Entscheidungshilfen für Latein als zweite Fremdsprache

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1 HUMBOLDT- GYMNASIUM KARLSRUHE Elterninformation zur Sprachenwahl: Entscheidungshilfen für Latein als zweite Fremdsprache EINLEITUNG - Sie möchten erfahren, was es für einen Sinn haben soll, heutzutage ein Kind Latein lernen zu lassen. Sie haben sich vermutlich die Frage gestellt: Wozu soll mein Kind eine tote Sprache lernen? - Man sollte diese zwar übliche, aber nicht zutreffende Bezeichnung korrigieren: Es wird sich nämlich gleich zeigen, dass Latein keine tote, sondern eine sehr lebendige Sprache ist. - Latein wird heute durchaus noch verwendet, und gar nicht selten. Der Unterschied zu Französisch, Englisch, Russisch oder Chinesisch ist lediglich, dass Latein heute nicht mehr in einem bestimmten Land oder von einem bestimmten Volk gesprochen wird. Fragen wir daher besser: Wozu soll mein Kind eine nicht mehr gesprochene Sprache lernen? - Im Folgenden werden auf diese Frage drei Antworten gegeben. Die erste Antwort lautet:

2 2 - Eine Fremdsprache lernen, um die eigene Muttersprache besser zu beherrschen? Die folgenden drei Beispiele sollen diese etwas seltsam anmutende These an erläutern. BEISPIEL 1: VERSTEHEN VON FREMDWÖRTERN - Damit den Schülern bewusst wird, dass sie tagtäglich Latein sprechen, ohne es zu bemerken, kann man ihnen in der ersten Lateinstunde beispielsweise ein Blatt mit Sätzen folgender Art vorlegen: 2

3 3 - Diese Beispiele machen einen großen Vorteil des Lateinlernens deutlich: Die Kenntnis der lateinischen Grundwörter, aus denen unsere Fremdwörter gebildet sind, vermittelt eine größere Sicherheit im Umgang mit der Muttersprache. - Dies gilt ebenso, wenn die Fremdwörter, die auf dem Lateinischen basieren, aus dem Englischen oder einer anderen Sprache ins Deutsche eingewandert sind, hier die beiden Wörter Computer oder Alien. - Diese Vokabeln aus dem Englischen machen zugleich klar, dass das Lateinlernen auch dem Erlernen der modernen Fremdsprachen zugute kommt. Dies ist ein wichtiges weiteres Argument, das noch genauer erläutert werden wird. - Bei wissenschaftlichen bzw. fachsprachlichen Texten ist der Anteil an Fremdwörtern oft noch viel höher als in der Alltagssprache. Es liegt auf der Hand, dass es von Vorteil ist, wenn man in seinem späteren Beruf Fachbegriffe nicht nur benutzt, sondern auch weiß, was sie bedeuten. - Fazit: Wer Latein kann, versteht nicht nur besser, was andere sagen, wenn sie Fremdwörter gebrauchen, er weiß auch, was er selbst sagt, wenn er Fremdwörter gebraucht. Der Lateinschüler lernt also, sich im Deutschen bewusster und genauer auszudrücken. BEISPIELE 2/3: VORBEMERKUNG - Zu den beiden folgenden Beispielen eine wichtige Vorbemerkung: - Im Gegensatz zu modernen Fremdsprachen ist die Unterrichtssprache in den Lateinstunden Deutsch. Im Mittelpunkt steht das Verstehen und Übersetzen lateinischer Texte ins Deutsche. Auf Lateinisch Gespräche führen oder schriftliche Texte verfassen muss der Lateinschüler also nicht. BEISPIEL 2: WORTSCHATZERWEITERUNG 3

4 - Die Beispiele 2 und 3 sollen zeigen, dass es vor allem die Arbeitsweise ist, durch die der Lateinunterricht die Fähigkeit fördert, mit der Muttersprache umzugehen. - Beispiel 2: Schon das schlichte Vokabellernen macht deutlich, dass der Schüler so ganz nebenbei seinen Wortschatz vor allem seinen aktiven Wortgebrauch erweitert. - Beim Vokabellernen merkt der Schüler, dass die deutsche Sprache mehrere Wörter mit gleicher oder ähnlicher Bedeutung, sogenannte Synonyme, hat: siehe Beispiel 2 a) - Beim Übersetzen ist er gezwungen zu entscheiden, welche der möglichen Bedeutungen in den Zusammenhang passt. - Der Lateinschüler erweitert so seinen deutschen Wortschatz und lernt, ihn sinngerecht und stilistisch flexibel einzusetzen. - Ein weiterer Effekt des Vokabellernens ist die Begegnung mit Wörtern der Muttersprache, die dem Kind bzw. Jugendlichen nicht geläufig sind. Einige solcher für Jugendliche ungewohnter Wörter zeigt Beispiel 2 b). - Gerade bei Kindern und Jugendlichen, die Lesen nicht gerade zu ihrem Hobby erkoren haben (!!), ist der Lateinunterricht der Ort, wo sie durch den aktiven Gebrauch solcher Wörter ihre Ausdrucksmöglichkeiten erweitern und verfeinern lernen zur Freude des Deutschlehrers und der Kollegen aller anderen Fächer, in denen eine präzise und differenzierte Ausdrucksweise notwendig ist. BEISPIEL 3: AUSDRUCKSSCHULUNG - Gesteigert wird die Schulung im Bereich der Ausdrucksfähigkeit durch das Übersetzen aus der Fremdsprache in die Muttersprache. 4 4

5 - In Beispiel 3 geht es um die Übersetzung eines lateinischen Ausdrucks, der in der Fachsprache Ablativus absolutus genannt wird: Vere ineunte: - ver - der Frühling - ineunte - eintretend. - Eine dem Ablativus absolutus exakt entsprechende Ausdrucksweise gibt es im Deutschen nicht: Frühling eintretend kam Caesar nach Gallien ist kein akzeptables Deutsch. - Man ist also gezwungen, eine sinngerechte deutsche Formulierung zu finden. - Der Schüler lernt, dass er dazu in der deutschen Sprache eine Reihe von Möglichkeiten zur Auswahl hat, zum Beispiel (vgl. Folie oben): - Bei Beginn des Frühlings... - Als der Frühling begann... - Als es Frühling wurde... - Als das Frühjahr kam... - das Frühjahr setzte ein und da... - Durch diese Arbeitsweise lernt der Lateinschüler in besonderem Maße, die Muttersprache genau und stilistisch angemessen zu gebrauchen, er gewöhnt sich an, nicht einfach so zu reden und zu schreiben, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, sondern sich bewusst, abwechslungsreich und präzise auszudrücken. - Nicht nur Deutschlehrer merken schnell, ob sie es mit einer Lateinklasse zu tun haben oder nicht. 5 - Und noch etwas: Latein ist eine Schule der Genauigkeit. In dieser Hinsicht hat der Lateinunterricht viel Ähnlichkeit mit Mathematik und den Naturwissenschaften. - Man kann die Arbeitsweise im Lateinunterricht als "sprachliches Mikroskopieren" bezeichnen, d. h. beim Übersetzen muss ständig bis ins kleinste Detail Genauigkeit bezüglich der Bedeutung von Wörtern und ihrer grammatischen Form geübt werden. - Der Wert einer solchen Arbeitsweise für die Schulung im wissenschaftlichen Denken und Arbeiten liegt auf der Hand und reicht weit über die Grenzen des Faches Latein hinaus. - Allerdings sei nicht verschwiegen, dass gerade die Anforderungen Genauigkeit und Fähigkeit zu analytischem Denken für manche Lateinschüler eine der großen Hürden darstellen. - Wer es nicht schafft, sich diese Arbeitsweise anzueignen, wird mit Latein nie richtig glücklich. - Oberflächlichkeit, nicht richtig hinsehen, einfach so drauflos raten, So-ungefähr- Lösungen all dies führt sofort zu Misserfolg und ständiger Misserfolg ist eine schlimme Sache, nicht nur für Kinder! 5

6 ANTWORT 2: LATEIN ERLEICHTERT DEN ZUGANG ZU MODERNEN FREMDSPRACHEN - Es wurden drei Antworten auf die Frage Wozu Latein lernen? angekündigt. Hier die zweite Antwort: 6 - In den romanischen Sprachen, also im Wesentlichen Französisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch, besteht der Wortschatz fast vollständig aus Wörtern mit lateinischer Wurzel. Auch die Grammatik ist in vielem noch ähnlich. - Aber auch im Englischen gehen ca. 60 % des Wortschatzes auf das Lateinische zurück. - Da der Lateinschüler die Ursprache dieser modernen europäischen Sprachen lernt, ist er in der Lage, sich deren Wortschatz viel schneller anzueignen. - Aber nicht nur beim Wörterlernen in den modernen Fremdsprachen profitiert der Schüler vom Lateinunterricht. Der Lateiner hat klare Grammatikraster im Kopf und kann so an andere Fremdsprachen viel gezielter und bewusster herangehen. ANTWORT 3: LATEIN ALS KULTURFACH - Sprachen bestehen nicht nur aus Wörtern und Grammatik; jede Sprache transportiert auch eine eigene Weltsicht und Kultur. Hiermit haben wir die 3. Antwort auf die Frage, wozu Lateinlernen gut sein soll: Wer Latein lernt, wird vertraut mit den Grundlagen der europäischen Kultur 6

7 7 - Ein vereinigtes Europa gab es bereits vor 2000 Jahren: Das Imperium Romanum. Die Karte zeigt das Römische Reich zum Zeitpunkt seiner größten Ausdehnung im 2. Jahrhundert nach Christus (rosa eingefärbt) - Klicken Sie auf den Link, um zu beobachten, wie das Imperium der Römer sich ausdehnte: - Das Imperium Romanum vor 2000 Jahren war größer als die heutige EU. - Latein war damals Verkehrssprache von Ägypten bis Schottland, von der Türkei bis Portugal. - in Mittelalter und Neuzeit war Latein die europaweit geschriebene und gesprochene Sprache der gebildeten Stände. - Latein wurde bis weit in die Neuzeit in Schulen und Universitäten, in Justiz und Verwaltung als allgemeingültiges Verständigungsmittel benutzt. - Noch heute werden Fachbegriffe vielfach aus lateinischen Bestandteilen gebildet, auch wenn sie oft englisch ausgesprochen werden. (Das Modewort Optionen 7

8 kommt natürlich von englisch options, und dieses wiederum von lat. optare wünschen!) 8 Rom, Forum Romanum - Lateinschüler lernen nicht nur eine Sprache, sondern eine ganze Bildungstradition kennen: Literatur, Rhetorik, Werke von Architektur und bildender Kunst, Geschichte, Mythologie, Religion, Philosophie Kulturinhalte also, die in ganz Europa und weit darüber hinaus relevant sind. - Bildungstradition - schön, werden Sie sagen, aber was nützt das meinem Kind? Hierzu ein kleines Beispiel aus dem Alltag. - Als die Franzosen und Niederländer im Juni 2006 gegen die Verfassung der EU gestimmt hatten, erschien in der Tageszeitung Badische Neueste Nachrichten eine Karikatur, die ein seltsames Paar zeigte, bestehend aus einer Dame und einem Stier auf dessen Flanke die Initialen EU eingebrannt waren. Die beiden saßen frustriert dreinblickend nebeneinander. Darunter der Text: Denkpause - Wer sind die beiden? Dass die Dame Europa repräsentieren soll kann man an dem Sternenkranz auf ihrem T-Shirt gerade noch vermuten. Aber was soll der Stier? Was soll daran witzig sein? Mancher Leser wird achselzuckend weitergeblättert haben. - Der Karikaturist verlangt vom Leser, dass er den Mythos kennt, wie Zeus in Gestalt eines Stieres die phönizische Königstochter namens Europa, in die er verliebt ist, nach Kreta entführt hat. Wer die Geschichte kennt, versteht sofort die Aussage der witzigen Zeichnung: Das Nein von Niederländern und Franzosen hat das vereinte Europa in eine Beziehungskrise gestürzt. 8

9 9 - Wer die Geschichte nicht kennt, versteht den raffinierten Einfall des Zeichners nicht und weiß nicht, was es hier zu lachen gibt. - Der Lateinschüler hat gut lachen, denn diese und viele andere Sagen aus der antiken Mythologie kennt er aus dem Lateinunterricht. - Wie zeitlos aktuell solche Mythen sind, zeigt sich, wenn man zum Beispiel bei der Google-Bildersuche das Stichwort Europa auf dem Stier eingibt: - Hunderte von Treffern zeigen, wie vielfältig solch ein Mythos in unserer Kultur verankert ist. - Unzählige Kunstwerke von der Antike bis in die Gegenwart stehen neben Werbeanzeigen oder sonstigen Adaptionen dieses Themas, darunter auch die Rückseite der griechischen Ausgabe der Zwei-Euro-Münze. - Die Kenntnis der antiken Mythologie nützt dem Schüler im Deutsch-, Kunst- oder Geschichtsunterricht, aber vor allem auch dem späteren Erwachsenen, überall dort, wo man eine gediegene Allgemeinbildung voraussetzt. - Ich schließe mein Plädoyer mit einem Wort Bertolt Brechts: Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse - mit Latein hat Ihr Kind in diesem Sinne viel Vergnügen! IST LATEIN DIE RICHTIGE WAHL FÜR MEIN KIND? - Nach so vielen guten Gründen, sich für Latein zu entscheiden, möchten Sie sicher gerne eine Entscheidungshilfe haben, die speziell auf die Individualität ihres Kindes zugeschnitten ist. - Dies kann man natürlich hier nur prinzipiell leisten, für eine individuelle Beratung stehen Ihnen aber alle Latein-Kollegen/innen der Schule gern zur Verfügung. - Vielleicht hilft Ihnen aber die folgende Checkliste schon einmal weiter: WORAN MERKE ICH, DASS MEIN KIND FÜR LATEIN GEEIGNET IST? - keine erheblichen Schwierigkeiten in Englisch, Deutsch und Mathematik - Freude am Knobeln und logischen Kombinieren - positive Einstellung zum Lernen, gesunder Ehrgeiz - Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer - gewisse Ordnungsliebe und Bereitschaft zu konsequentem Arbeiten - Fähigkeit zur Selbstorganisation - In diesem Zusammenhang sei nicht verschwiegen, dass Kinder, denen es an den drei zuletzt aufgeführten Fähigkeiten und Eigenschaften fehlt, sehr bald mit diesem Fach auf Kriegsfuß stehen werden: Latein ist nicht leicht! - Mit einer guten Arbeitshaltung kann dieses Fach dagegen sehr viel Spaß machen, denn jeder weiß, wie sehr Engagement, Spaß und Erfolg sich gegenseitig bedingen. 9

10 - Zum Schluss mögen auch Schüler, die schon viele Erfahrungen mit dem Fach Latein gesammelt haben, selbst zu Wort kommen. Bei einer Umfrage in einem Oberstufenkurs ergab sich folgendes Bild: LATEIN AUS SCHÜLERSICHT (Umfrage im Neigungsfach 12) - Vorteile von Lateinkenntnissen - Fit in Grammatik (Deutsch, andere Fremdsprachen) - Fremdwörter / Fachsprachen (Segment, Sektor, Tangente, transzendent,...) - Was ist leichter Französisch oder Latein? - geteilte Meinung! - ungeteilte Meinung: Französisch fällt mir leichter, weil ich Latein kann! 10 ÜBRIGENS: LATEIN GROOVT - Zum Abschluss noch etwas scheinbar Banales: Es gibt ja Kinder, aber auch Eltern soll es geben, die befürchten, mit Latein würden sie etwas schrecklich Altmodisches, Uncooles wählen. - Keine Angst! Mit Latein liegen man heute wieder voll im Trend! Die Zahl der Lateinschüler hat in den letzten Jahren, nachdem sie lange Zeit gesunken war, einen kräftigen Sprung nach oben gemacht. - Es gibt jetzt auch eine Hip-Hop-Gruppe namens ISTA (dt. DIE DA ), die mit lateinischen Texten rapt Ihr Motto: "Latein groovt". Am besten, Sie hören mal kurz rein: Autor: K. Frisch, OStR, Fachbeauftragter für Latein am HGK Bildnachweis: