Position des Paritätischen zu möglichen Schwerpunkten der Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes des BMAS Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat im Rahmen eines Fachgesprächs am 15.04.2015 Mögliche Schwerpunkte der Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes Stand 09.04.2015 vorgestellt. Diese sollen im Sommer dieses Jahres in einen Referentenentwurf münden, mit dem sich das Kabinett im Herbst befassen wird. Der Paritätische Gesamtverband begrüßt ausdrücklich, dass eine Anpassung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG) geplant ist. Allerdings bleiben die von der Bundesregierung bisher vorgelegten möglichen Schwerpunkte deutlich hinter den bisherigen Forderungen der Interessenverbände für Menschen mit Behinderungen und den Empfehlungen im Abschlussbericht zur Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes der Universität Kassel zurück. Beispielhaft seien hier die Empfehlungen für notwendige Regelungen zur Verknüpfung des AGG mit dem BGG und zur Ausweitung des Geltungsbereiches des BGG genannt, die in den Schwerpunkten des BMAS nicht bzw. unzureichend aufgegriffen werden. Der Paritätische möchte frühzeitig die Gelegenheit nutzen und zu den möglichen Schwerpunkten Position beziehen bzw. Einfluss auf die geplante Novellierung nehmen. Im Einzelnen haben wir folgende Anmerkungen und Forderungen: 1. Anpassung des Behinderungsbegriffs Es ist zu begrüßen, dass der Behinderungsbegriff im BGG angepasst werden soll, da es in Deutschland bisher keine allgemein anerkannte Definition und keine einheitliche Verwendung des Begriffs in den jeweiligen Sozialleistungsgesetzen gibt. Es werden die Begriffe Behinderung, Schwerbehinderung, von Behinderung bedroht verwendet, aus denen sich Leistungen der jeweiligen Sozialleistungsgesetze ergeben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat mit der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) eine umfängliche Definition vorgenommen, die u. a. das Maß der Teilhabe am öffentlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben und die Wechselwirkung zwischen der Person und ihren Kontextfaktoren einbezieht. Der Begriff Behinderung gemäß 2 SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - wurde 2001 wesentlich durch die Vorläuferfassungen der ICF beeinflusst. Im Artikel 1 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) umfasst der Begriff Menschen mit Behinderung Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Die Konvention bildet somit Behinderung als 1
das Zusammenwirken von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und individuellen körperlichen, seelischen und geistigen Beeinträchtigungen ab. Damit muss ein Umdenken bezüglich des weit verbreiteten medizinischen Modells bzw. des defizitorientierten Ansatzes von Behinderung erfolgen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung muss künftig durch Wertschätzung von Menschen mit Behinderung geprägt sein und zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe werden. Dies macht nicht nur eine Anpassung des Begriffs Behinderung im BGG, sondern daraus folgend auch in 2 SGB IX erforderlich. Der Paritätische fordert einen Behinderungsbegriff, der an den Ressourcen der Menschen und den Barrieren der Umwelt ansetzt und der dem Behinderungsbegriff der UN-BRK entspricht, wie es das ressourcenorientierte mehrdimensionale bio-psycho-soziale Modell der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) vorsieht. Dafür werden Änderungen des Begriffs Behinderung im BGG und daraus folgend im SGB IX bzw. den Sozialgesetzbüchern notwendig, auf die das SGB IX verweist. 2. Barrierefreiheit Barrierefreiheit ist in vielfältigen Lebensbereichen eine wesentliche Voraussetzung für die Teilhabe von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. Die Sicherstellung der Barrierefreiheit ist daher mit Blick auf den Behinderungsbegriff (siehe Punkt 1) eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Zur Umsetzung von Barrierefreiheit ist daher eine gesetzgeberische Gesamtstrategie notwendig, die in den vorgelegten Schwerpunkten nicht erkennbar ist. Barrierefreiheit, die sich lediglich auf Bestandsgebäude des Bundes und die Bundesverwaltung bezieht, ist zwar ein erster Schritt, wird aber dem notwendigen Bedarf nicht annähernd gerecht. Das bestehende BGG enthält mit den Zielvereinbarungen zwar schon heute Regelungen, welche die Privatwirtschaft zu mehr Barrierefreiheit anhalten. Allerdings haben diese die gesetzgeberische Intention verfehlt und sind weitgehend wirkungslos geblieben. Erforderlich sind Neuregelungen, die nicht nur das BGG, sondern auch weitere Gesetze betreffen, z. B. das SGB I, das Personalausweis-, Signatur- oder De-Mail-Gesetz sowie die Regelungen zur Barrierefreiheit im Verkehrsbereich. Des Weiteren werden Regelungen notwendig, die absichern, dass Menschen mit Sinnesbehinderungen nicht von modernen Informations- und Kommunikationstechnologien und deren Angeboten ausgeschlossen werden. Die Finanzierung von Barrierefreiheit ist insbesondere bei Sozialleistungsangeboten durch die Rehabilitationsträger abzusichern. Ferner sollte im BGG verankert werden, dass alle Förderprogramme bzw. Zuwendungen im Rahmen der öffentlichen Haushaltsmittel an das Kriterium Barrierefreiheit zu knüpfen sind. Im neuen BGG soll eine gesetzliche Verpflichtung einschließlich einer verbindlichen Frist bzw. eines verbindlichen Stufenplans zur Umsetzung der Barrierefreiheit für private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen aufgenommen werden. Dazu gehören auch Regelungen zu angemessenen Vorkehrungen gemäß dem Konzept der UN- Behindertenrechtskonvention (Art. 5 Abs. 3 i.v.m. Art. 2), die sowohl im BGG als auch im AGG zu verankern sind (siehe auch Punkt 4). 2
3. Leichte Sprache Der Paritätische begrüßt grundsätzlich, dass Regelungen zur Verwendung der einfachen und verständlichen Sprache und zur Verwendung von Leichter Sprache eingeführt werden sollen, um Lücken in der Kommunikation zu schließen. Hierfür sind neben der Leichten Sprache auch Unterstützungsleistungen entsprechend dem individuellen Bedarf als zulässige und einklagbare Kommunikationsformen im BGG zu verankern. Dies ist nicht nur bei Bescheiden oder Vordrucken, sondern auch bei Bedarfsfeststellungsverfahren oder der Kommunikation mit den Rehabilitations- und Teilhabeträgern hilfreich. Der Paritätische fordert, neben den Regelungen zur Verwendung der einfachen und verständlichen Sprache bzw. zur Verwendung von Leichter Sprache auch Unterstützungsleistungen entsprechend dem individuellen Bedarf als zulässige und einklagbare Kommunikationsformen im BGG zu verankern. 4. Benachteiligungsverbot Der Paritätische begrüßt die Befassung mit dem Benachteiligungsverbot. Hierbei gilt jedoch, dass Barrieren im Einzelfall zu überwinden sind. D. h., dass neben der Verpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit es dringend weiterer Regelungen zu angemessenen Vorkehrungen gemäß der UN-BRK bedarf, die sowohl im BGG als auch im AGG zu verankern sind. Hierzu gehören auch notwendige Unterstützungsleistungen bei der Kommunikation. Der Paritätische schlägt vor, für Träger öffentlicher Gewalten die Verpflichtung zum Treffen von angemessenen Vorkehrungen im BGG und für private Anbieter im AGG zu verankern. Der in den Schwerpunkten formulierte Vorbehalt, dass die Maßnahmen die Träger der öffentlichen Gewalt nicht unverhältnismäßig oder unbillig belasten dürfen, wird abgelehnt. Dieser Vorbehalt galt insbesondere den ärmeren bzw. den sogenannten Entwicklungsländern. Dass Deutschland als eines der reichsten und wirtschaftlich am weitesten entwickelten Länder sich diesen Vorbehalt zunutze macht, lässt Zweifel am ernsthaften Willen Deutschlands zur Umsetzung der UN- BRK aufkommen. Der Paritätische fordert eine gesetzliche Verankerung des Konzepts der angemessenen Vorkehrungen gemäß Art. 5 Abs. 3 i.v.m. Art. 2 UN-BRK im BGG und im AGG. 5. Frauen mit Behinderung Der Paritätische begrüßt die Berücksichtigung der besonderen Belange behinderter Frauen. Allerdings sei an dieser Stelle angemerkt, dass auch Kinder mit Behinderung und Menschen mit Behinderung und Migrationshintergrund sowie intersexuelle Menschen mit Behinderung von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind. Auch deren besondere Belange sind im BGG zu berücksichtigen. 3
6. Kommunikation von Menschen mit Hör- und Sprachbehinderung Der Paritätische unterstützt die vorgesehenen Regelungen zur Kommunikation von Menschen mit Hör- und Sprachbehinderungen ausdrücklich. Allerdings ist anzumerken, dass auch Menschen mit Lernschwierigkeiten, mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung Kommunikationshilfen in Form von Unterstützungsleistungen benötigen (siehe Punkt 3). Der Paritätische schlägt vor, eine Kommunikationshilfeverordnung zu schaffen, die unterschiedliche Personenkreise und deren Hilfsmittel bzw. Unterstützungsleistungen entsprechend dem individuellen Bedarf vorsieht. Diese Kommunikationshilfen sind analog 17 SGB I zu finanzieren. 7. Verbandsklagerecht Der Paritätische begrüßt ausdrücklich, dass auch das Verbandsklagerecht bei einer Änderung des BGG in den Blick genommen werden soll, da dies eine wichtige Voraussetzung z. B. für das Einfordern von Barrierefreiheit darstellt. Bislang konnten Verstöße nur beanstandet, die tatsächliche Beseitigung der Barrieren konnte jedoch nicht eingefordert werden. Das Instrument der Verbandsklage sollte daher gestärkt werden, in dem auch die Versagung angemessener Vorkehrungen in Fällen von allgemeiner Bedeutung als Diskriminierungstatbestand verbandsklagefähig wird. Der Paritätische fordert, die Regelungen so zu gestalten, dass mit dem Instrument der Verbandsklage künftig auch eine Beseitigung von Barrieren und eine Ausweitung der klagefähigen Gegenstände möglich werden. 8. Schlichtungsstellen und verfahren Der Paritätische unterstützt die Einführung einer Schlichtungsstelle oder eines Schlichtungsverfahrens als niedrigschwellige Ergänzung des Verbandsklagerechts. Allerdings geben wir zu bedenken, dass eine Schlichtungsstelle bzw. ein Schlichtungsverfahren auch mit den entsprechenden finanziellen und personellen Ressourcen auszustatten ist. Der Paritätische fordert, Schlichtungsstellen und verfahren mit ausreichenden Ressourcen auszustatten. 9. Amt der/des Behindertenbeauftragten Darüber hinaus schlägt der Paritätische vor, das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen aufzuwerten, indem es direkt im Bundeskanzleramt angesiedelt wird. Damit kann die gesamtgesellschaftliche Umsetzung der UN-BRK gestärkt werden. Der Paritätische fordert, das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen aufzuwerten. 4
10. Partizipation fördern Der Paritätische unterstützt, dass die Partizipation von Verbänden von Menschen mit Behinderung, insbesondere von Selbsthilfeorganisationen, rechtlich im BGG verankert werden soll. Im Rahmen des BGG gibt es bereits eine Anerkennung der Verbände nach 13 BGG. Dies kann eine Hilfe bei der Festlegung von Kriterien der zu fördernden Verbände darstellen. 11. Geltungsbereich klarstellen Erfreulich ist, dass seit dem Inkrafttreten des BGG auf der Bundesebene in den Ländern ebenfalls Landesgleichstellungsgesetze geschaffen wurden. Problematisch ist jedoch, dass in den Ländern der Geltungsbereich z. B. bei der Umsetzung in den kommunalen Gebietskörperschaften unterschiedlich geregelt ist. Dieser Aspekt wird bedauerlicherweise in den Schwerpunkten des BMAS nicht aufgegriffen. Der Geltungsbereich des BGG sollte so klargestellt werden, dass künftig keine unterschiedlichen Entwicklungen beim Bund, den Ländern und den kommunalen Gebietskörperschaften mehr möglich sind. 12. Unabhängige Fachstelle für Barrierefreiheit Barrierefreiheit ist das zentrale Thema und Voraussetzung für die Teilhabe von Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen am gesellschaftlichen Leben. Aus Paritätischer Sicht muss das Thema fachlich begleitet und unterstützt werden. Hierfür ist eine unabhängige Fachstelle hilfreich. Zu deren Aufgabengebiet sollte zum einen die Begleitung der Umsetzung von Barrierefreiheit und zum anderen die Entwicklung von Empfehlungen zu grundlegenden Aspekten sowie die Entwicklung von Standards zur Barrierefreiheit gehören. Die Ergebnisse der Fachstelle können sowohl für die Umsetzung der Barrierefreiheit auf Bundesebene als auch auf Landes- und kommunaler Ebene genutzt werden. Eine enge Zusammenarbeit mit den Verbänden der Interessenvertretungen behinderter Menschen (Selbsthilfe-, Fach- und Wohlfahrtsverbände) sollte jedoch grundlegende Voraussetzung sein, um vorhandenes Wissen und Expertisen zu bündeln. Das bereits existierende Kompetenzzentrum Barrierefreiheit in Berlin könnte zu einer solchen unabhängigen Fachstelle weiterentwickelt werden, allerdings sind hierfür auch entsprechende Ressourcen bereitzustellen. Der Paritätische fordert die Schaffung einer unabhängigen Fachstelle für Barrierefreiheit, die rechtlich normiert wird und für die entsprechende Ressourcen bereitgestellt werden. Berlin, den 5. Juni 2015 Ansprechpartnerin Claudia Zinke, Referentin für Behinderten- und Psychiatriepolitik behindertenhilfe@paritaet.org 5