Zum Stellenwert veränderter Geschlechterarrangements in der sozialen Reproduktion Gabriele Winker TU Hamburg Harburg Feministisches Institut Hamburg
Umfang der Reproduktionsarbeit BRD 2001 Lohnarbeit: 56 Mrd. Stunden Nicht entlohnte Reproduktionsarbeit: 96 Mrd. Stunden 35 30 25 20 15 10 5 0 Lohnarbeit in Wochenstunden Reproduktionsarbeit in Wochenstunden 25 22,5 17 19,5 12 Gesamt Männer Frauen 31 BMFSFJ / Statistisches Bundesamt (2003)
Reproduktionsmodell im fordistischen System Ausgeprägtes Ernährermodell Familienlohn Reproduktionsarbeit durch (Ehe )Partnerin Tarifverträge und Ehegattensplitting Konservativer Wohlfahrtsstaat Am Lebensstandard orientierte Abdeckung der Risiken Krankheit, Erwerbslosigkeit, Berufsunfähigkeit, Versorgung im Alter Absicherung von Ehefrauen über Mitversicherung in Krankenkasse und großzügige Witwenregelung
Ernährermodell in der fordistischen Krise Abhängigkeiten und Diskriminierung aufgrund geschlechtshierarchischer Arbeitsteilung Reproduktionsarbeit durch nicht oder nur teilweise erwerbstätige Familienfrauen für Kapitalakkumulation in Zeiten der Globalisierung zu teuer Konsequenz: Neoliberales Konzept mit Vollzeitberufstätigkeit und Existenzsicherung durch jede erwerbsfähige Person
Neoliberales Reproduktionsmodell Reallohnsenkungen und Abbau des Familienlohns Steigende Frauenerwerbstätigkeit Intensivierung und Verlängerung der Lohnarbeit Prekarisierung Sozialstaatliche Deregulierung Dethematisierung von Reproduktionsarbeit, die implizit vorausgesetzt wird Konzept der Eigenverantwortung für Existenzsicherung Zunehmende Reproduktionsaufgaben für sich selbst (Selbstorganisation, Bildung, Gesundheit) für Andere (Kinder und Jugendliche, unterstützungsbedürftige Erwachsene)
Konzept der ArbeitskraftmanagerIn Lohnarbeit Selbst Kontrolle Leistungsorientierungen Selbst Ökonomisierung Berufsbiografische Orientierungen Reproduktionsarbeit Selbst Kontrolle Leistungsorientierungen Selbst Sozialisierung Familienbiografische Orientierungen Selbst Rationalisierung Elastizitätsmuster von beruflichen, familiären und sonstigen Tätigkeiten Winker/Carstensen (2007) in Erweiterung von Voß/Pongratz (1998)
Erwerbsquoten im Alter von 15 bis unter 65 Jahren 100,00 90,00 80,00 70,00 60,00 50,00 40,00 30,00 20,00 10,00 0,00 59 63 67 71 75 79 83 87 91 95 99 03 07 11 männlich weiblich insgesamt Statistisches Bundesamt, Mikrozensus, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/link/tabelleergebnis/12211-0001 und eigene Berechnungen
Beschäftigungsumfang von weiblichen abhängig Erwerbstätigen 12000 10000 8000 6000 4000 Vollzeit Teilzeit 2000 0 85 87 89 91 93 95 97 99 01 03 05 07 09 11 Statistisches Bundesamt, Mikrozensus, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online/link/tabelleergebnis/12211-0011
Erwerbstätige Mütter und Frauen ohne Kind von 20 bis 55 Jahren (Erwerbstätigenquote) 2011 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 (12) 5 3 4 16 17 17 18 20 24 28 (51) 19 53 14 12 18 25 32 35 39 38 39 39 37 32 19 10 12 13 15 15 17 17 15 13 14 7 (40) (61) (76) (78) (78) (71) (74) (67) (65) (78) über 32 Std. 15 bis 32 Std. unter 15 Std. BMFSFJ 2012: 61
Vielfältige neoliberale Reproduktionsmodelle Ökonomisiertes Reproduktionsmodell Zwei Normalarbeitsverhältnisse in flexibilisierter Form Übertragung von Care Work auf sozial unabgesicherte Haushaltsarbeiterinnen Paarzentriertes Reproduktionsmodell Ein Normalarbeitsverhältnis, ein Teilzeitarbeitsverhältnis meist Frau Reproduktionsarbeit bleibt größtenteils bei Frauen, teils stundenweise Haushaltshilfe Prekäres Reproduktionsmodell Erwerbstätige prekär beschäftigt, max. 1 NormalbeschäftigteR Doppelbelastung von in der Regel Frauen bei gleichzeitigen Existenzsorgen Subsistenzorientiertes Reproduktionsmodell Jedes Mitglied der Bedarfsgemeinschaft zu jeder Erwerbstätigkeit verpflichtet Organisation des alltäglichen Überlebens meist durch Frauen Winker (2011)
Familienpolitik als Wirtschaftspolitik Familienpolitische Leitlinie: Steigerung Frauenerwerbstätigkeit und Erhöhung der Geburtenrate (vgl. Rürup/Guescu 2003) kaum Unterstützung für Reproduktionsarbeitende Verschärfung der Reproduktionslücke Mittel u.a.: Unterhaltsreform zulasten langjähriger Hausfrauen, Ansprüche von Kindern haben Vorrang (2009) Erhöhtes Elterngeld für Leistungsträger_innen, verringertes bzw. kein Elterngeld für finanziell schwache Personen (2007) Betreuungsplätze für 35% der Kinder unter 3 Jahren (2005 > 2013) Kita Vergabe nach Erwerbsstatus der Eltern Keine bezahlte Freistellung für familiäre Pflegetätigkeiten (2011/12) Niedriges Pflegegeld zur Motivation von Rentner_innen zu Pflegeleistungen Akzeptanz von sozial unabgesicherter Arbeit im Haushalt
Anteil von unter dreijährigen Kindern in KiTas und Tagespflege 2011 Deutschland Früheres Bundesgebiet (ohne Berlin) Neue Länder (ohne Berlin) 19,8 25,2 49,0 Ganztagesbetreuung Früheres Bundesgebiet (ohne Berlin) Neue Länder (ohne Berlin) 12,9 7,7 36,3 0,0 10,0 20,0 30,0 40,0 50,0 60,0 BMFSFJ: Familienreport 2012: 35 und Statistische Ämter (2011): 13
Anteil von unter dreijährigen Kindern in KiTas und Tagespflege in Abhängigkeit vom Familieneinkommen, 2009 und vom Migrationshintergrund 2011 SGB II (inkl. Aufstocker_innen) 21 < 70% (ohne SGB II) 18 70 bis 100% 21 BMFSFJ: Familienreport 2012: 110 100 bis 130% 130% und mehr 0 10 20 30 40 24 35 Kinder ohne Migrationshintergrund 27,7 Kinder mit Migrationshintergrund 12,2 BMFSFJ: Familienreport 2012: 36 0,0 5,0 10,0 15,0 20,0 25,0 30,0
Pflegebedürftige 2009 nach Versorgungsart 2,34 Millionen Pflegebedürftige insgesamt 1,62 Millionen zu hause versorgt (69%) 1200 1000 800 1070 Pflegebedürftige in 1000 Beschäftigte in 1000 Vollzeitäquivalente 717.000 in Heimen (31%) 600 400 717 Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik (2011) 200 555 269 177 621 453 0 Angehörige ambulant stationär Pflegestufe 1 235 450 1.023 Pflegestufe 2 440 1.100 1.279 Pflegestufe 3 700 1.550 1.550 SGB XI, 37, 36 + 43, ab 1.1.12 Pflegestufe 3+ 1.918 (3%) 1.918
Familienpolitische Umverteilung Ökonomisiertes Reproduktionsmodell Große finanzielle und zeitliche Unterstützung in den ersten 14 Monaten durch Elterngeld Relativ große finanzielle Unterstützung durch Kinderfreibetrag und KiTa Plätze Auf Kosten der finanziellen und zeitlichen Ressourcen von sozial nicht abgesicherten Haushaltsarbeiterinnen durch Akzeptanz der Schwarzarbeit Paarzentriertes Reproduktionsmodell Finanzielle Unterstützung durch Ehegattensplitting Existenzunsicherheit durch Unterhaltsreform Stundenweise Haushaltshilfe über geduldete Schwarzarbeit Prekäres Reproduktionsmodell Große zeitliche Ressourcen notwendig für Lohnarbeit Kaum familienpolitische Unterstützung, relativ selten Rückgriff aus KiTa Plätze Subsistenzorientiertes Reproduktionsmodell Ausschluss von familienpolitischen Maßnahmen
Probleme bei der Reproduktion von Arbeitskraft Ideal des neoliberalen Reproduktionsmodells (Vollzeit Lohnarbeit plus nicht entlohnte Reproduktionsarbeit für) nicht durchsetzbar Fehlende Konzepte, um gestiegene Care Work kostengünstig aufzufangen Unzureichende Infrastruktur im Bereich Kinder und Altenbetreuung Staatliche Unterstützung viel zu gering (0,4 % des BIP für Betreuung von Kindern unter 6 Jahren im Vergleich zu 0,55 % im OECD Durchschnitt und 1,3% in Dänemark) Privatwirtschaftliche Dienstleistungen für große Mehrheit der Bevölkerung nicht finanzierbar Erwerbstätige, vor allem Mütter, nicht umfassend flexibel einsetzbar Ungenügende Qualifikation durch verkürzte und verschulte Schul und Hochschulausbildung und fehlender familiärer Unterstützung Stark gestiegene Ausfalltage durch psychosomatische Krankheiten, teilweise wie bei Burnout mit neuer Qualität Demotivation der Beschäftigten, zurückgehendes berufliches Engagement, Probleme im Bereich Verantwortung, Kreativität, Innovation Geburtenrate konstant bei knapp unter 1,4 Geburten pro Frau
Krise sozialer Reproduktion Fehlende finanzielle und zeitliche Ressourcen für Care Arbeit, die nicht nur für individuelles Leben, sondern auch für Kapitalakkumulation grundlegend ist Zugespitzter Widerspruch zwischen Profitmaximierung und Reproduktion der Arbeitskraft Folge der Überakkumulationskrise mit krisenverschärfender Wirkung Zuspitzung über Austeritätspolitik > Verschränkung mit Finanzkrise Winker (2012)
Care Revolution als Perspektivwechsel und Beitrag zum Umfairteilen Die revolutionäre Tat ist stets, auszusprechen das, was ist. (Rosa Luxemburg 1918) Auseinandersetzungen um die für jede einzelne Person elementaren gesellschaftlich vermittelten Existenzbedingungen führen Von den für alle Menschen notwendigen Grundbedürfnissen aus denken Ziel: Verwirklichung menschlicher Lebensinteressen Winker (2010)
Notwendige finanzielle und zeitliche Unterstützung für Reproduktionsarbeitende Existenzsicherung Realisierung von Mindestlöhnen Einschränkung prekärer Beschäftigungsverhältnisse Bedingungsloses, die Existenz sicherndes Grundeinkommen Reduktion der Lohnarbeit Radikale Erwerbsarbeitszeitverkürzung mit Lohn und Personalausgleich ev. beginnend bei Menschen mit hohen Sorgeverpflichtungen
Zeitliche und inhaltlich notwendige Unterstützung für Reproduktionsarbeitende Ausbau zugänglicher öffentlicher Bereiche zur Unterstützung familiärer Reproduktionsarbeit staatliche bzw. vergesellschaftete qualitativ hochwertiger Dienstleistungen in Bildung, Gesundheit, Pflege, Soziale Dienste bei gleichzeitiger Demokratisierung dieser Bereiche bei finanzieller und normativer Aufwertung personennaher Dienstleistungen Aufbau und Unterstützung kollektiver Reproduktionsformen (bspw. generationsübergreifendes Wohnen, Pflegegemeinschaften, Commons) Vergesellschaftung von Infrastrukturmaßnahme Wie Wohnungswesen, Energie, Wasser, Müll, Landwirtschaft, Verkehr
Konsequenzen des Umfairteilens Zeit für Reproduktionsarbeit Sorge für sich selbst Kindererziehung Betreuung unterstützungsbedürftiger Erwachsener Zeit für zivilgesellschaftliche Gemeinwohlarbeit Zeit für politisches Engagement Muße bei gleichzeitig sozialer Absicherung
Bedeutung einer Care Revolution Ziel: Menschenwürde und Lebensinteressen für alle durch finanzielle und zeitliche Ressourcen statt Profitmaximierung Realisierung durch Solidarität und Zusammenschluss vieler Existenzgrundlage und individuelle Zeitressourcen sichern für alle, insbesondere für Erwerbslose, Alleinerziehende, marginalisierte Migrant_innen, überbeanspruchte Reproduktionsarbeitende, erhöht ausgebeutete Lohnarbeitende Menschliche Grundbedürfnisse kollektiv realisieren für alle je nach differenzierter Lebenslage in Bereichen Bildung und Erziehung, Gesundheit und Pflege Neu gewendete Visionen Für ein gutes Leben Für eine andere, menschenwürdige, sozialistische Gesellschaft
Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2012): Familienreport 2011. Leistungen, Wirkungen, Trends, Berlin Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ); Statistisches Bundesamt (Hg.) (2003): Wo bleibt die Zeit? Die Zeitverwendung der Bevölkerung in Deutschland 2001/02 Rürup, Bert/Gruescu, Sandra (2003): Nachhaltige Familienpolitik im Interesse einer aktiven Bevölkerungsentwicklung. Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Berlin Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hg.) (2011): Kindertagesbetreuung regional 2011. Ein Vergleich aller 412 Kreise in Deutschland, Wiesbaden Statistisches Bundesamt (Hg.) (2011): Pflegestatistik. Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. Deutschlandergebnisse. Wiesbaden Voß, G. Günter/Pongratz, Hans J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grundform der Ware Arbeitskraft? Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 50, 131 158 Winker, Gabriele (2010): Care Revolution ein Weg aus der Reproduktionskrise. In: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Heft 3, 124 129 Winker, Gabriele (2011): Soziale Reproduktion in der Krise Care Revolution als Perspektive. In: Das Argument 292: Care eine feministische Kritik der politischen Ökonomie? 53. Jg., Heft 3/2011, 333 344 Winker, Gabriele (2012): Erschöpfung des Sozialen. In: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, Heft 4, 6 13 Winker, Gabriele; Carstensen, Gabriele (2007): Eigenverantwortung in Beruf und Familie vom Arbeitskraftunternehmer zur ArbeitskraftmanagerIn. In: Feministische Studien, Nr.2, 277 288