ANHÖRUNG ABGEORDNETENHAUS BERLIN
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- Sofia Geisler
- vor 8 Jahren
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1 Existenzgründung durch MigrantInnen ANHÖRUNG ABGEORDNETENHAUS BERLIN Stellungnahme von Dr. Delal Atmaca für die bzw. namens der I.S.I. e.v. INITIATIVE SELBSTÄNDIGER IMMIGRATINNEN Sehr geehrte Damen und Herren, namens der I.S.I.e.V. Initiative Selbständiger Migrantinnen danke ich herzlich für die Einladung und die Möglichkeit, hier heute kurz Stellung zu nehmen. Aus Zeitgründen verzichte ich darauf, unseren Verein sowie dessen Entstehungsgeschichte und wichtigsten Projekte hier ausführlich vorzustellen; bei Interesse können Sie Einzelheiten gerne der Schriftfassung entnehmen. Mein Statement hier erfolgt in Form einiger weniger Befunde und Thesen. Befund 1: Nicht-Deutsche bzw. Migrantinnen und Migranten stellen die mit Abstand dynamischste Teilgruppe innerhalb der Berliner Existenzgründungen der letzten Jahre. So entfallen von den im Jahre 2013 neu gegründeten Einzelunternehmen mit nur rund 55 Prozent auf deutsche Gründer; rund 45 Prozent wurden von Menschen nicht-deutscher Staatsangehörigkeit gegründet. Berücksichtigt man, dass unter den Gründern mit deutscher Staatsangehörigkeit auch solche mit Migrationsgeschichte enthalten sind, kann folgende Aussage getroffen werden: Mindestens die Hälfte aller neuen Einzelunternehmen wurden von nicht-deutschen bzw. migrantischen Gründerinnen und Gründern gestartet. Berücksichtigt man deren relativen Bevölkerungsanteil, beträgt das Ausmaß der Dynamik sogar ein Mehrfaches des deutschen Gründungsgeschehens. Befund 2: Die Dynamik des migrantischen Gründungsgeschehens ist kein Zufall: Menschen mit einer Migrationsgeschichte haben oft eine grundsätzlich positive Einstellung zu Selbständigkeit und Unternehmertum; ihr Unternehmer_innenbild ist im Allgemeinen oft positiver als dies in der deutschen Mehrheitsgesellschaft der Fall ist (dies belegen entsprechende Studien der Gründungsforschung oder auch Untersuchungen demoskopischer Forschungsinstitute). Hinzu kommt, dass viele Menschen mit einer Migrationsgeschichte den deutschen Arbeitsmarkt als
2 verschlossen bzw. zumindest sehr schwer zugänglich erleben. Dies übrigens auch dann, wenn sie hochqualifiziert und/oder in Deutschland geboren und/oder aufgewachsen sind, über deutsche Schul-/Hochschulabschlüsse verfügen etc. These 1: Das wahre migrantische Gründungspotenzial ist sogar noch viel größer als dies durch die ohnehin bereits beachtlichen Daten zum Ausdruck kommt. Denn längst nicht aus allen potenziellen werden auch tatsächliche Gründungen. Viel kann getan werden, um dieses wahre Potenzial zu erschließen. Wichtig und erforderlich wäre hier z.b. eine diversitätsorientierte Beratung, die das Individuum in den Mittelpunkt stellt. Dies betrifft sowohl grundsätzlich das migrantische Gründungspotenzial im Allgemeinen, aber auch das von Frauen im Besonderen. These 2: Die Wirtschaft und Gesellschaft Berlins begibt sich großer Chancen und Potenziale dadurch, dass noch immer viele unnötige Hürden nicht beseitigt sind, die Gründungen von Migrantinnen erschweren. Das ist besonders ärgerlich, weil gerade diese oft mit wenig Kapital und auch sonst relativ wenig Aufwand also sozusagen niederschwellig - möglich wären. Insbesondere hier fehlt es an guter, migrationssensibler Beratungsinfrastruktur, die die Ungleichheit bezüglich Informationen, Finanzierung, Bildung etc. berücksichtigt. Befund 3: Frauen im Allgemeinen und Migrantinnen im Besonderen gründen oft sehr kleine Unternehmen. Sie benötigen relativ wenig Kapital und starten oft mit sehr bescheidenen Umsatzzielen, so dass diese Unternehmerinnen deshalb auch zunächst mit sehr wenig Personal auskommen. Nicht selten starten sie sogar ganz alleine nur mit sich selbst als Arbeitskraft. Der kalkulierte Unternehmerinnenlohn ist meist ebenfalls sehr gering. Die meisten dieser Gründungen erweisen sich gleichwohl als recht stabil. Das ist kein Zufall: Die Frauen gehen umsichtig und vorsichtig vor, sie gehen keine unüberlegten Risiken ein, sie haben im Durchschnitt wesentlich bescheidenere Wachstumsziele als ihre männlichen Kollegen und sie investieren nahezu alle zufließenden Mittel in ihr kleines Unternehmen. Umso bedauerlicher ist es, dass insbesondere viele Migrantinnen aufgrund noch geringeren Eigenkapitalanteil bzw. Ersparnissen (unterbrochene Arbeitsbiographien, größere Schwankungen bei regulären Beschäftigungsverhältnissen, informelle Beschäftigung etc.)
3 nicht aus eigener Kraft gründen können und daher auf Kredite angewiesen sind, die sie noch weniger erhalten als Frauen aus der Mehrheitsgesellschaft. Hinzu kommt die Nicht-Anerkennung bzw. Geringschätzung von im Herkunftsland erworbenen Qualifikationen und Abschlüssen (trotz der erzielten Fortschritte infolge des Anerkennungsgesetzes von 2011). Mehrfachdiskriminierungen z.b. wegen Herkunft und Geschlecht kommen erschwerend hinzu. Befund 4: Die für die Beratung und Förderung von Gründungswilligen vorgehaltene institutionelle, personelle und finanzielle Infrastruktur in Deutschland sucht Ihresgleichen. In kaum einem anderen Land der EU wird für die Gruppe der Existenzgründer derart viel angeboten. Im Handelsblatt wurden die Existenzgründer deshalb sogar einmal als Hätschelkinder der Nation bezeichnet. Leider trifft diese Bezeichnung in doppelter Weise zu: Denn die Betonung der Nation weist auf folgende Tücke hin: An den nicht-deutschen bzw. migrantischen Gründungswilligen im übrigen beiderlei Geschlechts - geht die ansonsten sehr gut ausgebaute Förder- und Beratungsinfrastruktur in hohem Maße vorbei; die vielfältigen Beratungs- und Förderangebote werden nur höchst unzureichend in Anspruch genommen. Dennoch ist wie bereits erwähnt die Gründungsneigung und auch die tatsächliche Gründungsquote unter Menschen mit einer Migrationsgeschichte ungleich höher als unter Deutschen. Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass das wahre Gründungspotenzial unter Migrantinnen und Migranten noch weit höher sein dürfte, als dies durch die zweifellos bereits beeindruckend hohen tatsächlichen Gründerzahlen zum Ausdruck kommt. Befund 5: Die unzureichende Inanspruchnahme der Beratungsangebote hat Gründe. Zwar sind diese letztlich so unterschiedlich und vielfältig wie die Menschen selbst, dennoch lassen sich gewisse gemeinsame Grundlinien und Strukturmuster erkennen, die beileibe nicht nur oft genug sogar gar nicht - mit Sprachproblemen zu tun haben. Zu beklagen sind u.a.: - oft geringe Sensibilität des Personals für besondere Belange der Migranten (dies gilt für Banken, Behörden, Beratungs- und Fördereinrichtungen ebenso wie für JobCenter
4 und Arbeitsagenturen; letztere sind bedeutsam für Gründungen aus der Arbeitslosigkeit) - oft geringe Kenntnis in Ämtern, Banken, Behörden und Fördereinrichtungen über die Existenz und Möglichkeiten der bestehenden Netzwerke und Organisationen von Migranten Hier beispielhaft nur zwei Hinweise: Oft gibt es Schwierigkeiten bei der Anmietung von Gewerberaum wg. Misstrauen der Vermieter. Es ergibt z.b. wenig Sinn, einer Frau, die in ihrem Heimatland eine Hochschulausbildung als Juristin oder Ingenieurin absolviert hat und sich nun in Deutschland selbständig machen will, etwa das Einstiegsgeld oder einen Gründerzuschuss deshalb nicht zu gewähren, weil man ihr lieber eine Stelle als einfache Verkäuferin in einer Bäckerei vermitteln will. Derlei Beispiele für Unter-Niveau-Vermittlungen gibt es unzählige!) These 3: Im Bereich Existenzgründungen von Migranten schlummert hohes Wertschöpfungspotenzial für Wirtschaft und Gesellschaft, das sich zusätzlich erschließen ließe, wenn der bestehende Zusammenhang mit dem Bereich der Integration oder auch der DesIntegration von Migranten am Arbeitsmarkt besser beachtet würde. Zur Erläuterung: Eine höhere Durchlässigkeit des Arbeitsmarktes für diejenigen Migranten, die grundsätzlich lieber sozialversicherungspflichtig beschäftigt wären, würde wie eine Art Filter für die Gruppe der migrantischen Gründer wirken. Dadurch würde der Anteil jener Gründer sinken, die aus der Arbeitslosigkeit heraus gründen und nicht selten als Gründer wider Willen bezeichnet werden müssen. Diese Gründungen gehören zu jenen, die oft bereits recht früh scheitern, also nicht sehr stabil sind. Wenn der Anteil dieser Gründer wider Willen reduziert werden könnte, würde zwangsläufig die durchschnittliche Qualität und Stabilität der migrantischen Gründungen zunehmen. So ließe sich ein Vorteil für die Gesamtwirtschaft in doppelter Hinsicht erzielen: Zum einen schlicht dadurch, dass es weniger gescheiterte Gründungen und weniger Insolvenzen gäbe. Zum anderen dadurch, dass durch zusätzliche motivierte abhängig Beschäftigte die Wertschöpfung in den Unternehmen gesteigert würde. Letzteres würde eben nicht nur den Betroffenen selbst, sondern auch deren zukünftigen Arbeitgebern helfen (Stichwort Fachkräftesicherung und so auch gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung kreieren.
5 Empfehlungen: 1. Es braucht mehr migrationssensible und diversitätsorientierte Beratung, die den erschwerten bzw. ungleichen Ausgangsbedingungen von Existenzgründer_innen mit einer Migrationsgeschichte sensibel berücksichtigen. Hier geht es nicht nur um den schlichten Zugang zur Information, sondern auch um entsprechende Angebote zur Bildung und Begleitung sowie Finanzierung etc. 2. Notwendig ist ein deutliches und unübersehbares Sichtbar-Machen des vorhandenen unternehmerischen Leistungspotentials und der Branchenvielfalt migrantischer Ökonomie sowie deren wirtschaftliche Bedeutung für Berlin. Das könnte nicht nur bei der autochtonen (Mehrheits-)Gesellschaft dazu beitragen, dass es zu einer Anerkennung und Wertschätzung der migrantischen Ökonomie führt, insbesondere auch bei Institutionen der Gründungsförderung, sondern es hätte auch eine Vorbildfunktion für Menschen mit einer Migrationsgeschichte. 3. Insbesondere für Frauen mit einer Migrationsgeschichte ist es wichtig, eine zentrale Anlaufstelle zu haben, die eine Art Kompassfunktion besitzt. Diese könnte potentielle Existenzgründerinnen beim Start in die Selbstständigkeit und junge Unternehmen in ihrer Bestandskraft beraten, unterstützen oder an die richtige Institution weiter vermitteln bzw. die richtigen Kooperationspartner_innen empfehlen. 4. Die in Berlin strukturell vorhandenen Aspekte der Vielfalt und Diversität der migrantischen Ökonomie sind hervorzuheben und weiter auszubauen. Insbesondere die Beratungseinrichtungen von Migrantinnen selbst, die in diesem Bereich langjährige Erfahrungen haben, könnten stärker von Ämtern und Grundsicherungsstellen als Kooperationspartner anerkannt werden. Dies könnte auch zur Reduzierung von ungleichen Ausgangbedingungen bei migrantischen Unternehmer_innen beitragen.
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