Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren.

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1 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--1 Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren. Balz Engler Volkshochschule Stäfa, 13. April 2016 ( verweist auf ein dazu gehöriges Bild) Dieses Jahr feiern wir Shakespeare. Am 23. April 1616, vor vierhundert Jahren starb er in Stratford. Am gleichen 23. April starb auch Cervantes deshalb wird dieser Tag heute als Tag des Buches gefeiert. Allerdings starb Shakespeare nicht am gleichen Tag, sondern 11 Tage später, weil Cervantes Tod nach dem gregorianischen, Shakespeares nach dem alten, julianischen registriert wurde. Zürich sah damals so aus. London war etwas grösser im Vordergrund die Theater, welche die Stücke aufführten. Vor zwei Jahren, 2014, wurde er auch schon gefeiert, da waren es 450 Jahre seit seiner Geburt, 1564, ebenfalls in Stratford. Als bedeutende Persönlichkeit empfiehlt es sich, mit 25 oder mit 75 Jahren zu sterben, nicht mit 52. Dann verteilen sich die Jubiläen besser. Jubiläen rufen in Erinnerung, was wir für wichtig halten sollen. Sie verwenden dazu einen Anlass, der für die Leistung der Gefeierten eigentlich nebensächlich ist. Braucht Shakespeare ein solches Jubiläum? Nein. Sein Werk lebt. Es lebt, vor allem in seinen ungefähr 37 Theaterstücken, aber auch in seinen Gedichten, hier vor allem in den Sonetten. * Wie lässt sich so etwas in einer knappen Stunde umreissen? Ich werde es mit Hilfe eines repräsentatives Beispiels versuchen. Nein, nicht Hamlet, sondern Romeo und Julia. Das Stück wurde zuerst wohl 1596 aufgeführt. Es ist damit eines der früheren Stücke, noch der manierierten poetischen Sprache der Zeit verhaftet. Es präsentiert, wie Sie wissen, eine relativ einfache, bewegende Geschichte: Zwischen zwei Familien herrscht tödlicher Streit, dessen Motive im Dunkeln bleiben. Kinder dieser Familien verlieben sich, aber gehen an diesem Streit zugrunde. Ihre ideale, grenzenlose Liebe aber führt zur Versöhnung zwischen den Familien. Shakespeare hat die Handlung nicht selbst erfunden, aber das hat er ja bei den wenigsten seiner Stücke. An diesem Stück lassen sich Dinge zeigen, die für Shakespeares Werk im allgemeinen Gültigkeit haben. Ich werde in drei Schritten vorgehen: Wie Shakespeare lebt Warum Shakespeare lebt

2 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--2 Wie es dazu gekommen ist Anschliessend beantworte ich gerne Fragen. * Wie Shakespeare lebt. Beispiele finden sich in den verschiedensten Bereichen: Im Theater, im Buch, in Oper und Musical, in Musik und Ballett, in der bildenden Kunst, im Film, in der Welt, in der Sprache. In erster Linie lebt Shakespeare natürlich im Theater. Seine Werke gehören zu denen, die am häufigsten aufgeführt werden. Das Theater hebt ein Werk in ganz besonderem Masse in die Gegenwart, in der Interpretation von Theaterleuten und in der Gegenwart der Gemeinschaft eines Publikums. Es ist damit besonders eng mit geltenden gesellschaftlichen Bedingungen verknüpft und wird deshalb auch oft verwendet, um gesellschaftliche Probleme zur Diskussion zu stellen. Um ein Beispiel zu nennen: Romeo und Julia ist oft an Orten aufgeführt worden, an denen soziale Konflikte schwelen und überwunden werden sollen. Beim Recherchieren bin auf mindestens ein Dutzend solcher Aufführungen gestossen, in Kanada, in den USA, in Bosnien, in Palästina, in Finnland, und für uns besonders interessant in der Schweiz. Manche dieser Inszenierungen waren sogar mehrsprachig. In Fribourg/Freiburg wurde 1989, in der Regie von Gian Gianotti, Romeo und Julia aufgeführt, in einer Inszenierung, in der die Capulets Französisch, die Montagues Deutsch sprachen und wo Romeo und Julia in ihren gemeinsamen Szenen die Sprachen mischten. Unter den Spielern und im Publikum begegneten sich die beiden Bevölkerungsgruppen. Im Buch: Bei Shakespeare hat lange auch die Lektüre seiner Stücke eine wichtige Rolle gespielt und es gibt heute wieder Forscher, die behaupten, Shakespeare habe auch für Leser geschrieben. Im neunzehnten Jahrhundert wurde Shakespeare von ernsthaft Interessierten vor allem gelesen, ja, es gab Kritiker, die überzeugt waren, Shakespeare werde durch die Aufführung auf der Bühne nur verfälscht. Das Innenleben der Figuren und die Poesie der Sprache könnten sich auf der Bühne nicht entfalten. Wichtigstes Beispiel dafür war Lear: Wenn auf der Heide auch in seinem Innern Stürme toben, sehe man auf der Bühne nur einen gebrechlichen alten Mann. Daneben aber dienten Shakespeares Stücke immer wieder als Grundlage für neue Versionen. In der Literatur hat es immer wieder Erzählungen und Gedichte gegeben, die sich mit dem Stoff von Shakespeares Dramen

3 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--3 befassen. Ich nenne bloss Marina Warners Indigo (1992), ein Roman, der die Geschichte des Sturms neu erzählt oder John Updikes Gertrude and Claudius (2000), welcher die Hamlet- Geschichte wiederaufnimmt. Für das Jubiläumsjahr 2016 sind Nacherzählungen von Shakespeares Stücken in Auftrag gegeben: Atwood, Margaret. Hag Seed. (Der Sturm) Tyler, Anne, Vinegar girl: The taming of the shrew retold. (Der Widerspenstigen Zähmung) Jacobson, Howard, Shylock is my name: The merchant of Venice retold. Deutsch: Shylock. Knaus. Winterson, Jeanette, The Gap of Time. (The Winter s Tale). Deutsch: Der weite Raum der Zeit. Knaus. Weitere Autorinnen: Gillian Flynn (Hamlet), Jo Nesbø (Macbeth), Edward St. Aubyn (King Lear), und Tracy Chevalier (Othello). Bei Romeo und Julia ist es nicht verwunderlich, dass diese Versionen ganz besonders in Erzählungen für junge Erwachsene auftreten (Maxwell; Cohen). Da gibt es ganz Verschiedenes: auch Romane, welche die Handlung in die Bronzezeit verlegen (Behn) oder unter Vampiren spielen lassen (Night). Ein naheliegendes wichtiges Beispiel für uns hier ist Gottfried Kellers Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe» (1856), eine der besten Novellen des neunzehnten Jahrhunderts. Die Handlung ist, wie Sie sich erinnern, in der Schweiz, im Zürcher Unterland angesiedelt. (Kellers Bürgerort Glattfelden). Die Handelnden sind nicht Bürger einer Stadt, sondern Bauern. Allerdings: Was immer wieder als Version von Shakespeares Romeo und Julia aufgeführt wird, ist eigentlich gar keine! Die Geschichte beruht auf einer Zeitungsnotiz, die Keller gefunden hatte, über ein Ereignis in Sachsen. Der Titel mit dem Bezug auf Shakespeare kam erst hinzu, als die Geschichte schon geschrieben war. Er ordnet sie in eine grosse literarische Tradition ein. In Oper und Musical : Dass sich der Stoff für die Oper eignet, leuchtet ein, mit diesen Protagonisten und den Familien, die sich als Chöre einsetzen lassen. Hier nur eine Liste von Benda bis Sutermeister: Georg Benda (1778), Romeo und Julie. Niccolò Antonio Zingarelli (1796), Giulietta e Romeo (basierend auf der Novella von da Porto). Nicola Vaccai (1825), Giulietta e Romeo Vincenzo Bellini, I Capuleti e i Montecchi (1830) beruhend auf italienischen Quellen. Charles Gounod, (1867), Roméo et Juliette

4 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--4 Filippo Marchetti (1865), Romeo e Giulietta Frederick Delius (Urauff. 1907), Romeo und Julia auf dem Dorfe beruhend auf Kellers Novelle. Heinrich Sutermeister (1940), Romeo und Julia. Ähnliches gilt für das Musical. Leonard Bernstein/Stephen Sondheim, West Side Story (1957), verfilmt Verlegt die Szene nach New York. Bandenkrieg rivalisierender ethnischer Jugendbanden ab: der USamerikanischen Jets und der puerto-ricanischen Sharks. Gérard Presgurvic, Roméo et Juliette, de la Haine à l Amour,(2001). Folgt dem Stück relativ eng. Ein Riesenerfolg, von Millionen auf der ganzen Welt gesehen. Auch Thuner Seespiele, Schweiz (2015). Es gab auch eine Aufführung in Budapest, in der die eine Familie rumänisch, die andere ungarisch sprach und sang. In Musik und Ballett Hector Berlioz (1839), Roméo et Juliette, Sinfonie Pjotr Ilyich Tchaikovsky (1870), Romeo und Julia ( Fantasy Overture ). Sergei Prokofiev (1935), Romeo und Julia. In der bildenden Kunst Shakespeares Stücke mit ihren starken Momenten sind sehr häufig illustriert worden. Henry Irving, der grosse englische Schauspieler war sogar der Meinung, Romeo und Julia sei im Grunde eine Abfolge von Bildern (Fowler). Hier nur drei englische Beispiele: Fredrick Leighton, The reconciliation of the Montagues and Capulets over the dead bodies of Romeo and Juliet 1854 Ford Madox Brown, Romeo and Juliet parting on the balcony in Act III (1870) Am ausserordentlichsten ist sicher Turners Juliet and her Nurse (1836) Turner verlegt Julias Balkon nach Venedig! Es geht offensichtlich um die romantischen Assoziationen Italiens, die sich in der Geschichte von Julia und in der Stadt Venedig gegenseitig verstärken. Im Film Im 20. Jahrhundert hat der Film mit seinen Möglichkeiten in vielem das Theater abgelöst, aber auch das Theater vom Hang zum Realismus befreit. Shakespeare-Stücke wurden immer wieder verfilmt. Ihre Dramaturgie, eine Abfolge von Episoden, hat ja geradezu etwas Filmisches an sich. Romeo und Julia wurde erstmals, noch stumm, 1900 verfilmt. Bis heute gibt es mehrere

5 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--5 hundert Produktionen in verschiedenen Sprachen. Hier nur ein paar wichtige. Einige haben sie vielleicht selbst gesehen. 1936: Romeo and Juliet, Regie:George Cukor. In den Hauptrollen Norma Shearer und Leslie Howard. Franco Zeffirelli, Romeo and Juliet (1968). Junge Hauptdarsteller. Baz Luhrmann, Romeo + Juliet (1996). Leonardo DiCaprio und Claire Danes in den Hauptrollen. Shakespeare in Love (1998). Sieben Oscars (darunter: Bester Film). Die Handlung von Romeo und Julia wird in Shakespeares Biographie verlegt. Hier möchte ich die Trailer zweier Filme einander gegenüberstellen, von 1936 und Die beiden Versionen zeigen, wie verschieden die Stile sein können, und wie flexibel sich Shakespeares Stück anpassen lässt. Der Trailer von 1936 zeigt, wie sich der Film noch stark auf das traditionelle Theater verlässt, vor allem aber auch, wie wichtig die Stars sind. Sollte eigentlich in Verona gefilmt werden aber es war dann doch Hollywood. Gewinnt mehrere Oscars. Kritisiert wegen des Alters der Hauptdarsteller. Norma Shearer als Julia (34-jährig), Leslie Howard als Romeo (43.jährig). Beachten Sie, wie die Balkon-Szene herausgehoben wird. Sechzig Jahre später, in Luhrmanns Film, wird die Szene in die Gegenwart, nach Kalifornien, verlegt, der Ort ist «Verona Beach». Gefilmt wurde in Mexiko. Erstaunlicherweise wird aber die Sprache Shakespeares gesprochen, was einen ironischen Kontrast zum action film bildet. In der Welt Bis jetzt haben wir uns im Bereich der Künste bewegt. Aber Shakespeare hat die Welt, in der wir leben, darüber hinaus beeinflusst. Es gibt Orte in der Welt, die wir heute seinetwegen anders sehen, ja die sogar anders heissen. Stratford Da ist zuerst einmal Stratford-upon-Avon, sein Geburtsort, der zu einem guten Teil von Shakespeare lebt. Dover Der Ort, wo der Kanaltunnel bei Dover an die Oberfläche tritt, heisst heute «Shakespeare Cliff», nach der Szene in König Lear, wo der blinde Gloster glaubt, sich über eine Klippe zu stürzen. Elsinore In Dänemark gilt die Festung Kronborg in Helsingör als «Hamlets Schloss», allein, weil Shakespeare anders, als er dies in den Quellen fand, die Handlung seines Stücks dorthin verlegte. Verona

6 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--6 Ganz besonders aber hat sich Romeo und Julia auf Verona ausgewirkt. Dort ist in einem Museum Julias Grab zu besichtigen. Es wurde bereits im 19. Jahrhundert von Charles Dickens besucht. Bezeichnenderweise keine Familiengruft wie im Stück. In der Nähe ist ein Briefkasten angebracht, in den man seine Wünsche an sie, als Quasi-Heilige hinterlegen kann. Nach dem Film von 1936 wurde im Stadtzentrum auf Initiative des städtischen Tourismus-Leiters auch Julias Haus eingerichtet. Ein Balkon wurde an das Haus angebaut. Heute ist das Haus neben dem römischen Theater die Hauptattraktion. Im Durchgang zum Hof verewigen sich Besucher, und hinterlassen auch dort Botschaften für Julia. Das sieht dann so aus. Im Souvenir-Laden lassen sich Andenken wie dieses erstehen. Beachten Sie, dass Julia an erster Stelle genannt wird. In der Sprache Spuren hat Shakespeare auch in der Sprache hinterlassen. Hier war vor allem Hamlet produktiv. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Ich wittre Morgenluft. Es ist etwas faul im Staate Dänemark. Sein oder nicht Sein, das ist hier die Frage. Der Rest ist Schweigen. In einem Projekt an der Basler Universität haben wir untersucht, welche Spuren Hamlet in der Sprache hinterlassen hat. Das Auto Ich kann es mir nicht verkneifen, noch ein letztes Beispiel, aus einem andern Bereich zu zeigen. Società Anonima Lombarda Fabbrica Automobili (ALFA) 1910 Nicola Romeo einer der Gründer. * Warum Shakespeare lebt Ich könnte noch lange so weiter berichten, wie Shakespeare lebt. Aber wir fragen uns natürlich auch, weshalb dies der Fall ist, warum er lebt. Das ist ja mein zweiter Punkt. Die Dramaturgie In erster Linie lebt Shakespeare natürlich wegen der Originalität und der Qualität seiner Werke. Das lässt sich benennen, aber nicht beschreiben. Seine Fähigkeit, elementare Leidenschaften und Machtkonflikte in eindrücklichen Szenen vorzustellen, seine Gabe, mit überraschenden Details neue Dimensionen zu eröffnen,

7 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--7 ist unübertroffen. Es gibt keine Theaterleute, die Shakespeare nicht voller Bewunderung, ja Ehrfurcht, begegnen: Von vielen möglichen Beispielen sei hier nur ein scheinbar nebensächliches genannt. In Julius Caesar (1.2) erfindet er das Detail, dass Caesar, dessen Selbstsicherheit gewaltig ist, auf dem linken Ohr taub ist. Die Offenheit der Dramaturgie Die Bewunderung hat ihre Gründe. Da ist vor allem die Dramaturgie : eine grosse Offenheit zeichnet sein Werk aus. Shakespeare lässt seine Stücke (mit einer möglichen Ausnahme) nicht in seiner Zeit und in seiner Welt spielent. Das lässt dem Theater viel Freiheit, ja zwingt es dazu, die Stücke in seiner eigenen Gegenwart zu verorten. Ein Beispiel liefert Romeo und Julia. Das Einzige, was wir über den Streit zwischen den Familien in diesem zeitlosen Verona erfahren, ist, es handle sich um einen alten Streit («an ancient grudge») handle. Inszenierungen können, ja müssen deshalb den Streit immer neu verorten wie es immer wieder geschehen ist. Diese Offenheit hat auch etwas mit der Zeit zu tun, in der Shakespeare arbeitete: eine Zeit des Übergangs zwischen Mittelalter und Neuzeit, die in den Händen eines Shakespeare das Beste beider Epochen zur Geltung bringt: mit einer Dramaturgie, die in vielem noch mittelalterlich ist und Geschichten wie in den Passionsspielen in Episodenform präsentieren kann, andererseits mit einem Interesse am Innenleben der Figuren, das sich mit der Reformation in Verbindung setzen lässt (mit Hamlet als dem bedeutendsten Beispiel) und in die Zukunft weist. Schliesslich, was besonders ist bei ihm: Als Autor bleibt er in seinen Stücken weitgehend sichtbar. An ihnen lassen sich seine Überzeugungen nicht ablesen. Das hat mit dazu geführt, dass Shakespeare für viele zu einem Rätsel geworden ist, und dass seine Stücke Dutzenden von Autoren (und auch einer Autorin) zugeschrieben worden sind. Wir wissen über Shakespeare nicht weniger als über andere Zeitgenossen. Der Punkt ist, dass wir mehr über ihn wissen wollen. Kann der Sohn eines Handschuhmachers fähig sein, solche Werke zu schaffen? War er Katholik oder Anglikaner, etc. Seine Präsenz in der Kultur Ich habe einmal den Klassiker als ein Werk definiert, welches das Buch verlassen hat. Und das ist, wie ich gezeigt habe, bei Shakespeare in hohem Masse geschehen. Solche Werke sind in den Kulturen nicht nur präsent, die sie als Klassiker für sich in Anspruch nehmen, sie dienen diesen geradezu zur Selbstdefinition. Sie tun es in verschiedenen Formen: Geschichten, die unser Leben ordnen Es werden Geschichten erzählt, die uns als repräsentativ für bestimmte Erfahrungsmuster gelten können:

8 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--8 Wie ein eifersüchtiger Liebhaber getäuscht und zum Mord getrieben werden kann, in Othello. Wie eine Frau, die sich nicht den Konventionen beugen will, mit allen Mitteln fügsam gemacht wird der Widerspenstigen Zähmung. Wie eine Liebe alle Widerstände überwindet, auch wenn sie im Tod endet Romeo und Julia Solche Geschichten sind zu Mythen geworden, die uns helfen, die Welt zu verstehen, und Ereignisse einzuordnen. Ein gutes Beispiel dafür, wie dies geschehen kann, bietet Kellers Novelle. Wie wir gesehen haben, kam bei ihr der Bezug zu Shakespeare erst spät hinzu. Aber es ist dieser Bezug, der bestimmt, wie wir jetzt die Geschichte lesen. Momente Dann gibt es signifikante Momente, in denen wir Situationen unseres Lebens wiederkennen. Es sind diese Momente, welche auch die Maler immer wieder angezogen haben. Da ist der stärkste Hamlet mit Yoricks Schädel, der die Nachdenklichkeit über den Tod ins Bild fasst. Wir bringen ihn mit der Rede Sein oder Nichtsein in Verbindung, obwohl diese ganz woanders im Stück steht. Da ist der Moment, in dem Zettel im Sommernachtstraum mit seinem Eselskopf von den Elfen umschwärmt wird, für den bezauberten Tölpel wie auf dem Bild von Füssli im Kunsthaus. Da ist die Balkon-Szene in Romeo und Julia--die Liebesszene schlechthin. Figuren Figuren, die auf ihre wesentlichen Züge reduziert worden sind, werden verwendet, um typische Verhaltensweisen zu charakterisieren. Heinrich V, der gute Heerführer. Er wird oft in Büchern zum Thema Shakespeare für Manager als Vorbild König Lear, der nicht loslassen kann Dann wieder Romeo, der in dieser Rolle als der Latin Lover erscheint. Romeo: OED A lover, a passionate admirer; a seducer, a habitual pursuer of women. Und Julia, die reine Liebende, die geradezu zur Heiligen stilisiert wird, wie wir gesehen haben.. Wendungen Schliesslich werden Sätze, Fügungen als Zitate verwendet, weil sie einen Sachverhalt prägnant oder witzig in Worte fassen. Oft verwenden wir sie auch, ohne uns bewusst zu sein, woher sie kommen sie sind zu Sprichwörtern geworden. Einige aus Hamlet habe ich bereits genannt.

9 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--9 Im deutschen Sprachbereich ist Romeo und Julia in dieser Beziehung nicht so fruchtbar gewesen wie andere Stücke, die ich genannt habe, vor allem Hamlet. Aber immerhin. What s in a name? A rose by any other name would smell as sweet Es war die Nachtigall und nicht die Lerche. Rückkehr zum Werk Wichtig ist nun, dass Shakespeares Werk eine doppelte Existenz hat: Einerseits die Präsenz in der Kultur, andererseits die Präsenz im Text, im Buch. Die beiden stehen oft in einem Spannungsverhältnis zueinander. Wenn wir zum Text zurückkehren, bekräftigt, korrigiert und bereichert dies das Werk und es gibt ihm neues Leben. Bei einer solchen Rückkehr zum Text stellen wir dann zum Beispiel erstaunt fest, dass im Text von Shakespeares Romeo und Julia ein Balkon nirgends vorkommt! In einer Shakespeare- Inszenierung erscheint ein Balkon erstmals bei Garrick Seitdem ist die Szene zur berühmtesten des Stücks geworden wie der Trailer zum Film von 1936 betont. In der gleichen Inszenierung führte Garrick auch ein, dass Romeo und Julia an ihrem Totenbett ein letztes herzzerreissendes Gespräch führen. Anders als in Shakespeares Text, wacht Julia auf, bevor das Gift, das Romeo genommen hat, zu wirken beginnt. Eine grosse Szene, die Füssli 1809 malte. Bis 1845 wurde das Stück immer so aufgeführt dies galt als Shakespeares Werk. Erst im späten 20. Jahrhundert sind einzelne Inszenierungen dann wieder auf Garrick zurückgekommen. Mit andern Worten, das Werk hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. * Wie es dazu gekommen ist Das bringt mich, nach dem Wie und dem Warum, zu meiner dritten Frage: Wie ist Shakespeare zu dem geworden, was er heute ist? Manchmal treibt mich der Gedanke um, auf einem Estrich, unter einer dicken Schicht Staub, liege ein Werk von Shakespearescher Grösse, das noch niemand gelesen hat. Und auch wenn jemand es beim Aufräumen fände und läse, so könnte er vielleicht seinen Wert nicht erkennen und würde es entsorgen. Mit andern Worten: Qualität ist nicht ausreichend. Sie muss auch erkannt werden und sie muss anerkannt werden. Shakespeare war nicht immer so berühmt wie heute. Von seinen Zeitgenossen wurde hochgeachtet, auch wegen seines Erfolgs beneidet, aber er war einer von mehreren Bühnenhandwerkern, nicht ein Genie, das alle überstrahlte.

10 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--10 Wie entsteht Berühmtheit? Wir können uns die allgemeine Frage stellen, wie Berühmtheit entsteht. Leute, die das erforscht haben (ja, es gibt ein Fach celebrity studies), sehen das folgendermassen: Will man berühmt werden, muss man zuerst eine allgemein anerkannte Norm auf spektakuläre Weise brechen und so die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wenn diese Aufmerksamkeit gegeben ist, können dann auch die wahren Qualitäten besser erkannt werden und, wenn alles gut geht, setzen sich durch. Aber werden wir konkret: Die Norm, die Shakespeare brach, war die der klassizistischen Poetik, die Dichtung nach Regeln wie die Einheit von Ort und Zeit definierte, und die auf dem Kontinent durch die kulturelle Dominanz Frankreichs Gültigkeit hatte. Shakespeare galt dieser Poetik als krude, als barbarisch. Der alte Voltaire etwa sprach Shakespeare das Genie eines betrunkenen Wilden zu, weil er sich um diese Regeln nicht kümmerte. Andern dagegen begannen ihn gerade deswegen als Genie zu verehren, als Inbegriff des schöpferischen Dichters. Die Rezeption im deutschen Sprachbereich Typisch dafür ist, wie der junge Goethe Jahre, bevor er in diesem Hause einkehrte in seiner «Rede zum Shakespeare- Tag» seine Erfahrung feiert. Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich auf zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborner, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu, unbekannt, und das ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen. Und was das Theater anbelangt: Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wieviel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wieviel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte ihre Türme zusammenzuschlagen. Die Rolle der Zürcher Andere bereiteten auf ruhigere Art Shakespeare den Boden. In Zürich schrieb Johann Jakob Bodmer über Milton und das Wunderbare in der Literatur. In seinem Umkreis lernte Johann Heinrich Füssli Shakespeare kennen und illustrieren. Wohl 1780

11 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--11 malte Füssli das Doppelporträt mit Bodmer (die Figur im Hintergrund ist nicht eindeutig identifiziert: Homer?) In Zürich erschien 1762 auch die erste bedeutende Übersetzung von Shakespeare, in Prosa, von Christoph Martin Wieland, noch unter dem Titel Romeo und Juliette wohl die Shakespeare- Übersetzung, die Goethe so beeindruckt hatte. * Schluss Der Status des Klassikers Die Ueberwindung der klassizistischen Poetik brachte den Beginn von Shakespeares Triumph als Genie. Seine Qualitäten wurden nicht nur anerkannt, sondern gefeiert. Man kann mit gutem Gewissen sagen, dass Shakespeare als romantischer Autor zum Klassiker wurde. So erwarb er den Ruf als «William, Stern der schönsten Höhe», wie Goethe (in «Zwischen beiden Welten») ihn nannte. Und so steht er auch heute noch am Himmel. Als Klassiker steht er über aller Kritik. Er ist das Gesetz. Nicht der Kritiker urteilt nun über den Autor, sondern der Autor über den Kritiker. Wer versucht, über den Shakespeare zu richten, richtet sich selbst. Überblicken wird das Phänomen Shakespeare, fragen wir uns nochmals, wie Shakespeare unsere Kultur vierhundert Jahre nach seinem Tod durchdrungen hat und in ihr lebt, weshalb er eine so bedeutende Rolle in ihr spielt und wie es dazu gekommen ist, so lässt sich das vielleicht am besten in den Worten des amerikanischen Kritikers Harold Bloom zusammenfassen. Und mit diesem Zitat möchte ich schliessen. In seinem Buch Shakespeare and the Invention of the Human (deutsch unter dem Titel Shakespeare. Die Erfindung des Menschlichen) schreibt er: Shakespeare will go on explaining us, in part because he invented us. (Bloom xvii) Shakespeare wird fortfahren, uns zu erklären, zum Teil, weil er uns erfunden hat. Verweise Behn, Harry. The Faraway Lurs. Cleveland, New York: World Publishing Co, Print. Bloom, Harold. Shakespeare: The Invention of the Human. London: Fourth Estate, Print. Cohen, Paula M. Beatrice Bunson's guide to Romeo and Juliet: A novel. First Paul Dry Books edition. Philadelphia: Paul Dry Books, Print.

12 Balz Engler, Shakespeare lebt. Er starb vor 400 Jahren (MANUSKRIPT)--12 Fowler, James. Picturing 'Romeo and Juliet'. Shakespeare Survey (1996). Print. Maxwell, Robin. O, Juliet. New York: New American Library, Print. Night, H. T. Romeo & Juliet: A vampire and werewolf love story. [S.l.]: CreateSpace Independent Publishing Platform, Print.