Zusammenfassung: Mehrsprachigkeit und Sprachentwicklung 1
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- Max Sachs
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1 Zusammenfassung: Mehrsprachigkeit und Sprachentwicklung 1 Kurzbiografie Annette Kracht, Dr. phil., Dipl. Päd., Jahrgang 1963, Studium der Erziehungswissenschaft in Hannover, Arbeitsfelder: Pädagogische Mitarbeiterin in einem Migrationszentrum, freiberufliche Tätigkeit als Sprachheilpädagogin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hannover, seit 1999 wissenschaftliche Assistentin der Universität Hamburg, von Mai 2000 bis April 2001 Lehrstuhlvertretung an der Universität Würzburg (Sprachbehindertenpädagogik). Angehrn Catherine, Schraner Johanna Studierende des 4. Semesters an der Schweizer Hochschule für Logopädie Rorschach SHLR Einleitung In der sprachtherapeutischen Praxis wird primär auf Einsprachigkeit bezogenes Entwicklungswissen herangezogen, obwohl ein nicht geringer Teil der Kinder zweisprachig aufwächst. Das Problemfeld der Vernachlässigung sprachentwicklungstheoretischen Wissens zur kindlichen Zweisprachigkeit wird umrissen. Die Begriffe Sprachentwicklung und Spracherwerb sowie Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit werden in den folgenden Ausführungen synonym verwendet. Drei Modelle zum Erwerb mehrerer Sprachen Die vorgestellten Modelle systematisieren die Ergebnisse bisheriger Forschungen zum Spracherwerb mehrsprachiger Kinder. Bilingualer Erstspracherwerb Die Zweitsprache wird von Geburt an gleichzeitig mit der Erstsprache erworben, auch simultaner Zweitspracherwerb genannt. Jeder Elternteil gestaltet den Lebensalltag mit dem Kind in der Sprache, die er/sie selbst erstsprachlich entwickelt hat. Diese Sprachensituation entspricht dem «eine-person-eine-sprache-prinzip». Anzumerken ist, dass vor allem bei zugewanderten Familien diese wesentliche Bedingung des bilingualen Erstspracherwerbs nicht zutrifft. Zweitspracherwerb Der Zweitspracherwerb setzt nach dem monolingualen Erstspracherwerb ein und kann als sukzessiver Zweitspracherwerb bezeichnet werden. Die Erstsprache ist in diesen Fällen in den Grundzügen erworben. Zu bedenken ist, dass Kinder eingewanderter Familien häufig im Ankunftsland geboren werden. Sie erwerben also die Zweitsprache weder im Sinne des sukzessiven Zweitspracherwerbs noch nach dem «eine-person-eine-sprache-prinzip». 1 Kracht, Annette Mehrsprachigkeit und Sprachentwicklung. In: LOGOS Interdisziplinär. Jg. 9. (4)
2 Zweisprachenerwerb Noch während des Erstspracherwerbs (unter 3 Jahren) wird für das Kind neben der Familiensprache/Erziehungssprache auch die Sprache der gesellschaftlichen Mehrheit (z.b. durch den Sprachgebrauch älterer Geschwister, die den Kindergarten oder die Schule besuchen) wichtig. Eine Vielzahl an unterschiedlichen Sprachkonstellationen in Familien können nicht auf das «one-person-one-language-prinzip» reduziert werden. Somit ist dieser allgemeingültige sprachliche Erziehungsgrundsatz nicht immer gerechtfertigt. Das «one-person-one-language-prinzip» kann nur empfohlen werden, wenn die familiäre Sprachensituation durch unterschiedliche erstsprachlich erworbene Mutterund Vatersprache gekennzeichnet ist. Strategien beim Erwerb und Gebrauch mehrerer Sprachen Die Darstellung der folgenden Strategien mehrsprachiger Kinder zeigt, dass diese zu spezifischen sprachlichen Leistungen führen, die sich von denjenigen einsprachiger Kinder unterscheiden. Sprachwechsel In Gesprächen wird von der einen in die andere Sprache gewechselt, wobei mehr als ein einzelnes Wort aus der anderen Sprache verwendet wird. Von Code-switching (Bsp. It s raining. Nimm deinen Schirm mit!) spricht man, wenn die Satzgrenze dabei eingehalten wird. Beim Code-mixing wird innerhalb eines Satzes gewechselt (Bsp. Nimm the umbrella mit!). Sprachwechsel sind bei simultanem wie auch bei sukzessivem Spracherwerb zu beobachten. Auf der Grundlage neuerer psycho- und soziolinguistischer Studien ist es problematisch, code-switching und code-mixing mit den Polen «gut» und «schlecht» zu verbinden. Frühes Sprachmischen kann ein Zeugnis für die Fähigkeit des Kindes sein, seine zur Verfügung stehenden Mittel systematisch komplementär einzusetzen. Auch entwickeln mehrsprachige Sprachlerner und Sprachlernerinnen einen etwas höheren Grad und ein etwas früheres Einsetzen von Sprachbewusstheit. Sprachlicher Transfer Bis in die heutige Zeit wird sprachlicher Transfer unterschiedlich erklärt. Interferenz bezeichnet das Produkt eines sprachlichen Transfers. Wissen über die eine Sprache wird bei den Sprachlernern verwendet, um es für den Gebrauch einer anderen Sprache zu nutzen. Sie oder er überträgt in der Regel un- 26
3 bewusst sprachliche Strukturen und/oder Sprachverwendungsregeln von der einen in die andere Sprache. Neuere Erkenntnisse belegen, dass nicht das sprachliche System für den sprachlichen Transfer verantwortlich ist, sondern die Sprachlernenden selbst. Sprachliche Ganzheiten Damit ist der formelhafte Sprachgebrauch gemeint, der dem Sprachstand des Sprachlerners vorausgreift. Er formuliert Sprachstrukturen, die nicht seinem aktuellen Kenntnisstand der neu zu lernenden Sprache entsprechen, z.b.: Wie geht es dir? Zusammenfassend kann man sagen, dass Sprachmischungen als wesentliche Bestandteile zweisprachiger Kommunikation anzusehen sind und nicht grundsätzlich Ausdruck sprachlichen Unvermögens sind. Lernt ein Kind die adressatenadäquate Verwendung der Sprache jedoch nicht, ist dies als pathologisch einzustufen. In der Anfangsphase des Fremdsprachenerwerbs ist das Sammeln von sprachlichen Ganzheiten typisch und erlaubt erste Kommunikation. Im weiteren Verlauf führen sie jedoch nicht zu nachhaltigen Spracherwerbsprozessen, da mit dieser Taktik keine neuen Sprachstrukturen entwickelt werden können. Vergleich Erstspracherwerb - Zweitspracherwerb Der Ablauf des Erstspracherwerbs kann nicht mit demjenigen des Zweitspracherwerbs gleichgesetzt werden. Phasen des Erstspracherwerbs nach Clahsen Phase 1: Einwortäusserung (1-1,5 Jahre) Phase 2: Zweiwortäusserung mit beliebiger Wortstellung (1,5-2 Jahre) Phase 3: Mehrwortäusserungen (2-2,5 Jahre) Phase 4: Verbzweitstellung, eindeutige Subjekt-Verbkongruenz (ab 3 Jahren) Phase 5: Komplexe Syntax (ab 3,5 Jahren) Phasen des Zweitspracherwerbs Phase 0: Ruhige Phase: Die Kinder sammeln Daten, beobachten, imitieren und probieren, um sich auf den fremden Rhythmus und Klang einzustellen. Phase 1: Scheinbare Ordnung: Erste Gehversuche im Fremdsprachenerwerb sind das Sammeln von aus- 27
4 wendig gelernten Formeln und sprachlichen Ganzheiten. Sie dienen der ersten Kommunikation und weisen Elemente aus beiden Sprachen auf. An der Schwelle zur nächsten Phase nimmt die Zahl der gespeicherten Einheiten ab. Phase 2: Systemspezifisches Chaos: Das stabil wirkende System der Anfangsphase wird zerlegt und neu zusammengesetzt. Der beginnende kreative Sprachgebrauch zeichnet sich aus durch Übergeneralisierungen und Fluktuationen von Regeln und zunehmender Äusserungslänge. Phase 3: Stabilität und Ordnung: Hohe Flexibilität und Präzision eines gut sortierten Repertoires von Sprachmustern weisen auf gute Kompetenzen in der Zweitsprache hin und ermöglichen einen kreativen und regelgeleiteten Sprachgebrauch. Zweitspracherwerb ist nicht gleich Zweitspracherwerb: Die Verweildauer in den Phasen variiert individuell. Er wird beeinflusst von der sprachspezifischen Komplexität und der inner- und ausserschulischen Förderung. Schlussfolgerungen Die Sprachentwicklung monolingualer Kinder wird danach beurteilt, ob sie den Sprachgebrauch gemäss ihren Möglichkeiten auf unterschiedlichen Niveaus strukturieren können. Für mehrsprachige Kinder reicht dieser einsprachige Entwicklungsmassstab nicht aus. Sonst würden alle Abweichungen von einer einsprachigen Sprachentfaltung als Entwicklungsprobleme taxiert oder gar Entwicklungsgefährdungen ignoriert. Um eine adäquate Einschätzung der kindlichen Äusserungen vornehmen zu können, müssen sie auf allen linguistischen Ebenen im Rahmen der Phasen des Zweitspracherwerbs sowie unter Einbezug der vorhandenen Strategien und der aktuellen Kommunikationssituation eingestuft werden. Auch das Wissen über die Sprachbiographie, den familiären und kulturellen Hintergrund sowie das Freizeitverhalten sind unabdingbar für eine aussagekräftige Beurteilung. Sprachliche Auffälligkeiten werden dann für das Kind zum Problem, wenn es im selbstbestimmten Sprachgebrauch langfristig behindert wird. In diesem Fall ist professionelle Unterstützung angezeigt, damit das Kind persönliche Ziele mit sprachlichen Mitteln verwirklichen kann. Der Zweitspracherwerb kann problematisch verlaufen, wenn die Entwicklung der Erstsprache gestört ist. Eine negative Auswirkung auf die Sprachentwicklung oder gar auf die Identitätsentwicklung ist möglich, wenn Kinder Ablehnung erfahren, weil ihre Erstsprache mit wenig Prestige besetzt ist. Folgeerscheinungen können in schweren Fällen in einer Sprachverweigerung, seitens der Erst- oder Zweitsprache 28
5 gipfeln. Verschiedene Ursachen können in ungünstiger Konstellation zu doppelter Halbsprachigkeit (Semilingualismus) führen. Falls die Muttersprache mit hohem Ansehen beachtet wird, sind jedoch positive Beeinflussungen möglich. Weitere förderliche Faktoren für gelingenden Zweitspracherwerb sind eine harmonische Lebenssituation sowie eine offene Haltung der neuen Sprache gegenüber, als auch ein angemessenes Sprachangebot seitens der Bezugspersonen in der Muttersprache. Gute Beziehungen zu den Sprachvermittlern dienen ebenfalls dem Zweitspracherwerb. Zweisprachig zu sein bedeutet, für den eigenen Lebensweg breitere persönliche Orientierungen und vielfältigere berufliche Chancen mitbekommen zu haben. Erfolgreiches Sprachlernen hängt von der richtig dosierten Mischung von sprachlichen, kommunikativen, kognitiven, emotionalen und sozialen Faktoren ab. Quellenverzeichnis Kracht, A Mehrsprachigkeit und Sprachentwicklung. In: Logos Interdisziplinär Jg. 9 (4) Pelzer-Krapf, A Neurobiologische Grundlagen des Spracherwerbs unter speziellen Bedingungen. In: Bauer und Meixner (Hg.) Reich, H. und H.-J. Roth Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher. Hamburg: Behörde für Bildung und Sport. Kroffke, S., Rothweiler, R Sprachmodi im kindlichen Zweitspracherwerb. In: Die Sprachheilarbeit Jg. 49 (1) Wendlandt, W Was man über den Spracherwerb bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern wissen muss. In: Springer, L. und Schrey-Dern, D. (Hg.). Sprachstörungen im Kindesalter. Stuttgart: Georg Thieme Verlag Wirth, G Sprachstörungen, Sprechstörungen, Kindliche Hörstörungen. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag
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