Kleenextuch. Bei näherer Betrachtung sah das Gesicht des Säuglings wie eine runzelige Backpflaume aus. Während ich meine Aufmerksamkeit dem Umschlag

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2 Kleenextuch. Bei näherer Betrachtung sah das Gesicht des Säuglings wie eine runzelige Backpflaume aus. Während ich meine Aufmerksamkeit dem Umschlag zuwandte insbesondere dem Poststempel: Winchester, Massachusetts, spulte sich in meinem Kopf ein imaginäres Adreßregister ab. Ich kannte keine Menschenseele in Winchester. Ich schob das Foto unter eine Ecke der Schreibunterlage und wandte mich den Rechnungen zu. Die Telefonrechnung prüfe ich immer mit Argusaugen, seit Roz, meine Mieterin, Putzfrau und Gelegenheitsassistentin vom zweiten Stock, eine nächtliche Vision hatte und auf meine Kosten einen schwatzhaften tibetischen Mönch angerufen hat. Genau eine Woche später traf das zweite Foto ein. Der gleiche hellblaue Umschlag.

3 Kein Absender, Poststempel: Winchester. Ich bin keine Säuglingsexpertin und will auch keine werden, aber ich schätzte dieses Kleinkind auf etwa ein Jahr. Helles Haar, helle Haut, und vom Wind und vor Aufregung hatte sie knallrote Kreise auf den Wangen. Ich sage «sie», weil das Baby ein gekräuseltes rosa Kleidchen anhatte und winzige schwarze Lackschühchen, die so glänzten, als hätten sie noch nie den Erdboden berührt. Anlaß konnte die Feier des ersten Geburtstags gewesen sein, obwohl kein Kuchen zu sehen war. Es war im Grunde überhaupt nichts da, nur grünes Gras und ein paar Bäume. Ich suchte das Foto von der vorigen Woche hervor und holte mein unentbehrliches Vergrößerungsglas. Es konnte sich um dasselbe Kind handeln, nur ein Jahr älter. Es konnte aber auch ein ganz anderes Kind sein. Ich war nicht in der Stimmung für

4 irgendwelche Spielchen und überlegte, ob ich die Fotos wegwerfen sollte, zusammen mit T. C.s Sharper-Image-Katalog und der Einladung an ihn, sich durch eine MasterCard der Citibank einen 6000-Dollar-Kreditrahmen zu verschaffen. Aber ich tat s nicht. Das dritte Foto kam am 3. April an, pünktlich eine Woche später. Ich hatte es schon fast erwartet. Das kleine Mädchen trug rosa Latzhosen und dazu ein passendes rosa und weiß gestreiftes Hemd. Dasselbe Mädchen wie auf dem zweiten Foto, das konnte ich jetzt sehen. Sie hatte sich zwar verändert, war vielleicht ein Jahr älter geworden, aber die Augen hatten die gleiche Form und der Mund die gleiche Linie. Auch die Informationen waren gleich geblieben, nämlich null. Ich kramte mein Gedächtnis nach vermißt gemeldeten Kindern

5 durch und fragte mich, ob ich das Mädchen schon einmal auf der Rückseite eines Milchkartons gesehen hatte. Aber nur sekundenlang. Dann schob ich alle drei Fotos unter die Schreibunterlage. Ich habe kein gutes Gefühl dabei, Fotos wegzuwerfen. Ich bewahre sie auf, genauso, wie ich Reste im Kühlschrank aufhebe. Das vierte Foto war genau am 10. April da. Mein Korrespondent aus Winchester hatte die Beförderungszeiten der amerikanischen Post erheblich besser im Griff als ich. Wenn ich etwas in den Briefkasten werfe, kommt es manchmal schon am nächsten Tag an. Aber es passiert auch, daß ich einen Brief in denselben Postkasten stecke und er eine ganze Woche braucht, um am gleichen Zielort einzutreffen. Nummer fünf war eindeutig ein Geburtstagsfoto. Ein spitzer Hut saß schief

6 auf dem Kopf des Mädchens, von einem Gummiband unter dem Kinn gehalten. Ob ich nun wohl mein Leben lang jeden Freitag ein neues Bild von diesem Kind bekommen würde? Es war ein absolut herzgewinnendes kleines Mädchen. Nicht wegen des Gesichtchens; am Gesicht lag es überhaupt nicht. Die Augen standen zu dicht zusammen, die Nase war zu klein und formlos. Vielmehr war es dieses Lächeln, ein schelmisches Aufleuchten der Augen, das die Polkappen zum Schmelzen bringen konnte. Vielleicht schickte sie mir jemand, der mich immer gegen Ende der Woche aufheitern wollte. Wahrscheinlich nicht. Ich legte die Fotos nach ihrem Ankunftsdatum nebeneinander auf dem Schreibtisch aus. Sah sie mir alle durchs Vergrößerungsglas an. Sann über die