Frühe Stresserfahrungen als Risikofaktor für körperliche und psychische Erkrankungen
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- Jens Weiss
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1 Frühe Stresserfahrungen als Risikofaktor für körperliche und psychische Erkrankungen Prof. Dr. med. Martin Sack Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München
2 Themenübersicht: Frühe Stresserfahrungen Trauma und Stress ein Kontinuum? Modelle zur Entstehung von Traumafolgestörungen Körperliche Erkrankungen als Traumafolge Epigenetik von frühen Stresserfahrungen Konsequenzen für die Therapie
3 Traumatische Erfahrungen im engeren Sinne Seelische Verletzung durch Extreme Stresserfahrung (Todesangst) Unmittelbare Folgen: Erinnerungsfragmentierung (peritraumatische Dissoziation) Intrusionen, Angst und Vermeidung, Hyperarousal Kompensatorische Reaktionen: Chronifizierte Vermeidungsangst
4 Erweiterung der Traumadefinition für Kinderheitstraumatisierungen Körperliche Gewalt Sexuelle Gewalt Emotionale Vernachlässigung Physische Vernachlässigung Psychische Gewalt (Entwerten, Beschimpfen, Demütigen)
5 Soziale Unterstützung ist die wichtigste Ressource nach Traumatisierungen Wenn ein Trauma nicht innerhalb von 4 bis 6 Monaten verarbeitet ist, war das Soziale Unterstützungssystem überfordert In dieser Zeit werden 85 bis 90 % aller Monotraumata verarbeitet und integriert
6 Dissoziation Dissoziation ist der Schlüssel zum Verständnis der spezifischen Traumafolgesymptomatik
7 Comparison of extreme groups: low vs. high dissociative reactions during trauma script and heart rate (HR) 110 HR (bpm) ± 1 SE Low dissociation (N = 16) High dissociation (N = 16) Begin trauma script End trauma script Time (s)
8 Folgen der Dissoziation während der Traumatisierung Kohärenzverlust und Fragmentierung der Erinnerung Amnesien (psychogene Amnesie) Erinnerungen können nur schwer verarbeitet werden Es fehlen Worte, um über die Erinnerung zu sprechen Symptome werden durch Auslösereize hervorgerufen Alles was an die Traumatisierung erinnern kann wird vermieden In der Folge schwerer Kindheitstraumatisierungen entwickelt sich häufig ein vermeidender dissoziativer Lebensstil im Sinne einer generalisierten Beziehungsstörung Zu sich selbst Zur Gegenwart Zu anderen Menschen
9 Spezifische und unspezifische (sekundäre) Traumafolgestörungen Spezifische Traumafolge- bzw. Belastungsstörungen: Akute posttraumatische Belastungsreaktion Anpassungsstörung Posttraumatische Belastungsstörung Komplexe Traumfolgestörungen einschl. Dissoziative Störungen (chronische Suizidalität außer bei schwerer depressiver Störung) Sekundäre Traumafolgestörungen (durch Traumatisierung potentiell ausgelöst) Somatoforme Störungen Depressive Störungen Angststörungen Essstörungen Zwangsstörungen Persönlichkeitsstörungen usw.
10 Aktueller Forschungsstand der Psychiatrie/Neurobiologie: Early life stress is the major cause of any psychiatric disorder
11 Belastende Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences) in einer Bevölkerungsstichprobe N = Prävalenz (%) Missbrauch Psychisch (durch Eltern) 11% Körperlich (durch Eltern) 11% Sexuell 22% Dysfunktionales Familienumfeld Substanzmißbrauch 26% Psychiatrische Erkrankungen 19% Gewalt gegen die Mutter 13% Haushaltsmitglied im Gefägnis 3% Felitti & Anda et al, J Am Prevent Med 2005
12 Bevölkerungsprävalenz von Kindheitsbelastungen Anzahl der Kindheitsbelastungen Anzahl Prävalenz 0 48% 1 25% 2 13% 3 7% 4 oder mehr 7% Mehr als die Hälfte aller Befragten gaben mindestens eine Kindheitsbelastung an Beim Vorliegen einer Kindheitsbelastung ergab sich eine 86% Wahrscheinlichkeit auf das Vorliegen weiterer Kindheitsbelastungen Felliti & Anda, 1998
13 Depressive Störungen und Kindheitsbelastungen Ist Depression eine normale Antwort auf abnormale Erfahrungen in der Kindheit? Anda & Felitti
14 Kindheitsbelastungen und Suizidversuche in der Anamnese Anda & Felitti
15 Dube JAMA 2001
16 Teicher & Samson 2013
17 Traumafolgen aus Betroffenensicht (Abschlussbericht Runder Tisch sexueller Missbrauch) Die Beschwerden halten sich nicht an die medizinische Klassifikation
18 Machen Traumatisierungen körperlich krank? Eine 32 jährige Patientin mit Diabetes mellitus, berichtet in der Visite, dass sie glaube, ihre Zuckerkrankheit sei durch Gewalterfahrungen in der Kindheit verursacht Ein 50 jähriger Patient mit progressiv verlaufender Multipler Sklerose ist davon überzeugt, dass seine Autoimmunerkrankung durch schwerste Vernachlässigung in der Kindheit ausgelöst ist Haben die Patienten möglicherweise recht?
19 Körperliche Erkrankungen in Abhängigkeit von der Anzahl traumatischer Kindheitsbelastungen 19
20 Kummulative Effekte von Kindheitsbeilastungen (4 oder mehr Kindheitsbelastungen) Im Vergleich mit Erwachsenen, die einen ACE score von 0 haben, finden sich erhöhte Wahrscheinlichkeiten für Koronare Herzerkrankung 220% Diabestes mellitus 160% Chronische Bronchitis oder Emphysem 390% Depressive Störung (im letzten Jahr) 460% Suizidversuch (anamnestisch) 1220% Niktotinabusus 220% Gebrauch illegaler Drogen (anamestisch) 470% Übermäßiger Alkoholkonsum 740% i.v.. Gebrauch illegaler Drogen 1030% Ein ACE score von 6 oder mehr reduziert die Lebenserwartung um ca. 20 Jahre! Anda & Felliti 2011
21 Kindheitstraumatisierungen und körperliche Gesundheit Prospektive Studie: Kinder geb in Helsinki 320 Kinder wurden im WW II von ihren Eltern durch Evakuation getrennt Mittleres Alter bei Trennung 4.8 Jahre Mittlere Dauer der Trennung 1.7 Jahre 60 Jahre später fand sich ein erhöhtes Risiko im Vergleich mit Kindern, die nicht evakuiert worden waren für: Herzerkrankungen und Bluthochdruck 200% Type 2 Diabetes 140% Depressive Symptome 170% Ann Med. 2009;41(1):66-72, Am J Epidemiol. 2007;166(10): , Am J Hum Biol 2008;20(3):345-51
22
23 Immunsystem und PTSD Boscarino, ANYAS 1032 (2004)
24 PTSD Symptomatik und Aktivierung des Immunsystems bei Unfallopfern von Känel, JPsychiatRes 41 (2007)
25 Erhöhte Sterblichkeit bei HIV-Infektion abhängig von psychischen Traumatisierungen Leserman, AmJPsychiatry 164 (2007)
26 Pathologische Veränderungen bei chronischem Stress Hyperaktivität der Amygdala Funktionsstörungen des präfrontalen Cortex Endokrine Dysregulation (HPA-Achse) Atrophie des Hippocampus
27 Reduziertes Hippocampal Volumen bei Pat. mit PTSD NORMAL PTSD Bremner et al., Am. J. Psychiatry 1995; 152: Bremner et al., Biol. Psychiatry 1997; 41: Gurvits et al., Biol Psychiatry 1996;40: Stein et al., Psychol Med 1997;27:
28 Pathologische Veränderungen bei chronischem Stress Hyperaktivität der Amygdala Funktionsstörungen des präfrontalen Cortex Endokrine Dysregulation (HPA-Achse) Atrophie des Hippocampus Entkalkung der Knochen und Übergewicht (M. Cushing) Autonom-vegetative Dysregulation Erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen Aktivierung und Dysregulation des Immunsystems
29 Erfahrungswert: veränderte Stressphysiologie bei Patienten mit komplexen Traumafolgestörungen Stressassoziierte Fieberzustände Akut auftretende heftige Infekte (z.b. Herpes zoster) Wechselnde starke Schmerzzustände Paradoxe Medikamentenwirkungen Verstärkte Nebenwirkungen von Medikamenten (z.b. Zytostatika)
30 Störungen des Körperbildes als Traumafolge Fernando Botero,
31 Korrelationen: Körperbildstörungen und Affektdifferenzierung bzw. Alter während Ersttraumatisierung Ablehnende Körperbewertung Korrelation nach Pearson Signifikanz (2-seitig) N Alter zum Zeitpunkt der Traumatisier ung
32 Geschätzte direkte Jährliche Kosten von kindlichem Missbrauch und Vernachlässigung in den USA Geschätzte Kosten (2007) Stationäre Behandlungen $ Ambulante Medizinische Versorgung $ Jugendfürsorge /Heimunterbringung $ Justiz $ Gesamte direkte Kosten $ Geschätzte indirekte Kosten für die Gesellschaft: $ Wang & Holton: Economic Impact Study 2007
33 Epigenetik von Traumafolgestörungen Epigenetik = Anpassung an die Umwelt mittels Aktivierung/Deaktivierung der Transkription von Genen
34 Epigenetik: Transgenerationale Weitergabe von Stressvulnerabilität
35 Emotionale Vernachlässigung (Kinderheim, Rumänien) korreliert mit einer Verkürzung der Telomere Drury 2012
36 Risikofaktoren und Umwelt: das Gehirn des Neurowissenschaftlers James Fallon Positronen-Emissions-Tomographie: Verminderte kortikale Aktivität, Muster typisch für fehlende emotionale Kontrolle und für Soziopathie Familienanamnese: Mehrere Familienangehörige der väterlichen Linie waren Gewaltverbrecher oder Mörder Genetisches Risiko: Monooxygenase A Gen Polymorphismus (Risiko für Agressivität, Gewalttätigkeit) Protektive Faktoren:
37 Epigenetische Veränderungen nach Psychotherapie Yehuda 2013
38 Hinweis auf Neuerscheinung März 2013: Sack M, Sachsse U, Schellong J: Komplexe Traumafolgestörungen Diagnostik und Behandlung der Folgen schwerer Gewalt und Vernachlässigung Schattauer-Verlag bereits erschienen: Sack, M: Schonende Traumatherapie Schattauer Verlag, 2010 Infos zu Weiterbildungen:
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