Die europäische Einheit ist erst vollendet, wenn sie eine soziale Einheit ist. Rede von Oberbürgermeisterin Peter Feldmann zur Deutschen Einheit
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- Manuela Hausler
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1 Die europäische Einheit ist erst vollendet, wenn sie eine soziale Einheit ist Rede von Oberbürgermeisterin Peter Feldmann zur Deutschen Einheit Frankfurt, Paulskirche Achtung Sperrfrist: Dienstag, , 18 Uhr +++ Sehr geehrte Damen und Herren, Es gilt das gesprochene Wort! Der 3. Oktober ist ein besonderer Feiertag. Unvergesslich für alle deutschen Bürgerinnen und Bürger, besonders aber für jene, die NEIN gesagt haben zu einer Politik, die sie von wirtschaftlicher Prosperität, Internationalität, Meinungsfreiheit und damit von gelebter Demokratie abgeschnitten hat. Der Tag der Einheit erinnert uns an die schmerzliche Spaltung unseres Landes - aber vor allem an die Kraft, die dazu notwendig war, was gespalten war, zusammenzuführen. Nach 22 Jahren sind von der Mauer heute nur noch rudimentäre Reste sichtbar, und die Kluft zwischen Ost und West scheint heute Geschichte. Doch können wir wirklich von einer Einheit in Deutschland sprechen? Frankfurt am Main war lange Jahre ein Symbol für die Westbindung Deutschlands. Hier war der AFN zuhause, hier ist das größte US- Konsulat Deutschlands, hier schießen wie in New York Wolkenkratzer in die Höhe, wir sind bis heute Mainhatten. 1
2 Wer an die gelebte Internationalität in Deutschland denkt, denkt zuerst an Frankfurt am Main. Der dieses Jahr veröffentlichte Frankfurter Integrationsbericht zeigt, dass von den unter Sechsjährigen fast 70 Prozent nichtdeutsche Wurzeln haben. Bei den über Sechzigjährigen gilt dies nur für einen äußerst geringen Teil. Und das ist nur ein Beispiel dafür, dass unsere Gesellschaft einem konstanten Wandel unterliegt, in dem Pole, wie Ost und West, Jung und Alt, Mann und Frau, Reich und Arm, weiter ein festes Koordinatensystem sind. Und in dem die Frage danach, was richtig, was gerecht was sozial ist, laufend neu ausgehandelt wird. Meine Damen und Herren, Frankfurt ist eine großartige Stadt und das moderne Deutschland ist eine wunderbare Heimat. Die grandiose Leistung, der Mut und der unbedingte Wunsch nach Gerechtigkeit und Freiheit, für die der 3. Oktober steht, muss unser Ansporn sein, die gesellschaftlichen Mauern, die unsichtbar immer noch bestehen, wahrnehmbar zu machen und sie einzureißen. Natürlich gibt es keine Mauer, keinen Stacheldraht, die uns die Kluft zwischen Geld und Armut, zwischen ausgebildet und abgehängt, sichtbar und symbolhaft vor Augen führen. Aber es gibt diese Kluft. Die Hälfte des Privatvermögens gehört gerade mal zehn Prozent der Deutschen. Das verrät der neue Armutsbericht der Bundesregierung. Und die untere Hälfte der Haushalte besitzt nur ein Prozent des Nettogesamtvermögens. 2
3 Meine Damen und Herren, können wir da ernsthaft hier sitzen und sagen, dass es keine Mauern durch unsere Gesellschaft gibt? Wer will das eigentlich politisch? Oder passiert es einfach, und keiner tut etwas dagegen? Gleichwie: Wir dürfen es gerade an einem Tag wie diesem nicht verschweigen. Nein, wir sind dazu verpflichtet, in einer Stunde der Stärke daran zu erinnern, dass Wandel möglich ist. Die Bürger der ehemaligen DDR haben in einer friedlichen Revolution die Mauer eingerissen. Zahlreiche Menschen im reichen, freien Westen haben die neuen Bürger aus dem Osten mit offenen Armen empfangen. Und zahlreiche Politiker haben in jenen Tagen den Mut besessen, allen ökonomischen und politischen Risiken zum Trotz die Einheit zu fördern. Meine Damen und Herren, heute dürfen wir Politiker keine neuen Grenzen ziehen. Wir dürfen das Erreichte nicht selbstzufrieden bewahren, wir dürfen eben nicht montags ins Büro gehen und die sozialen Grenzen, die sich durch unser Gemeinwesen ziehen, eine weitere Woche bewachen und verwalten. Wir müssen sensibel bleiben für die Ungerechtigkeiten unserer Gesellschaft. Wenn es darauf ankommt, müssen gerade wir Politiker an vorderster Front neue Montagsdemonstrationen anführen, mit denen benachteiligten Bürgern zu ihrem Recht verholfen wird. 3
4 Wir müssen die Türen unserer Rathäuser weit öffnen und unsere Mitbürger mit ihren realen Sorgen, vom Wohnungsmangel bis zum Verkehrslärm, willkommen heißen. Und ich bekenne mich dazu, in einer Linie mit denen zu stehen, die soziale, religiöse, geographische Barrieren beseitigen wollen. Mauern, an denen ich nicht Halt machen will, die ich nicht bereit bin, politisch zu akzeptieren. Sie zu bezwingen, ist für die Zukunft unserer Demokratie essentiell. Nach aktuellen Angaben des Statistischen Landesamtes leben heute in Hessen Menschen aus der Türkei, aus Polen, und sind aus Kasachstan zu uns gekommen. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass die Weltpolitik zumindest gefühlt nicht mehr bei Burger und Coke entschieden wird, sondern bei Falafel, Dim Sum und Sushi. Diesen Kulturen müssen wir uns öffnen, wir müssen sie verstehen lernen, von ihnen lernen, und mit ihnen leben. Und da ist immer noch die Mauer, die Frauen den Zugang zu wichtigen Posten verwehrt. Ich bin seit meinem Amtsantritt Mitglied in rund zehn Aufsichtsräten geworden. In ihnen treffe ich fast ausschließlich Männer und gerade mal ein, zwei Handvoll Frauen. Diese Mauer gehört eingerissen. Wird es Anfang des 21. Jahrhunderts nicht endlich Zeit, dass die Benachteiligung der Frauen in diesem Land Geschichte wird? Und da ist, höher und besorgniserregender als alle anderen, die Mauer, die einkommensstarke Familien von einkommensschwachen trennt. Über 1 Million Kinder leben nach UNICEF-Berichten in Deutschland in relativer Armut. Dies sind die Jahre der Eurokrise und der 4
5 Bankenrettungen aber gehört nicht der Skandal der Kinderarmut auf die Titelseiten? Unsere Solidarität verdienen nicht nur die Banken, sondern vor allem doch die Bedürftigen. Unsere Aufmerksamkeit verdient nicht nur der Euro, sondern vor allem doch die Europäischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. In Griechenland und Spanien haben nach einer Studie der Internationalen Arbeitsorganisation mehr als 50 Prozent der unter 24-Jährigen derzeit keinen Job. In Deutschland und der Schweiz sind es weniger als 10 Prozent. Die Entwicklung der Löhne sei "im oberen Bereich in Deutschland positiv steigend" gewesen, steht im Armutsbericht der Bundesregierung, während die unteren 40 Prozent der Vollzeitbeschäftigten reale Verluste bei den Einkommen hinnehmen müssen. Ist es nicht beschämend und, wie ich es empfinde, einfach traurig, dass wir gegen Zustände, für die wir unsägliche Worte wie Kinderarmut und Jugendarbeitslosigkeit in unserem reichen Land, im immer noch starken Europa benutzen müssen, keinen Rettungsschirm aufziehen? Wo ist da der passende Stabilitäts-Fond, mit dem die entsprechenden Maßnahmen finanziert werden? Dieser Graben gehört zugeschüttet. Diese Mauer gehört eingerissen. Wird es Anfang des 21. Jahrhunderts nicht endlich Zeit, dass Kinderarmut und Jugendarbeitslosigkeit nicht nur in diesem Land, sondern in ganz Europa Geschichte werden? Es gibt auch eine Mauer zwischen Berlin und den Bürgern, zwischen Brüssel und den Bürgern, und lokal gesprochen, zwischen dem Römer 5
6 und den Bürgern. Nicht immer funktioniert die Rückkopplung zwischen Bedürfnissen der Menschen und den Entscheidungen der Politiker so gut, wie es sein könnte. Ich bin enorm stolz darauf, Oberbürgermeister der Stadt der Stiftungen zu sein, in der Vermögende täglich ihre Hand ausstrecken und sie den Menschen reichen, die an den sozialen und geographischen Rändern unserer Gemeinschaft leben. Aber mir wäre lieber, das wäre gar nicht nötig. Ich bin sehr dankbar, dass wir in Frankfurt den Luxus haben, gleich mehrere verlässliche lokale Tageszeitungen als fünfte Gewalt auf Seiten der Demokratie zu haben, die unsere schon sprichwörtliche liberale, soziale und internationale Lebenseinstellung in Frankfurt täglich befördern. Ich bin mir zudem völlig sicher, dass wir Frankfurter zwischen den Dönerbuden der Niddastraße und den Weltklasse-Institutionen des Museumsufers, zwischen dem abgerissenem Occupy-Camp und der EZB, das kulturelle und kreative Potenzial haben, gemeinsam als Katalysator eines deutschen und europäischen Einigungs- Diskurses zu fungieren. Wir machen Politik nicht für uns, wir machen sie für die Menschen. Die deutsche Einheit ist erst vollendet, wenn sie eine europäische Einheit ist. Die europäische Einheit ist erst vollendet, wenn sie eine soziale Einheit ist. Vielen Dank. 6
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