Dr. Michael Kilchling Fotonachweis: Münsterländische Volkszeitung Sanktionenrecht Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 #31
Annahmen der Theorie der Schuldvergeltung Eine Straftat ist Ausdruck eines freien und autonomen Willens einer freien Person Ein Mensch ist dazu fähig, sich frei zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden Deshalb muss ein freier Mensch so behandelt werden, als ob er/sie mit der Straftat seinen/ihren Willen anderen (freien) Menschen aufzwingen will In einer Straftat ist damit die Äußerung enthalten, dass nicht die staatliche Norm gelten solle, sondern der in der Straftat manifestierte Wille des Täters Die Kriminalstrafe muss insoweit auch die prinzipielle Anerken-nung des Täters als frei enthalten Problem: neue Erkenntnisse der Hirnforschung zum freien Willen Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 2
Nützlichkeitstheorien (Prävention) Relative Straftheorien lösen im 19. Jahrhundert die absoluten Theorien ab» Individualprävention» Generalprävention Grundprinzip: Strafe darf nur angedroht werden, um bestimmte Interessen und Werte zu schützen Theorie des Rechtsgüterschutzes Problem: welche Interessen oder Güter sind so bedeutsam, dass sie strafrechtlichen Schutz (und Strafe im Falle ihrer Verletzung) rechtfertigen?» Individualrechtsgüter?» Allgemeininteressen (Volksgesundheit, Sicherheit des Straßenverkehrs, Wirtschaftsordnung)?» Moral? Ist der Staat gegebenenfalls verpflichtet, Strafe anzudrohen? Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 3
Theorie der Individual-/Spezialprävention Strafe verfolgt drei Zielsetzungen: 1. Durch Strafe wird individuelle Abschreckung erzielt. Die Strafe setzt danach ein Motiv, die bestrafte Handlung in Zukunft zu unterlassen (Lerntheorie) 2. Die Strafe führt zu Resozialisierung oder Besserung (durch Behandlung, Unterstützung, Lernmöglichkeiten) 3. Die Strafe führt zu einer Sicherung vor dem Straftäter (durch Freiheitsstrafe, Todesstrafe etc.) Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 4
Negative Generalprävention (Androhungsprävention) Anselm Feuerbach Der Mensch wird geleitet durch die Verfolgung von für ihn nützlichen Zielen und die Vermeidung von Schmerz und Nachteilen Deshalb müssen die durch Strafe angedrohten Nachteile die durch eine Straftat erreichbaren Vorteile immer überwiegen Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 5
Positive Generalprävention Strafrechtliche Normen enthalten allgemeine Erwartungen (Vertrauen in die Rechtsordnung) Wird eine Straftat begangen, dann werden diese allgemeinen Erwartungen verletzt, es entsteht Enttäuschung Die Enttäuschung muss verarbeitet werden Aufgabe der Erwartungen (mit der Begründung, dass die Erwartungen falsch waren oder nicht durchgesetzt werden konnten) (kontrafaktische) Beibehaltung der Erwartungen und Bekräftigung, dass der Täter im Unrecht war Die Beibehaltung der Erwartungen wird durch die Bestrafung des für die Enttäuschung Verantwortlichen demonstriert (Bekräftigung des Vertrauens für die Zukunft) Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 6
Theorie der Strafe und Kriminalitätstheorie Straftheorien basieren wesentlich auf Vorstellungen über Verbrechen, Verbrecher und Verbrechensursachen Absolute (Vergeltungs-) Theorien Der Mensch ist frei, autonom, vernünftig Theorien der Individualprävention Resozialisierung/Behandlung: Der Mensch ist ein sozialisierter Mensch, sozialisierungsfähig und offen für Sozialisierung Abschreckung: homo oeconomicus, der Mensch kalkuliert und wägt ab (rational choice) Sicherung: der Mensch ist gefährlich und bedarf physischer Restriktion Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 7
Theorie der Strafe und Kriminalitätstheorie Theorie der negativen Generalprävention Menschen sind rational und abwägend (homo oeconomicus, rational choice) Theorie der positiven Generalprävention Systemtheorie: ein Normensystem muss beständig bekräftigt werden, damit die Normen (Erwartungen) intakt bleiben Theorie sozialer Integration (Durkheim) Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 8
Theorie der Strafe und Kriminalitätstheorie Problem: Opfer? Nichtberücksichtigung der Opfer in allen herrschenden Theorien Traditioneller Anknüpfungspunkt: abstrakte Rechts-/Rechtsgutsverletzung Wesentliche Erkenntnisse der viktimologischen Forschung werden bislang weitgehend ignoriert Opfer anders 'betroffen' (enttäuscht) als die Allgemeinheit (Opfer-Individualisierung) (Positive/negative) Generalprävention zu eng: Enttäuschung nicht nur ideell-abstrakt, sondern unmittelbar-konkret Genugtuung lange Zeit ausgeblendet Wesentliche Elemente: Unrechtsfeststellung und Restitution Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 9
Theorie der Strafe und Kriminalitätstheorie Problem: Opfer? Eigene 'spezialpräventive' Funktionskategorie erforderlich» negativ: Vermeidung von sekundärer Viktimisierung (einschl. Stigmatisierung u. Diskriminierung)» negativ: Prävention weiterer Viktimisierung (Re-Viktimisierungs-Dynamik)» negativ: Prävention nachfolgender Delinquenz (Opfer-Täter-Abfolge)» positiv: 'Resozialisierung'/'Reintegration' des Opfers Literatur: Kilchling, NStZ 2002, S. 57ff.; Hörnle, JZ 2006, S. 950ff.; Meier, Strafrechtl. Sanktionen, S. 34-37 (Die Bedeutung des Opfers); Weigend, Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Forschung 2010, S. 39ff., Sautner, Opferinteressen und Strafrechtstheorien, Innsbruck/Wien/Bozen 2010 Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 10
Theorie der Strafe und Kriminalitätstheorie Problem: empirische Fundierung der Theorien? Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 11
(Negative) Generalprävention Abschreckungs- oder "deterrence"- Forschung Theoretische Grundlagen: Lerntheorien, ökonomische Theorien Variablen der Abschreckung Bestrafungsrisiko Bestrafungsschwere Schnelligkeit der Bestrafung Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 12
Befunde der Abschreckungsforschung Im Vergleich Entdeckungsrisiko und Bestrafungsschwere spielt das Entdeckungsrisiko die entscheidende Rolle Die Bestrafungsschwere wirkt sich erst bei einem bedeutsamen Entdeckungsrisiko aus Dies heißt, dass Abschreckungsstrategien im Kern auf die Erhöhung des Entdeckungsrisikos setzen müssen Allerdings lässt sich das Entdeckungsrisiko in der Praxis nur sehr schwer manipulieren Werden außerstrafrechtliche Abschreckungsfaktoren einbezogen, dann werden Entdeckungsrisiko und Schwere marginal Zeitfaktor vor allem bei Jugendlichen relevant Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 13
Befunde der Abschreckungsforschung Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 14
Befunde der Abschreckungsforschung Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 15
Spezialprävention Negativ: individuelle Abschreckung Annahme: durch Bestrafung werden zusätzliche Hemmschwellen für die Zukunft aufgebaut (z.b. 'taste of prison'- approach) Problem: abnehmender Grenzschaden (analog zum Grenznutzenmodell der Ökonomie): Sanktionen nutzen sich schnell ab Positiv: Behandlung und Lernen Resozialisierungsforschung, insbesondere im Strafvollzug und in der Sozialtherapie Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 16
Befunde der Behandlungsforschung "Behandlungsideologie" der 1950er und 1960er Jahre unbestimmte Freiheitsstrafe Martinson 1974 "nothing works" Kritik aus der Rechtsstaatsperspektive Evaluationsforschung Problem der Methoden: kaum Experimente Fraglich: wurden Behandlungsansätze überhaupt effektiv implementiert? Frage: für wen sind Behandlungsansätze sinnvoll? Forschungsstand: Für spezifische Gruppen können, wenn auch kleine, positive Behandlungseffekte nachgewiesen werden Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 17
Sicherung Sicherungsverwahrung (incapacitation) Kriminalpolitische Ausformungen 'selective incapacitation' 'categorical incapacitation' Konzentration auf Intensivtäter/chronische Straftäter Forschung: Zusammenhänge zwischen physischer Sicherung und Entwicklungen der Kriminalität Problem der Identifizierung und Prognose (mutmaßlich hoher Prozentsatz sog. 'falscher Positiver') ökonomische Probleme Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 18
Deutsche Legalbewährungsstudie www.mpicc.de/de/forschung/forschungsarbeit/kriminologie/ legalbewaehrung2.html Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 19
3. Grenzen der Strafe Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 20
Grenzen der Strafe (1) Europa und internationale Ebene Internationaler Menschenrechtsrechtsschutz UN Europäischer Menschenrechtsschutz Europarat Minimumstandards der Vereinten Nationen und des Europarats Europäische Union» Tampere-Beschlüsse: Gemeinsamer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (1999)» EU-Grundrechte-Charta (2000/2007): rechtsverbindlich durch Lissabon-Vertrag (auf EU-Ebene; innerstaatlicher Anwendungsbereich str.)» Art. 6 Abs. 2 EU-V (konsolidierte Fassung): EU soll künftig selbst Vertragspartei der EMRK werden Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2017 21