Personenrecht: Übung Nr. 1

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Transkript:

Personenrecht: Übung Nr. 1 Prof. Andrea Büchler HS 2017 Seite 1

Fall 1

Fall 1: Einstieg in die Falllösung Welche gesetzlichen Normen sind vorliegend relevant? HS 2017 Seite 3

Fall 1: Einstieg in die Falllösung ZGB 305 I Verweis auf ZGB 11 ff. HS 2017 Seite 4

Fall 1: Einstieg in die Falllösung Handlungsfähigkeit Wo ist diese geregelt? HS 2017 Seite 5

Fall 1: Einstieg in die Falllösung ZGB 12: Handlungsfähigkeit Handlungsfähig = urteilsfähig + volljährig Privatrechtliche Rechtswirkungen herbeiführen Geschäftsfähigkeit (insb. Vertragsfähigkeit) Deliktsfähigkeit: Haftung für unerlaubte Handlungen nach OR 41 ff. Spezialfall: OR 54 HS 2017 Seite 6

Fall 1: Einstieg in die Falllösung Handlungsunfähigkeit Wo ist diese geregelt und welche Unterscheidungen lassen sich treffen? HS 2017 Seite 7

Fall 1: Einstieg in die Falllösung ZGB 17: Handlungsunfähigkeit Nicht volljährig und/oder nicht urteilsfähig Beschränkt handlungsfähig (ZGB 18): Volljährig + urteilsunfähig Beschränkt handlungsunfähig (ZGB 19 ff.): Nicht volljährig + urteilsfähig Marlena? HS 2017 Seite 8

Fall 1: Relevante Fragestellungen Was sind die relevanten Fragestellungen, welche beantwortet werden müssen? HS 2017 Seite 9

Fall 1: Relevante Fragestellungen Fragestellung I: Darf Marlena selber über das Stechen eines Tattoos entscheiden bzw. einwilligen? Fragestellung II: Kann sie ohne Einwilligung der Eltern den Vertrag Tattoo gegen CHF 200.- schliessen? HS 2017 Seite 10

Fall 1: Relevante Fragestellung I Einschlägige Norm? HS 2017 Seite 11

Fall 1: Relevante Fragestellung I Vorliegend relevante Norm für Einwilligung in Körperverletzung: ZGB 19c I Voraussetzung: Urteilsfähigkeit ZGB 16 Wichtig: Relativität der Urteilsfähigkeit: Urteilsfähigkeit bestimmt sich immer für den konkreten Einzelfall HS 2017 Seite 12

Fall 1: Kriterien Urteilsfähigkeit Fähigkeit, einen Willen zu bilden (intellektuelle Komponente) Fähigkeit, entsprechend diesem Willen zu handeln (voluntative Komponente) HS 2017 Seite 13

Fall 1: Intellektuelle Komponente Erfordernis verstandesgemässes Urteilsvermögen Einsicht in die wirtschaftliche bzw. lebensgestaltende Bedeutung Gewisser Intelligenzquotient Rationale Denkfähigkeit HS 2017 Seite 14

Fall 1: Intellektuelle Komponente Realitätsbezug Fähigkeit der Realitätserfassung aufgrund Lebenserfahrung + Erinnerungsvermögen Einschätzung der Tragweite eines Geschäfts HS 2017 Seite 15

Fall 1: Intellektuelle Komponente Fähigkeit Bildung nachvollziehbarer Motive Verstandgeleitete Verhaltenskontrolle (z.b. sich nicht rein durch Emotionen leiten lassen) Fähigkeit den gefassten Willen gegen aussen zu vertreten HS 2017 Seite 16

Fall 1: Voluntative Komponente Fähigkeit nach dem gefassten Willen zu handeln Widerstandsfähigkeit gegen Willensbeeinflussung Dritter Der geäusserte Wille muss der eigene Wille der Person sein HS 2017 Seite 17

Fall 1: Relevante Fragestellung I Kommt ZGB 19c I zur Anwendung bzw. ist Marlena in Bezug auf das Stechen eines Tattoos urteilsfähig? HS 2017 Seite 18

Fall 1: Relevante Fragestellung II Kann Marlena den Vertrag Tattoo gegen CHF 200.- ohne Zustimmung der Eltern abschliessen? HS 2017 Seite 19

Fall 1: Relevante Fragestellung II Relevante gesetzliche Bestimmung? HS 2017 Seite 20

Fall 1: Relevante Fragestellung II ZGB 323 I Schliesst zwangsläufig auch das Recht mit ein, in diesem Rahmen Verträge schliessen zu dürfen HS 2017 Seite 21

Höchstpersönliche Rechte und Urteilsfähigkeit Ausübung höchstpersönlicher Rechte Urteilsfähige Kinder Urteilsunfähige Kinder Relativ höchstpersönliche Rechte Absolut höchstpersönliche Rechte Selbständige Ausübung der Rechte, Art. 19c Abs. 1 ZGB (Beschränkte Handlungsunfähigkeit) Vertretungsfreundlich: gesetzlicher Vertreter handelt Vertretungsfeindlich: Recht kann nicht ausgeübt werden Ausnahme: Gesetzlich vorgeschriebenes Mitentscheidungsrecht des gesetzlichen Vertreters Gesetzlich vorgeschriebene, fixe Altersgrenze Grenze: Kindeswohl HS 2017 Seite 22

Fall 1: Variante Relevante gesetzliche Bestimmung? HS 2017 Seite 23

Fall 1: Variante ZGB 323 I Fazit? Hinweis: Zurückhaltung bei Dauerschuldverträgen! Exkurs: Taschengeld Fällt dies unter ZGB 19 II oder ZGB 323 I? HS 2017 Seite 24

Fall 2

Fall 2: Einstieg in die Falllösung Ausübung höchstpersönlicher Rechte Urteilsfähige Kinder Urteilsunfähige Kinder Relativ höchstpersönliche Rechte Absolut höchstpersönliche Rechte Selbständige Ausübung der Rechte, Art. 19c Abs. 1 ZGB (Beschränkte Handlungsunfähigkeit) Vertretungsfreundlich: gesetzlicher Vertreter handelt Vertretungsfeindlich: Recht kann nicht ausgeübt werden Ausnahme: Gesetzlich vorgeschriebenes Mitentscheidungsrecht des gesetzlichen Vertreters Gesetzlich vorgeschriebene, fixe Altersgrenze Grenze: Kindeswohl HS 2017 Seite 26

Beschränkte Handlungsunfähigkeit Roland ist nicht volljährig und steht unter elterlicher Sorge der Mutter Als gesetzliche Vertreterin trifft grundsätzlich Mutter die nötigen Entscheidungen Einschränkungen der elterlichen Sorge, soweit das nicht volljährige Kind selber beschränkt handlungsfähig ist (Art. 305 Abs.1 ZGB) Art. 19c Abs. 1 ZGB: urteilsfähige handlungsunfähige Personen üben Rechte, die ihnen um ihrer Persönlichkeit willen zustehen, ohne die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters aus (höchstpersönliche Rechte) Zur Diskussion steht eine medizinische Behandlung Einwilligung in eine medizinische Behandlung gehört grundsätzlich zu den höchstpersönlichen Rechten Ist Roland urteilsfähig, darf er selber über die Behandlung entscheiden Ist Roland urteilsunfähig, kann die Mutter als gesetzliche Vertreterin entscheiden HS 2017 Seite 27

Urteilsfähigkeit von Roland Frage der Urteilsfähigkeit ist wiederum zentral Relativität der Urteilsfähigkeit: Urteilsfähigkeit bestimmt sich immer für den konkreten Einzelfall Entscheid über Urteilsfähigkeit liegt beim behandelnden Ärzteteam Urteilsfähigkeit bezüglich medizinische Behandlung: Patient verfügt über intellektuelle Fähigkeiten, Sachverhalt und vorgeschlagene Behandlungsmöglichkeiten sowie Folgen der Nichtbehandlung zu verstehen, Bedeutung für Zukunft und Gesundheit zu ermessen, Vorteile und Nachteile verschiedener Alternativen abzuwägen Wichtig: Es geht nicht darum, welche Behandlung die bessere oder vernünftigere ist urteilsfähige Patient hat das Recht, auch unvernünftige Entscheidungen zu treffen aufgrund eines objektiv unvernünftigen Behandlungsverzichts darf nicht auf Urteilsunfähigkeit geschlossen werden HS 2017 Seite 28

Urteilsfähigkeit von Roland Kriterien für Urteilsfähigkeit - Alter - reifer und überlegter Eindruck - scheint gesundheitliche Situation erfassen zu können - persönliche Erfahrungen mit Krankheit (z.b. Nebenwirkungen) Kriterien gegen Urteilsfähigkeit - Tragweite der Entscheidung - schwerwiegende Behandlung - Entscheidung allenfalls aufgrund depressiver Verstimmung - Auseinandersetzung mit alternativen Heilmethoden? HS 2017 Seite 29

Rechtsfolgen Bei Urteilsfähigkeit ist Meinung von Roland als Ausfluss seines höchstpersönlichen Rechts zu respektieren elterliches Sorgerecht ist bezüglich Art der medizinischen Behandlung beschränkt keine Kindesschutzmassnahmen Bei Urteilsunfähigkeit entscheidet Mutter als sorgeberechtigter Elternteil Entscheidung richtet sich nach dem Kindeswohl Kindeswohl: physisches Wohl/psychische, soziale, kulturelle Aspekte objektivierter Kindeswohlbegriff im Medizinrecht: ob Behandlung im Kindeswohl liegt, bestimmt sich zunächst nach medizinischen Kriterien (gesundheitliches Interesse des Kindes?) Verweigert Mutter Einwilligung in eine medizinisch notwendige und unaufschiebbare Behandlung, ist Kindesschutzbehörde anzurufen HS 2017 Seite 30

Fall 3

Fall 3: Einstieg in die Falllösung Ausübung höchstpersönlicher Rechte Urteilsfähige Kinder Urteilsunfähige Kinder Relativ höchstpersönliche Rechte Absolut höchstpersönliche Rechte Selbständige Ausübung der Rechte, Art. 19c Abs. 1 ZGB (Beschränkte Handlungsunfähigkeit) Vertretungsfreundlich: gesetzlicher Vertreter handelt Vertretungsfeindlich: Recht kann nicht ausgeübt werden Ausnahme: Gesetzlich vorgeschriebenes Mitentscheidungsrecht des gesetzlichen Vertreters Gesetzlich vorgeschriebene, fixe Altersgrenze Grenze: Kindeswohl HS 2017 Seite 32

Zulässigkeit der Abgabe der Antibabypille Lena ist 14 Jahre alt; sexuelles Schutzalter liegt bei 16 Jahren Strafrechtliche Relevanz (Art. 187 Abs. 1 StGB)? Altersunterschied zu Freund nicht bekannt Falls Altersunterschied mehr als 3 Jahre könnte die Verschreibung der Pille als Beihilfe zu Art. 187 StGB betrachtet werden Frauenärztin müsste vorsätzliches Handeln nachgewiesen werden In der Strafrechtslehre umstritten; neuere Meinungen gehen davon aus, dass die Verschreibung von Verhütungsmitteln nicht strafbar ist HS 2017 Seite 33

Höchstpersönliches Recht Persönlichkeitsrecht enthält auch Recht auf eine selbstbestimmte Sexualität Selbstbestimmte Sexualität beinhaltet Recht auf medizinischgynäkologische Beratung und Untersuchung Selbstbestimmte Sexualität beinhaltet Recht auf Verhütungsmittel Selbstbestimmte Sexualität betrifft Kernbereich der Persönlichkeit Entscheid über Einnahme der Antibabypille betrifft ein höchstpersönliches Recht HS 2017 Seite 34

Ausübung höchstpersönlicher Rechte Entscheidend für Verschreibung der Antibabypille ohne Wissen der Eltern ist Urteilsfähigkeit von Lena Ist Lena urteilsfähig bezüglich Verschreibung? Relativität der Urteilsfähigkeit (konkrete Person, konkrete Handlung, konkreter Zeitpunkt) Kriterien: Alter (keine starre Altersgrenze), persönlicher Eindruck, Intelligenz, familiärer Hintergrund, persönlicher Hintergrund, Konsequenzen der Handlung, Risiken der Handlung, konkrete Kenntnisse Wird Urteilsfähigkeit bejaht, ist Lena beschränkt handlungsunfähig i.s.v. Art. 19c Abs. ZGB Lena entscheidet selbst über Einnahme der Antibabypille Folgen bei Urteilsunfähigkeit? HS 2017 Seite 35

Abschluss des Behandlungsvertrages Vornahme einer medizinischen Behandlung bedarf der Einwilligung der Patientin und des Abschlusses eines Behandlungsvertrages Wegen Handlungsunfähigkeit kann die 14-jährige Lena grundsätzlich keinen Behandlungsvertrag abschliessen (Ausnahmen in Art. 19 Abs. 2 ZGB) Nach Rechtsprechung des BGer können urteilsfähige Kinder und Jugendliche auch diejenigen Verträge abschliessen, die zur Ausübung der höchstpersönlichen Rechte gehören Ansicht erscheint sachgerecht, da urteilsfähige Patientinnen sonst ihre höchstpersönlichen Rechte gar nicht wahrnehmen könnten Auffassung wird in der Lehre insoweit geteilt, als sich Kinder und Jugendliche nicht weit über ihre Möglichkeiten hinaus verpflichten und verschulden müssen HS 2017 Seite 36

Ärztliche Schweigepflicht Art. 321 StGB: Arzt bzw. Ärztin ist an das Berufsgeheimnis gebunden Geheimnisherr kann Arzt bzw. Ärztin vom Berufsgeheimnis entbinden Wird Lena als urteilsfähig betrachtet, ist sie Geheimnisherrin Lena entscheidet alleine über die Weitergabe von Information Ohne das Einverständnis von Lena darf die Ärztin die Eltern nicht informieren (keine Angaben über ärztlichen Besuch, über Inhalt der Beratung, über sexuelle Aktivität von Lena usw.) HS 2017 Seite 37

Haftung der Ärztin Lena erleidet wegen der Antibabypille eine Lungenembolie Haftung der Ärztin für gesundheitliche Komplikationen? Haftung setzt voraus, dass Verordnung der Pille kausal war für eingetretenen Schaden und die Ärztin die Behandlung nicht nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt hat Gemäss Sachverhalt hat die Ärztin Lena über die gesundheitlichen Risiken der Antibabypille aufgeklärt Lena ist urteilsfähig und hat nach einer genügenden Aufklärung in die Behandlung eingewilligt Ärztin kann nicht haftbar gemacht werden HS 2017 Seite 38

Fall 4

Fall 4: Einstieg in die Falllösung Ausübung höchstpersönlicher Rechte Urteilsfähige Kinder Urteilsunfähige Kinder Relativ höchstpersönliche Rechte Absolut höchstpersönliche Rechte Selbständige Ausübung der Rechte, Art. 19c Abs. 1 ZGB (Beschränkte Handlungsunfähigkeit) Vertretungsfreundlich: gesetzlicher Vertreter handelt Vertretungsfeindlich: Recht kann nicht ausgeübt werden Ausnahme: Gesetzlich vorgeschriebenes Mitentscheidungsrecht des gesetzlichen Vertreters Gesetzlich vorgeschriebene, fixe Altersgrenze Grenze: Kindeswohl HS 2017 Seite 40

Höchstpersönliche Rechte und Urteilsfähigkeit Ausübung höchstpersönlicher Rechte Urteilsfähige Kinder Urteilsunfähige Kinder Relativ höchstpersönliche Rechte Absolut höchstpersönliche Rechte Selbständige Ausübung der Rechte, Art. 19c Abs. 1 ZGB (Beschränkte Handlungsunfähigkeit) Vertretungsfreundlich: gesetzlicher Vertreter handelt Vertretungsfeindlich: Recht kann nicht ausgeübt werden Ausnahme: Gesetzlich vorgeschriebenes Mitentscheidungsrecht des gesetzlichen Vertreters Gesetzlich vorgeschriebene, fixe Altersgrenze Grenze: Kindeswohl HS 2017 Seite 41

Fall 4: Einstieg in die Falllösung Relevante gesetzliche Bestimmung? HS 2017 Seite 42

Fall 4: Relevante Fragestellung ZGB 19c II Handelt es sich vorliegend um ein absolut oder relativ höchstpersönliches Recht? HS 2017 Seite 43

Höchstpersönliche Rechte und Urteilsfähigkeit Ausübung höchstpersönlicher Rechte Urteilsfähige Kinder Urteilsunfähige Kinder Relativ höchstpersönliche Rechte Absolut höchstpersönliche Rechte Selbständige Ausübung der Rechte, Art. 19c Abs. 1 ZGB (Beschränkte Handlungsunfähigkeit) Vertretungsfreundlich: gesetzlicher Vertreter handelt Vertretungsfeindlich: Recht kann nicht ausgeübt werden Ausnahme: Gesetzlich vorgeschriebenes Mitentscheidungsrecht des gesetzlichen Vertreters Gesetzlich vorgeschriebene, fixe Altersgrenze Grenze: Kindeswohl HS 2017 Seite 44

Fall 4: Relativ höchstpersönliche Rechte Bei Einwilligung in medizinisch nicht indizierten Fälle ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (KGer Graubünden, CAN 2014, 8, 10 in Bezug auf Knabenbeschneidung) Vorliegend? HS 2017 Seite 45