mindeststandards der Schuldfähigkeitsbegutachtung aus psychiatrischer Sicht. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 1 : 10-14 (2007) W. Janzarik: Grundlagen der Schuldfähigkeitsprüfung. Enke 1995 H.L. Kröber, D. Dölling, N. Leuygraf, H. Sass (Hrsg): Handbuch der Forensischen Psychiatrie Bd. 1 und Bd. 2, Steinkopff 2007 und 2010 N. Nedopil, J.L. Müller: Forensische Psychiatrie. Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht. Thieme Verlag, 4. Aufl. 2012
Herzlichen Dank! Dr. med. Nahlah Saimeh Ärztliche Direktorin LWL-Zentrum für Forensische Psychiatrie Lippstadt Eickelbornstraße 21 59556 Lippstadt Telefon: 02945/9812004 Telefax: 02945/9812009 nahlah.saimeh@wkp-lwl.org