Unbeobachtbare Funktionssysteme?

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Transkript:

Unbeobachtbare Funktionssysteme? Unbeobachtbare Funktionssysteme? Die Einheit der Wissenschaft als Herausforderung für eine empirisch ausgerichtete Makrosoziologie David Kaldewey Universität Bielefeld Institut für Wissenschafts- und Technikforschung (IWT) Graduiertenkolleg Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft Stuttgart-Hohenheim, 5. Sept. 2008

Unbeobachtbare Funktionssysteme? Aufbau 1. Zur Operationalisierbarkeit sozialer Systeme 2. Zur Struktur gesellschaftlicher Funktionssysteme 3. Die Architektur des Funktionssystems Wissenschaft 4. Die zweigleisige Selbstbeschreibung der Wissenschaft

Unbeobachtbare Funktionssysteme? 1. Zur Operationalisierbarkeit sozialer Systeme Luhmanns Trias spezieller Sozialsysteme - Interaktion, Organisation, Gesellschaft - ist der vielleicht wichtigste Ausgangspunkt der Operationalisierung systemtheoretischer Fragestellungen. Den drei Systemtypen entsprechen reale, empirisch beobachtbare Systeme in der sozialen Welt. Für Interaktionen und Organisationen ist dies unmittelbar einsichtig: Mit Hilfe des Kritieriums der Anwesenheit bzw. Mitgliedschaft können klare Grenzen zwischen System und Umwelt gezogen werden. Auf der Ebene der Gesellschaft liegt der Fall anders: Funktionssysteme gelten als empirisch nahezu unsichtbar; ihre codierte Kommunikation erscheint immer nur als Moment bzw. als mitlaufender Sinnhorizont konkreter Interaktionen und Organisationen; ihre Einheit bleibt unzugänglich. Die empirische Forschung sucht die Funktionssysteme deshalb zumeist im Kontext von Interaktionen und Organisationen; sie meint diese zu finden, sobald sie auf die entsprechenden Codes stößt. Der Code aber ist kein empirischer Begriff Die gebräuchliche Methodologie systemtheoretischer Forschung findet deshalb immer nur, was sie theoretisch voraussetzt. Der auf den Code abstellende Begriff des Funktionssystems immunisiert sich selbst.

Unbeobachtbare Funktionssysteme? 2. Zur Struktur gesellschaftlicher Funktionssysteme Puristischer Fehlschluss Falsch ist: Funktionssysteme bestehen allein aus codierter Kommunikation (siehe etwa Kneer 2003) Richtig ist: Es gibt keine Kongruenz von System und Codierung ; Funktionssysteme bestehen nicht nur aus der harten Autopoiesis codierter Kommunikation, sondern enthalten auch autopoietisch sterile Operationen (vgl. Kieserling 2005). Kästchen-Fehlschluss Falsch ist: Funktionssysteme enthalten Organisationen, Interaktionen oder Personen als Teilsysteme (siehe etwa Schmidt 2005) Richtig ist: Organisationen und Interaktionen stehen quer zu den Funktionssystemen, benutzen die Semantik funktionaler Differenzierung aber in ihren Selbstbeschreibungen (vgl. Tacke 2001).

Unbeobachtbare Funktionssysteme? 2. Zur Struktur gesellschaftlicher Funktionssysteme Konsequenzen des puristischen Fehlschlusses Nach Luhmann sind Funktionssysteme reale Systeme. Der Code dagegen ist ein empirischer leerer Begriff, bzw. ein leerer Signifikant (Stäheli 1996). Mit der Gleichsetzung von Funktionssystem und Code blockiert die puristische Systemtheorie demnach den empirischen Zugriff auf makrosoziologische Phänomene auf der Ebene von Gesellschaft. Wie aber ist ein empirischer Zugriff auf Funktionssysteme möglich? Luhmann hat den Begriff des Funktionssystems mit mehreren Unterscheidungen zu modellieren versucht: Code und Programm (vgl. Luhmann 1986, S. 89-100) Code und Semantik (vgl. Luhmann 1990, S. 214) Code und Referenz (vgl. Luhmann 1997, S. 755) Dem empirisch leeren Code stehen in diesen Unterscheidungen operationalisierbare Strukturen gegenüber: Programme, Semantiken und Referenzen. Diese (und nicht der Code) fungieren als Material einer empirisch ausgerichteten Makrosoziologie.

Unbeobachtbare Funktionssysteme? 3. Die Architektur des Funktionssystems Wissenschaft Selbstreferenz Generalisierte Selbstreferenz ( Wissenschaft ) Funktion Referenz Selbstbeschreibungen Reflexionstheorien Identität Fremdreferenz ( Praxis ) Leistung Generalisierte Fremdreferenz Code autopoietische Elemente operative Schließung Einheit Programme Theorien Methoden Reputation Rollen Werte Disziplinendifferenzierung Rollendifferenzierung Differenz

Unbeobachtbare Funktionssysteme? 3. Die Architektur des Funktionssystems Wissenschaft Referenz Generalisierte Selbstreferenz Selbstreferenz ( Wissenschaft ) Selbstbeschreibungen Semantik Reflexionstheorien Fremdreferenz ( Praxis ) Generalisierte Fremdreferenz Funktion Leistung Identität Code Code autopoietische Elemente operative Schließung Einheit Programme Theorien Methoden Reputation Rollen Werte Disziplinendifferenzierung Struktur Rollendifferenzierung Differenz

Unbeobachtbare Funktionssysteme? 3. Die Architektur des Funktionssystems Wissenschaft Referenz Generalisierte Selbstreferenz Selbstreferenz ( Wissenschaft ) Selbstbeschreibungen Semantik Reflexionstheorien Fremdreferenz ( Praxis ) Generalisierte Fremdreferenz Funktion Leistung Identität Struktur Code autopoietische Elemente operative Schließung Einheit Programme Theorien Methoden Reputation Rollen Werte Disziplinendifferenzierung Semantik Rollendifferenzierung Differenz

Unbeobachtbare Funktionssysteme? 4. Die zweigleisige Selbstbeschreibung der Wissenschaft In den Selbstbeschreibungen der Wissenschaft finden sich seit Francis Bacon zwei Zielsetzungen ( Zwillingsziele ): Wahrheit und Nützlichkeit; Wissen und Macht; Verstehen und Kontrolle. In konkreten Selbstbeschreibungen von Wissenschaftlern und wissenschaftlichen Organisationen ist wenig von Wahrheit, viel dagegen von gesellschaftlicher Relevanz, Nützlichkeit und Innovation die Rede. Unzählige zeitdiagnostische Analysen der Wissenschaften weisen auf eine zunehmende Praxis-, Anwendungs- und Dienstleistungsorientierung der Wissenschaft hin.

Unbeobachtbare Funktionssysteme? Wissenschaft und Praxis - ein semantisches Feld Realitätsferne Elfenbeinturm Buchgelehrsamkeit Wissen Neugier Wissenschaft Theorie Verstehen Grundlagenforschung l art pour l art Wahrheit Lebenswelt Gesellschaft Leuchtturm Praxis Erfahrung Kontrolle Macht Angewandte Forschung Verantwortung Nützlichkeit Innovation

Unbeobachtbare Funktionssysteme? Semantische Artefakte in den Selbst- und Fremdbeschreibungen des Wissenschaftssystems generalisierte Selbstreferenz Theorie Wissenschaft generalisierte Fremdreferenz Praxis Gesellschaft Funktion Verstehen Grundlagenforschung Leistung Kontrolle Angewandte Forschung Code Wahrheit Semantik Nützlichkeit

Unbeobachtbare Funktionssysteme? Semantikanalyse: Grundlagenforschung und angewandte Forschung Ab 1751 Unterscheidung chemia pura / chemia applicata (Wallerius) 19. Jahrhundert Institutionelle Verfestigung der Unterscheidung von Wissenschaft und Technologie (Deutschland) Ab ca. 1880 Das pure science ideal der Physik führt zur Darstellung der Technik als applied science (USA) Ab ca. 1914 Industrieforschung unterläuft die Grenze zwischen pure science und applied science Ab ca. 1930 Der Begriff pure science wird durch basic science bzw. fundamental science ersetzt 1945 Bush-Report: Science, the Endless Frontier Ab ca. 1950 Lineares Modell: Basic research -> Applied research -> Development -> Production Ab 1963 Frascati-Manual der OECD: basic research, applied research und experimental development Ab 2005 ERC ersetzt basic research durch frontier research

Unbeobachtbare Funktionssysteme? Das lineare Modell als vereinheitlichendes Metanarrativ

Unbeobachtbare Funktionssysteme? Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit