Mehr als eine Selbsthilfegruppe Predigt zu Lukas 6, 39 am 28. Juni 2015 in Wädenswil
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- Manfred Ferdinand Vogel
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1 ~ 1 ~ Mehr als eine Selbsthilfegruppe Predigt zu Lukas 6, 39 am 28. Juni 2015 in Wädenswil Kanzellesung Lukas 6, 39: Er (Jesus) gab ihnen auch ein Gleichnis: Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen? Liebe Gemeinde Ich sah einmal in einem Supermarkt ein merkwürdiges Paar: Er saß im Rollstuhl, sie schob ihn zwischen den Regalen hindurch. Er sagte: Noch ein bisschen weiter hier ist es jetzt komme ich ran. Und nahm eine Tüte Mehl aus dem Sortiment. Da begriff ich. Nicht nur er war eingeschränkt und konnte nicht gehen; sie war ausserdem blind. Niemand von den beiden hätte alleine Einkaufen gehen können, aber gemeinsam war es möglich. Wenn sich die Blinden und die Lahmen zusammentun, können sie genauso viel wie die anderen. Was bei unserem Beispiel so offensichtlich ist, gilt freilich auch für alle anderen Menschen; auch für diejenigen, die nicht so offensichtlich eingeschränkt sind wie Körperbehinderte oder Blinde. Schon der Prediger Kohelet im Alten Testament formulierte einst: Zwei haben es besser als einer allein, denn sie haben einen guten Lohn für ihre Mühe. Wenn sie fallen, kann der eine seinem Gefährten aufhelfen. Doch wehe dem, der allein ist und fällt, und keiner ist da, der ihm aufhelfen kann. Auch ist zweien warm, wenn sie sich schlafen legen. Doch einer allein, wie kann ihm warm werden? Und wenn einer den überwältigt, der allein ist, so halten die zwei jenem stand. Und der dreifache Faden zerreisst nicht so bald. (Kohelet 4, 9 12) Viele Menschen haben mit dieser alten Lebensweisheit gute Erfahrungen gemacht. Und gegen allen Anschein und manche Klage kann man sogar feststellen, dass immer mehr Menschen diesem guten Rat folgen. Denn noch nie
2 ~ 2 ~ haben so viele Paare so viele Jahre zusammengelebt wie heute. Wir feiern heute eine silberne Hochzeit 25 Jahre Ehe. Aber es gibt auch immer mehr goldene, diamantene oder sogenannte Gnadenhochzeiten also bis zum 70. Hochzeitstag. Und auch das Bedürfnis nach anderen dauerhaften Lebensgemeinschaften wächst. Ja, es ist so: Kein Mensch ist eine Insel. Anders als Raubkatzen oder Dinosaurier sind wir Menschen gesellige Wesen, die seit Urzeiten schon wissen: Nur gemeinsam können wir überleben. Das gilt auch noch im Zeitalter von Single- Haushalten, Online-Shopping und Beziehungen per Skype denn in der Einsamkeit verkümmern wir Menschen auch seelisch. Martin Luther King hat einmal formuliert: Wenn wir nicht lernen, als Menschen miteinander zu leben, werden wir als Narren miteinander untergehen. Segensreich ist dabei die Tatsache, dass wir unterschiedlich und vielfältig sind, dass wir verschiedene Begabungen, Stärken und Schwächen haben. Dadurch ergänzen wir uns gegenseitig und können unsere Fähigkeiten potenzieren. Und obwohl wir körperlich eigentlich recht kümmerlich ausgestattet sind, wurden wir Menschen so zur den Globus beherrschenden Art mit allen Vor- und Nachteilen. Auch Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther sieht die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Menschen als etwas Gutes und Verheißungsvolles an besonders in der christlichen Kirche. Wir haben vorhin diesen bildhaften Text gehört: Wir sind viele Glieder an einem Leib mit verschiedenen Begabungen und Aufgaben. Jede Person ist auf ihre Art wichtig. So können wir uns gegenseitig auferbauen und stärken. Wir können einer des anderen Last tragen. Leidet nun ein Glied, so leiden alle Glieder mit, und wird ein Glied gewürdigt, so freuen sich alle Glieder mit. (1. Kor, 12, 26). Das ist gut so. Und doch würde uns das noch kaum von irgendeinem anderen Verein unterscheiden sei es eine Selbsthilfegruppe, eine Interessengemeinschaft, ein
3 ~ 3 ~ Sportverein oder ein guter Freundeskreis. Auch dort geschieht oft viel Gutes, ergänzt man sich gegenseitig, steht einander bei, lacht und weint man manchmal miteinander und teilt die verschiedenen Gaben. Was eine christliche Gemeinde ausmacht, das ist vielleicht nicht nur aber doch wesentlich ein gemeinsames Bewusstsein, wir können auch sagen: ein gemeinsamer Geist. Wir sind uns nämlich bewusst, dass wir alle in einer bestimmten Hinsicht eingeschränkt, begrenzt sind. Und weil wir in dieser Beziehung alle gleich sind, können wir das auch nicht gegenseitig kompensieren und ausgleichen. Was meine ich? Ich meine das Bewusstsein davon, dass wir alle blind sind für die Wirklichkeit Gottes. Wir können Gott nicht sehen. Wir können ihn nicht nachweisen oder beweisen. Das gilt zunächst mal für alle Menschen. Aber die Menschen erklären das auf verschiedene Weise: Viele sagen: Wir können Gott nicht sehen und nachweisen, weil es ihn nicht gibt. Wir aber sagen: Wir können Gott nicht sehen und nachweisen, weil wir blind sind für seine Wirklichkeit. Das ist der Unterschied. Es liegt nicht an Gott, sondern an unserer Begrenztheit. Damit sind wir bei dem kleinen Gleichnis, das Lukas von Jesus überliefert hat eigentlich nur eine rhetorische Frage: Kann etwa ein Blinder einen Blinden führen? Werden sie nicht beide in die Grube fallen? Man stelle sich die paradoxe Situation vor: Ein Blinder sucht Hilfe, um seinen Weg zu finden. Ein anderer biete seine Hilfe an. Der Blinde reicht ihm voll Vertrauen die Hand und lässt sich führen. Dann aber stellt sich heraus, dass der Blindenführer auch blind ist. Er findet den Weg ebenfalls nicht. Und schließlich landen beide in der Grube. Beide waren sehr unterschiedlich, besonders im Blick auf die Selbsteinschätzung ihrer eigenen Hilfsbedürftigkeit. Aber diese Unterschiedlichkeit hat nicht zu gegenseitiger Ergänzung geführt, sondern in die gemeinsame Katastrophe. Und es gibt eine Vielzahl von Gruben, in die wir heute fallen, weil Menschen auf blinde Blindenführer vertrauen sie können persönlicher Art sein, aber zum
4 ~ 4 ~ Beispiel auch globaler Art: Klimakatastrophe, Hungerkatastrophe, Terror und Krieg. Wer weiß, dass er blind ist, wird sich nicht dem ersten besten anvertrauen, sondern jemandem, der wirklich vertrauenswürdig ist. Das bleibt ein Risiko. Das bleibt ein Risiko auch in der christlichen Kirche, denn auch sie wurde immer wieder missbraucht von selbsternannten Blindenführern. Aber wer weiß, dass er blind ist, entwickelt in der Regel ein besonders gutes Gehör. Und im Bezug darauf ist auch die Sache mit Gott eine andere. Wir können Gottes Wirklichkeit nicht sehen, aber wir können auf sein Wort hören. Als Gemeinschaft von Blinden, die sich ihrer Blindheit bewusst sind, entwickeln wir ein Gespür für seine Stimme in dieser Welt. Die leitet uns. Und sein Wort können wir uns gegenseitig sagen. Wir können die Bibel immer wieder in unsere Zeit übersetzen. Und auch wenn längst nicht alles klar und eindeutig ist wenn das Klargewordene gelebt würde, änderte sich schon vieles in der Welt. Ich möchte noch einmal mein Beispiel vom Anfang aufgreifen. Es mag etwas merkwürdig klingen, aber ich meine, dass wir uns vergleichen können mit jenem Ehepaar im Supermarkt: er im Rollstuhl und sie schiebt ihn. Man meint erst, sie würde ihn führen, aber in Wirklichkeit wird sie von seiner Stimme geführt anderenfalls würde sie umherirren und mit dem Rollstuhl die Regale umstoßen. So verwechseln auch wir oft unsere Rolle sei es im Umgang miteinander, besonders aber im Blick auf Gott. Wir sind Angewiesene auf die anderen und gemeinsam auf Gott. Wir brauchen Leitung. Wir sind die Blinden und Jesus sitzt im Rollstuhl. Hören wir, wohin er uns leitet und halten wir uns dabei an ihm mit beiden Händen fest. Amen.
5 ~ 5 ~
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