Die innere Verschiedenheit der historischen Sprache
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- Jürgen Steinmann
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1 Prof'in Dr. Elisabeth Burr Die innere Verschiedenheit der historischen Sprache "Historisch" bezieht sich hier auf den historischen Status nicht auf das historische Werden Historische Sprachen z.b. das Französische, das Italienische, das Englische Die Sprechenden dieser Sprachen und die Sprechenden anderer Sprachen bezeichnen eine Sprache als 'italienisch', 'französisch', 'englisch'.
2 2 Eine historische Sprache ist aber in sich nicht homogen und kann als solche nicht im Sprechen realisiert werden. Das heißt, wir sprechen nie die ganze historische Sprache Italienisch, sondern immer nur eine ihrer Varietäten (Sprechweisen). Die historische Sprache Italienisch realisiert sich also über ihre inneren Varietäten.
3 3 Die Varietäten einer historischen Sprache Innerhalb einer historischen Sprache stellen wir bestimmte Typen von Unterschieden fest: im geographischen Raum: an den verschiedenen Orten werden unterschiedliche Arten der historischen Sprache gesprochen, bei den sozio-kulturellen Schichten: die verschiedenen Schichten sprechen unterschiedliche Arten der historischen Sprache, bei den verschiedenen Sprechsituationen: in den verschiedenen Sprechsituationen werden unterschiedliche Arten der historischen Sprache gesprochen.
4 4 Die Unterschiede im geographischen Raum Die Unterschiede im geographischen Raum nennen wir diatopische Unterschiede. Auf je einen Ort oder auf je eine Gegend bezogen haben wir syntopische Einheiten, Einheiten also die nicht den ganzen geographischen Raum, sondern nur eine Gegend, einen Ort betreffen. Diese Einheiten werden «Dialekte» genannt.
5 5 Wir können 3 Arten von Dialekten unterscheiden: 1. primäre Dialekte: Es sind dies die Dialekte, die schon vor der Entstehung der Hoch- bzw. Gemeinsprache existierten. Bei der historischen Sprache Italienisch sind dies z.b. Lombardisch, Toskanisch, Campanisch, Sizilianisch etc. Die Hoch- oder Gemeinsprache ist ursprünglich selbst einer dieser Dialekte. Bei der historischen Sprache Italienisch ist damit das Toskanisch gemeint.
6 6 Zwischen 'Sprache' und 'primären Dialekten' besteht sprachstrukturell kein Unterschied. Beides sind vollständige Systeme. Die Abgrenzung zwischen 'Sprache' und 'Dialekt' erfolgt zumeist aufgrund von kulturgeschichtlichen, politischen, ökonomischen etc. Faktoren. So werden das Niederländisch und das Katalanische als historische Sprachen bestimmt; das Sardische in der italienischen Linguistik dagegen oft als primärer Dialekt der historischen Sprache Italienisch, in der deutschen Romanistik aber als historische Sprache.
7 7 2. sekundäre Dialekte Es sind dies die regionalen Unterschiede, die sich innerhalb der Gemeinsprache herausgebildet haben. Das heißt: einer der primären Dialekte 'erhebt sich' im Laufe der Geschichte aus verschiedenen Gründen über die anderen primären Dialekte und wird zur Gemeinsprache, die die anderen Dialekte überdacht. Erst dann können wir strenggenommen von den 'Dialekten des Italienischen' sprechen und damit die primären Dialekte meinen.
8 8 Wenn sich diese Gemeinsprache dann über die verschiedenen Dialekt-Gebiete verbreitet, entstehen in ihrem Innern sekundäre diatopische Unterschiede und damit die sekundären Dialekte. Bei der historischen Sprache Italienisch sprechen wir hier von den 'italiani regionali' mit vor allem 3 Ausstrahlungszentren: Mailand-Turin, Rom, Neapel.
9 3. tertiäre Dialekte 9 Es sind dies die regionalen Unterschiede, die sich innerhalb der Standardsprache zeigen. Das heißt, eine bestimmte zumeist lokal und sozio-kulturell charakterisierte Art der Gemeinsprache entwickelt sich zur Norm bzw. zum Standard oder wird als solche(r) festgelegt. z.b. die deutsche Bühnenaussprache. Mit Norm ist hier ein Standard gemeint, der als Modell für ein gutes Sprechen einer Sprache gilt.
10 10 Dieser Standard kann nun selbst wieder an den verschiedenen Orten einer Sprachgemeinschaft unterschiedlich realisiert werden und zwar regelmäßig. Zumeist handelt es sich hierbei um Unterschiede in der Aussprache: Bei der historischen Sprache Italienisch können wir solche Unterschiede z.b. bei verschiedenen Nachrichtensprechern der RAI feststellen, oder bei den verschiedenen Politikerinnen und Politikern, z.b. De Mita gegenüber Craxi historische Sprache Deutsch: ebenso vgl. Kohl - Möllemann - v. Stoltenberg
11 11 Es kann aber z.b. auch Unterschiede im genormten Wortschatz geben, wie etwa bei der historischen Sprache Deutsch vgl. die von der Handwerksordnung von 1965 für Bayern als Bezeichnungen im amtlichen Verkehr zugelassenen Handwerksbezeichnungen: Pflasterer neben Straßenbauer Spengler neben Klempner Solche Unterschiede zeigen sich aber z.t. auch auf der Ebene der Grammatik: passato remoto - passato prossimo ich bin geschwommen - ich habe geschwommen Perfekt statt Imperfekt
12 12 Die Unterschiede bei den soziokulturellen Schichten Die Unterschiede bei den sozio-kulturellen Schichten nennen wir diastratische Unterschiede. Auf je eine Schicht bezogen haben wir dann synstratische Einheiten, Einheiten also, die nicht die ganze Gesellschaft, sondern nur jeweils eine Schicht betreffen. Diese Einheiten nennen wir «Sprachniveaus» oder auch «Soziolekte». Bei der historischen Sprache Italienisch wird etwa unterschieden zwischen: italiano colto - italiano dell'uso medio - italiano popolare
13 13 Die Unterschiede bei den Sprechsituationen Die Unterschiede bei den Sprechsituationen nennen wir diaphasische Unterschiede. Auf je einen Sprechsituationstyp bezogen haben wir dann synphasische Einheiten, Einheiten also, die nicht das Sprechen als solches betreffen, sondern einen bestimmten Typ von Sprechsituation. Diese Einheiten werden 'Sprachstile' genannt. Bei der historischen Sprache Italienisch unterscheiden wir so z.b.: italiano letterario - italiano colloquiale - italiano familiare - italiano volgare
14 14 Die Sprechsituation wird dabei bestimmt von den Gesprächsteilnehmerinnen und -nehmern, vom Sprechgegenstand, vom Sprechumstand etc. Zu den Sprachstilen gehören auch die Sprachen der sozialen Gruppen, z.b. Berufsgruppen, Fußballfans; der Generationen: z.b. Jugendsprache - Sprache der Alten; der Geschlechter: Frauensprache - Männersprache; Fachsprachen: z.b. italiano burocratico, italiano scientifico, lingua dei giornali etc.
15 15 Das Verhältnis zwischen den verschiedenen Arten von Varietäten Dialekt Sprachniveau Sprachstil 1. Ein Dialekt ist charakteristisch für einen bestimmten Ort. 2. Ein Dialekt kann aber auch eine bestimmte Schicht charakterisieren. 3. Ein Dialekt kann auch eine bestimmten Sprechsituation charakterisieren.
16 16 Die Einheiten selbst sind aber nie vollkommen homogen. Ein Dialekt als Sprache eines bestimmten Ortes oder einer bestimmten Gegend besteht zumeist aus verschiedenen Sprachniveaus und verschiedenen Sprachstilen. Ein Sprachniveau als Sprache einer bestimmten Schicht umfaßt zumeist verschiedene Dialekte und Sprachstile. Ein Sprachstil als Sprache einer bestimmten Situation umfaßt zumeist verschiedene Dialekte und Sprachniveaus.
17 17 Architektur der historischen Sprache Zusammenspiel von diatopischen, diastratischen und diaphasischen Unterschieden bzw. syntopischen, synstratischen und synphasischen Einheiten.
18 18 Die funktionelle Sprache Bei der funktionellen Sprache handelt es sich um ein homogenes Sprachsystem. Eine funktionelle Sprache ist also zugleich syntopisch, synstratisch, synphasisch. Das heißt wir betrachten die Sprache an einem bestimmten geographischen Ort dort bei einer bestimmten sozio-kulturellen Schicht und dann in einer bestimmten Sprechsituation. z.b. die familiäre Sprache der römischen Mittelschicht.
19 19 Eine funktionelle Sprache ist darüber hinaus auch synchronisch, d.h. wir betrachten einen bestimmten Sprachzustand. Das Beispiel muß also folgendermaßen erweitert werden: die familiäre Sprache der römischen Mittelschicht 1992/in den achtziger Jahren / im 18. Jahrhundert Im Sprechen wird an jeder Stelle eine bestimmte funktionelle Sprache realisiert, so z.b. eine bestimmte Form des Italienischen. Damit besteht eine historische Sprache aus vielen verschiedenen funktionellen Sprachen.
20 20 Die verschiedenen Strukturierungsebenen der funktionellen Sprache System Norm Rede
21 21 Das System enthält alles, was objektiv funktionell ist, d.h. die bedeutungsunterscheidenden Oppositionen. Die Norm enthält alles, was im Sprechen normale, traditionelle, gemeinsame Realisierung des Systems ist. Beispiele: a) Phonetik Im System der italienischen Hochsprache hat man einen funktionellen Unterschied zwischen geschlossenem e und offenem e sowie zwischen geschlossenem o und offenem o, d.h. durch offen/geschlossen werden Bedeutungen unterschieden. Man hat es hier also mit 4 Phonemen zu tun.
22 offenes e 22 geschlossenes e pesca (Pfirsich) legge (liest) pesca (das Fischen, die Fischerei) legge (Gesetz) venti (Winde) venti (20) offenes o botte (Schläge) fosse (Gruben colto (gesammelt) geschlossenes o botte (Faß) fosse realizzato (Konjunktiv Imperfekt) colto (gebildet) Dieser Unterschied funktioniert aber nur in betonter Stellung und auch hier nur in wenigen Fällen.
23 23 Nach der Norm der italienischen Hochsprache ist es aber auch dort, wo dieser Unterschied keine Bedeutung unterscheidet nicht gleichgültig, ob geschlossenes oder offenes e/geschlossenes oder offenes o realisiert wird: offen festa bocca geschlossen tela notte
24 b) Grammatik 24 Im System des italienischen Artikels hat man lediglich einen Unterschied zwischen Maskulinum und Femininum. Für das Funktionieren ist es gleichgültig, ob man l', il oder lo für das Maskulinum hat. Die 3 Formen haben die gleiche Funktion. Man sagt aber so: vor Vokal: l'amico gli amici vor Konsonant: il libro i libri vor z/s + Kons.: lo zio gli zii lo studente gli studenti Hierbei handelt es sich um Regelmäßigkeiten der Norm.
25 25 Diese betreffen ebenso den unbestimmten Artikel: un amico un libro uno zio uno studente und das Demonstrativum: quell'amico quel libro quello studente quegli amici quei libri quegli studenti Es handelt sich hierbei um Regelmäßigkeiten der italienischen Sprache, die nicht funktionell sind, also keine Bedeutung unterscheiden, aber automatisch eintreten.
26 26 Dazu gehört auch die Wahl zwischen verschiedenen Verfahren dort, wo verschiedene Möglichkeiten im System vorhanden sind: c) Wortschatz Im System des Deutschen hat man zur Diminutivbildung die beiden Suffixe: - chen und -lein. Es ist aber nicht gleichgültig, welches von beiden gebraucht wird. Weitgehend wird -chen bevorzugt, in gewissen Fällen hat man aber gerade -lein: Tischlein, Büchlein
27 27 Hinzu kommen allgemein vom System her mögliche Formen, die, wenn Bedarf besteht, geschaffen werden können, in der Norm aber noch nicht existieren: giocare giocherellare rigiocare spielen spielen, tändeln wieder spielen Diese Formen existieren in der Norm des Italienischen. Vom System her möglich sind aber auch: rigiocherellare rigiocherellamento rigiocherellamentista rigiocherellamentistico rigiocherellamentisticamente Die Verfahren zur Bildung dieser Formen existieren im System. In der Norm hat man diese Formen noch nicht,
28 28 sie können aber jederzeit gebildet werden. Um eine Sprache korrekt zu sprechen, muß man also nicht nur deren System, sondern auch deren Norm kennen. System, Norm und Rede machen die Struktur der funktionellen Sprache aus. In Bezug auf die Varietäten einer Sprache, z.b. des Italienischen, bedeutet dies: Zwischen den verschiedenen Dialekten sind mehr Unterschiede im System zu erwarten. Zwischen den verschiedenen Sprachniveaus sind mehr Unterschiede in der Norm aber auch im System zu erwarten.
29 29 Zwischen den verschiedenen Sprachstilen sind vor allem Unterschiede in der Norm zu erwarten.
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