Einführung in die politische Theorie und Ideengeschichte. Vorlesung IX: Politischer Liberalismus, Gleichheit
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1 Einführung in die politische Theorie und Ideengeschichte Vorlesung IX: Politischer Liberalismus, Gleichheit Prof. Dr. Peter Niesen Wintersemester
2 Heute: a) Die Methode des Politischen Liberalismus b) Grundbegriff III: Gleichheit Achtung: Vorlesung kommende Woche ( ): bis h, ohne Diskussion
3 Wie demokratisch ist Rawls Liberalismus? Gar nicht; es gibt keine interne Beziehung zwischen Liberalismus und Demokratie. Ein wenig, denn zu den Grundfreiheiten gehört auch das Wahlrecht. Sehr, denn unter dem ersten Gerechtigkeitsgrundsatz ist auch der gleiche Wert der politischen Freiheit geschützt
4 Rawls Liberalismus und Demokratie Vorrang der Grundfreiheiten, darunter politische Freiheit Fairer, d.i. gleicher Wert der politischen Freiheit Begründung des Liberalismus Kontraktualismus, Politischer Liberalismus: demokratiefreundliche Methode
5 Methodenfragen in Rawls Kontraktualismus Beide Hauptwerke verwenden das Darstellungsmittel Urzustand. Die richtigen ( gerechten ) Prinzipien sozialer Ordnung sind die, auf die sich Personen als Freie und Gleiche unter bestimmten Verfahrensbedingungen einigen würden Eine Theorie der Gerechtigkeit(dt. 1975): Schicksalsegalitaristische Lesart möglich Politischer Liberalismus (dt. 1998) reagiert auf die bestehende politische Beziehung
6 Eine Theorie der Gerechtigkeit(dt. 1975): Schicksalsegalitarismus (luckegalitarianism) als mögliche Interpretation? Moralisch irrelevante Faktoren dürfen nicht zur Ungleichbehandlung führen. Personen dürfen wegen Umständen, die sie nicht zu verantworten haben, nicht ungleich behandelt werden. Rawls: Für Folgen moralisch willkürlicher Unterschiede schuldet man Personen mindestens eine Rechtfertigung. -> abgeschwächter Schicksalsegalitarismus -> strikt universalistische Auslegung (globaler Urzustand) erscheint möglich
7 Politischer Liberalismus(dt. 1998) als Methodenrevision Kernproblem der Politischen Theorie (vgl. Vorlesung I): Die politische Beziehung ist eine unfreiwillige und zwingende Beziehung, die normalerweise auf lange Sicht besteht und die Lebenschancen aller prägt. In der Demokratie ist die politische Beziehung dadurch gekennzeichnet, dass wir über einander Zwang ausüben. Moderne liberaldemokratische Gesellschaften sind durch einen permanenten Pluralismus gekennzeichnet, d.h. dass über das, was im Leben wichtig ist, vernünftige Meinungsverschiedenheiten verbleiben werden
8 Übergreifender Konsens (overlapping consensus) Eine öffentliche Gerechtigkeitskonzeption und die Prinzipien einer demokratischen Verfassung sollen auf der Basis einer Vielzahl von Weltanschauungen ( umfassender Lehren ) akzeptiert werden können. Differenzen sollen im öffentlichen Gebrauch der Vernunft bearbeitet werden, der auf den Appell an partikulare ( sektiererische ) Lebensideale verzichtet
9 Zusammenfassung: Der Geltungsbereich von Rawls Theorie (1998) geschlossene, d.i. innerstaatliche Gesellschaft: Gerechtigkeit als Eigenschaft einer Grundstruktur für eine demokratische Gesellschaft : 1. zu realisieren mittels der Institutionen einer demokratischen Gesellschaft: Verfassung, parlamentarische Gesetzgebung, Verfassungsgerichtsbarkeit 2. gültig für eine demokratische Gesellschaft: die fundamentalen Ideen werden der gemeinsamen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft entnommen -> Zwei Fragen: was gilt für nicht-demokratische geschlossene Gesellschaften? Was gilt für die Weltgesellschaft?
10 Grundbegriff III: Gleichheit 1. Gleichheitsverständnisse der Französischen Revolutionsverfassungen (1791/93) 2. Heutige Diskussion 3. Chancengleichheit 4. (Faire Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit)
11 Französische Verfassung v. 1791, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: Art. 1: Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein
12 Französische Verfassung v. 1791, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte: Art. 6: Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Formung mitzuwirken. Es soll für alle gleich sein, mag es beschützen, mag es bestrafen. Da alle Bürger in seinen Augen gleich sind, sind sie gleicherweise zu allen Würden, Stellungen und Beamtungennach ihrer Fähigkeit zugelassen ohne einen anderen Unterschied als den ihrer Tugenden und ihrer Talente
13 Französische Verfassung v. 1791: was ist im Gleichheitsverständnis nicht enthalten? Gleichheit vor dem Gesetz Allgemeinheit des Gesetzes: Gleichheit im Gesetz Gleichheit in der Beteiligung an der Gesetzgebung Chancengleichheit Materielle Ungleichheiten sind inakzeptabel, wenn sie unverschuldet sind
14 Französische Verfassung v. 1793, Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte Art. 21 Die öffentliche Unterstützung ist eine heilige Schuld. Die Gesellschaft schuldet ihren unglücklichen Mitbürgern den Unterhalt, indem sie ihnen entweder Arbeit verschafft oder denen, die außerstande sind, zu arbeiten, die Mittel für ihr Dasein sichert. Art. 22 Der Unterricht ist für alle ein Bedürfnis. Die Gesellschaft soll mit aller Macht die Fortschritte der öffentlichen Aufklärung fördern und den Unterricht allen Bürgern zugänglich machen
15 Französische Verfassung v. 1793, Gleichheitsverständnis Gleichheit - vor dem Gesetz, im Gesetz - aber auch durch dasgesetz: gleicher Anspruch auf staatliche Leistungen (Recht auf Unterstützung und Bildung) erwächst aus gleicher Bedürftigkeit und soll zu sozial egalitären Positionen führen (Statusgleichheit, nicht vollständige materielle Gleichheit)
16 Heutige Diskussion: luckegalitarianism(zufalls-oder Schicksalsegalitarismus) Moralisch irrelevante Faktoren dürfen nicht zur Ungleichbehandlung führen. Personen dürfen wegen Umständen, die sie nicht zu verantworten haben, nicht ungleich behandelt werden
17 T. M. Scanlon: Humanitäre vs. egalitäre Gründe Beispiele: 1. Lebenserwartung Deutschland(74,3) Malawi(37,1) 2. Schulausbildung: wohlhabende vs. Arme Bezirke innerhalb und über Staatsgrenzen(Massachussetts/Mississippi) hinweg 3. Gehälter für Arbeiterinnen vs. Managerinnen 1:37-> 1:1000 (Scanlon 2005)
18 Welcher Differenz liegt ein Gleichheitsproblem zugrunde? 1. Lebenserwartung Deutschland(74,3) Malawi(37,1) 2. Schulausbildung: wohlhabende vs. Arme Bezirke innerhalb und über Staatsgrenzen(Massachussetts/Mississippi) hinweg 3. Gehälter für Arbeiterinnen vs. Managerinnen 1:37-> 1:
19 Woran erkennt man egalitäre Gründe? Humanitäre Gründe vs. Egalitäre Gründe an absolutem Ausmaß interessiert ausmaßunspezifisch, vergleichend
20 Woran erkennt man egalitäre Gründe (2)? Test: wie wird das Herunternivellieren des höheren Lebensstandards bewertet? (Levelling down) A) B) 74,2 37,1 37,1 37,
21 Chancengleichheit bei Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit a) Jede Person hat ein Anrecht auf ein angemessenes System von Grundfreiheiten (natürlich gleiche Freiheiten). b) Gesellschaftliche Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen genügen: b1) sie dürfen nicht verhindern, dass Ämter und Positionen allen Individuen offenstehen (faire Chancengleichheit), b2) sie müssen sich zum Vorteil der am Schlechtesten Gestellten auswirken (Differenzprinzip)
22 Was ist Chancengleichheit? a) Statistische Gleichwahrscheinlichkeit Gesellschaftliche Ungleichheiten dürfen nicht verhindern, dass Ämter und Positionen allen Individuen offenstehen -> Lotterie der Studienplätze, Arbeitsplätze, politischen Führungspositionen?
23 b) Chancengleichheit nach Rawls Vorteilhafte gesellschaftliche Positionen sollten auf der Basis von Talenten und Fleiß erreicht werden können. Gleiche Achtung und Berücksichtigung kann hier heißen a) Die bestqualifizierten Kandidaten sollen berücksichtigt werden. oder: b) Gleich Talentierte und Motivierte sollten gleiche Lebenschancen haben
24 Chancengleichheit (2) a) formale Chancengleichheit (Nichtdiskriminierung), b) faire Chancengleichheit (strebt Gleichheit der Startbedingungen an), c) kompensatorische Chancengleichheit (strebt Ausgleich für natürliche Benachteiligungen an)
25 Angenommen, Sie setzen sich für eine Quotenregelung für eine bestimmten Bereich ein: Welches Verständnis von Chancengleichheit legen Sie Ihrem Argument zugrunde? a) formale Chancengleichheit, b) faire Chancengleichheit, c) kompensatorische Chancengleichheit
26 Probleme mit Chancengleichheit als Bildungsgerechtigkeit Talent ist kein Verdienst -> aus zufallsegalitaristischer Perspektive irrelevant für die Besetzung begehrter Positionen nur der Auswahlcharakter des Bildungssystems wird berücksichtigt Unterstützung für Benachteiligte soll zur Konkurrenzfähigkeit beitragen, hat aber keinen intrinsischen Wert
27 Alternative: Bildung und Qualifikationen als Grundgüter Hinzufügung zu Freiheit, Chancen, Wohlstand, Grundlagen der Selbstachtung Verteilung im Urzustand nach dem Gleichheits-oder nach dem Differenzprinzip?
28 Probleme mit Bildungsgleichheit als Bildungsgerechtigkeit Gesellschaftliche Funktionalität levellingdown-argument: auch sehr niedriger Standard für alle muss in Kauf genommen werden, wenn er dazu dient, Gleichheit materialer Bildungsausstattung zu realisieren Verbesserung der Position der am schlechtesten Ausgebildeten bei gleichzeitigem Aufgehen der Schere ist unzulässig
29 Verteilung von Bildungsgütern nach dem Differenzprinzip materielle Voraussetzungen: bereits bei Rawls vorgesehen ungeklärtes Verhältnis zu Chancengleichheit -> lexikalische Priorität fairer Chancengleichheit gegenüber der Verteilung von Bildungsgütern nach dem Differenzprinzip erscheint unhaltbar
30 Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Thomas Scanlon, *
31 Literatur Arneson, Richard, Stichwort Egalitarianism, Stanford Encyclopedia, online. Niesen, Peter, Die politische Theorie des Politischen Liberalismus. In A. Brodocz, G.S. Schaal (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart II, Opladen 2006, Ozouf, Mona, Gleichheit, in dies./f. Furet(Hg.), Kritisches Wörterbuch der Französischen Revolution, Frankfurt/M. 1996, Bd. II, 1136ff. Scanlon, Thomas, Warum ist Gleichheit wichtig? Berlin Abb. Scanlon aus the-utopian.org
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