Meine sehr geehrten Damen und Herren,
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- Angela Kirchner
- vor 6 Jahren
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1 "Dem Räuber Hotzenplotz unter den Hut geschaut" Vortrag zu psychologischen Hintergründen guter Kinderliteratur StadtGalerie Neuwied, gehalten am 31. August 2017 Maggy Ziegler Meine sehr geehrten Damen und Herren, da hat einer, der mit 19 Jahren 1942 in den 2. Weltkrieg zieht, diesen Krieg überlebt, verdammt knapp überlebt. Russische Kriegsgefangenschaft hat er überlebt, Typhus, Malaria, Fleckfieber. Und dann fängt er an darüber zu schreiben, darüber nachzudenken, welche Faszination die Macht für ihn hatte, Otfried Preußler beginnt den "Krabat" zu schreiben: Zitat: "der Krabat ist meine Geschichte, die Geschichte meiner Generation und die aller jungen Leute, die mit der Macht und ihren Verlockungen in Berührung kommen und sich darin verstricken." Welche Aktualität! War es das Entsetzen über die eigene Begeisterung, war es das "sich vor Augen führen", wohin es führt, wenn die Macht lockt? Nicht alle hatten nach dem Krieg den Mut, sich mit dem Erlebten auseinander zu setzen. Für mich ist es kein Wunder, dass sich die intellektuelle Auseinandersetzung mit dieser Zeit und dem Erlebten im Körperlichen -als Krankheit- manifestiert. Otfried Preußler wird auf einem Auge blind. Wie unendlich schwer muss es gewesen sein, so genau hinzuschauen. Der Krabat ist kein Kinderbuch, das obige Zitat macht das deutlich. Aber Preußler therapiert sich selbst, er lässt den Krabat liegen (vielleicht sollte ich besser sagen: reifen) und schreibt 1962 den ersten Hotzenplotz, eine Kasperlegeschichte, die er - Zitat - nur aus Spaß geschrieben hat. Das Kasperletheater, eine Kasperlegeschichte, ist ein dem Märchen vergleichbarer Mikrokosmos. Wie das Märchen hat es Figuren, die ein Prinzip verkörpern: Vaterfiguren: König, Wachtmeister. Mutterfiguren: Großmutter, alte weise Frau Protagonisten/Helden: Kasperle und Seppel: engagiert, und ideenreich, moralisch okay, ohne Zeigefinger Das Böse Hotzenplotz, Petrosilius Zwackelmann Das Gute, die Helfer: Fee Amaryllis Der Hotzenplotz ist somit eben auch gleichzeitig ein Märchen, das sich wie jede Erlösungs- und Problemlösungsgeschichte an einer Girlande von 7 Punkten entlang entwickelt: 1. Da ist zunächst die Mangelsituation: der Großmutter wird die Kaffeemühle gestohlen 2. Eine Trennung wird notwendig: Kasperle und Seppel machen sich auf den Weg, die Mangelsituation zu beseitigen, das lässt sich nicht von "zu Hause" aus regeln. (Die Mangelsituationen dieser Welt verlangen von so vielen Menschen die Trennungen, auch die Mangelsituationen - Perspektivlosigkeiten heutiger junger Menschen schreien nach der Trennung, nach dem "sich auf den Weg machen" das Hotel Mama muss man _Mann_ hinter sich lassen. Trennung in Flucht vor Elend, aber auch Trennung für das Übernehmen von Verantwortung für sich selbst.) 3. Die Wanderung. Die Helden suchen, sie müssen weite oder kurze Wege gehen. Unsere Helden im Hotzenplotz -Kasperle und Seppel- trennen sich leichtfertiger Weise auf Ihrem Weg und kommen dadurch in Gefahr. 4. Dadurch entsteht der Kampf. Der Held ringt mit dem Bösen, er findet Helfer, aber die muss er oft erst befreien, oder zumindest genau ihren Rat befolgen Die Fee Amaryllis ist so ein klassischer Märchenhelfer, verwandelt in eine Unke, das Geschöpf der guten Mutter Erde, das im Wasser lebt, sie weiß Rat, sich selbst und dem Helden zu helfen. In dieser zentralen Vortrag Hotzenplotz Seite 1
2 Phase der Geschichte kommt auch häufig viel Magie ins Spiel, sowohl im Bösen (Petrosilius Zwackelmann) als auch im Guten. 5. Der Rückweg. Hier wird vieles in Ordnung gebracht, der Kampf ist gewonnen, Zwackelmanns Reich zerstört. Der Räuber wurde zum Piepmatz im Käfig und ein Hilfsmittel für die Zukunft von der Fee übergeben: Der Wunschring. 6. Ankunft. Die Helden kommen da an, wo sie bei ihrem Aufbruch hinwollten. Sie bringen der Polizei den Verbrecher und die Kaffeemühle (in verbesserter Ausgabe) kann zurückgegeben werden. Im Märchen kommen die Protagonisten auch manchmal nicht direkt am Ausgangspunkt wieder an, sondern eher da, wo sie eigentlich hin sollten, die Rückwege sind nicht immer identisch mit der Wanderung, was Start und Ziel angeht Wesentlich ist aber eine "Ankunft", als Ziel des gereiften Helden. 7. Der siebente Punkt ist manchmal nur ein Satz: Wir nennen ihn die Hoch-Zeit. Im Hotzenplotz ist es ein Fest wie Geburtstag und Weihnachten an einem Tag, es gibt Pflaumenkuchen mit Schlagsahne statt erst am Sonntag schon am Mittwoch, quasi "bis zum "Abwinken". Wie das Märchen, so muss auch das Kasperletheater immer wieder erleben, dass es zielorientiert verwendet wird. Das ging in Sachen Theater u.a. im 1. Weltkrieg so weit, dass es als Front-Theater eingesetzt wurde. Heutzutage produzierte eine Stephanie zu Guttenberg: Die Märchenapotheke. Hier werden Grimmsche Märchen als Rezeptbuch für unartige Kinder verkauft. Im Vorwort wird klar zielorientiert der Wunsch genannt, man möge das Buch präventiv einsetzen, und es offenbart ein Blick ins Inhaltsverzeichnis, um was es der Herausgeberin und den Autoren zu gehen scheint: Kinder belehren, die nicht so sind, wie die Eltern sie haben wollen, und die bitteschön doch ihr Verhalten ändern sollen. Kapitelüberschriften wie Unser Kind ist phlegmatisch und ein Angsthase, Unser Kind ist zu ehrgeizig und kann nicht abschalten, Unsere Kinder streiten zu viel miteinander reichen aus, um diese Tendenz - das Märchen vor einen Karren zu spannen- deutlich zu machen. (Sabine Lutkat) Eine solche Verwendung vorzugeben, wird weder dem Märchen, noch dem Hotzenplotz, oder dem Kasperletheater gerecht. Die Geschichte ist es, die ihre Wirkung entfalten muss, ohne Vorgabe, denn jeder reagiert anders auf die Bilder in einer Geschichte. Und nur gute Geschichten überleben die Zeiten. Wenn Geschichten, Märchen, Kindertheater mit dem erhobenen Zeigefinger geschrieben werden, dann gehen sie unter. Ich habe so manches Buch gelesen, z.b. einen Flohmarktfund mit neuen deutschen Märchen, die heute niemand mehr kennt und niemand mehr liest, und die triefen nur so von braven Kindern und hehren moralischen Zielen. Diese Bücher überleben nicht, aber der Hotzenplotz hat überlebt und viele Märchen, die eben einfach gute Geschichten sind. Es ist das Genie und die Begabung Otfried Preußlers, dass seine Bücher genau diese moraltriefende Zweckentfremdung auf faszinierende Weise vermeiden. Er erzählt eine Geschichte, nicht mehr, aber auch nicht weniger! Astrid Lindgren beschreibt in ihrer Autobiographie: "Das entschwundene Land" ein fiktives Zwiegespräch mit einem Kinderbuchautor. Sie sagt: "Wie muss ein gutes Kinderbuch sein? Falls du mich fragst, so könnte ich Dir nach reiflicher Überlegung nur antworten: Es muss gut sein!...keine andere Antwort: gut muss es sein und dafür gibt es kein Rezept, dafür braucht es Begabung!" Von Maxim Gorki stammt der Satz: "Für Kinder sollte man schreiben, wie für Erwachsene - nur besser!" Beide Aussagen zeigen in meinen Augen deutlich: Es geht darum, dass der Autor seine kleinen und/oder großen Leser ernst nimmt, es geht nicht darum, seine persönlichen Witzigkeiten unters Volk zu bringen, sondern etwas zu schreiben, was nur durch die beschriebene Handlung den Leser Vortrag Hotzenplotz Seite 2
3 verführt, die Geschichte zu Ende zu lesen. Es geht nicht um Befindlichkeiten, die der Autor VORGIBT und ÜBERSTÜLPT. Es geht darum, dass jedwede Botschaft in der Geschichte steckt und so unbewusst miterlebt wird. Es geht nicht darum, dem Kind zu sagen: "Weißt Du, wenn Du mir jetzt fein hilfst, dann hast Du am Ende 5 Mark verdient." Kasperle und Seppel helfen, den Räuber zu fangen, weil Großmutter um ein Geschenk trauert, das ihr lieb und teuer ist. Der Leser erfährt, dass Kasperle und Seppel helfen wollen. - nicht das die beiden zum Helfen aufgefordert werden! Oder die schöne Aufforderung: Lass doch mal deine Phantasie spielen! - nein: Der Kasperle setzt sich einfach hin und denkt anderthalb Tage nach, wie er helfen könnte. Er lässt nicht nach und er nimmt sich die Zeit dazu. (bis Sonntagmittag, siehe Seite 18 Mitte) so steht es lakonisch in der Geschichte. Dazu eine kurze eigene Erfahrung: Ich erzähle zur Weihnachtszeit in einer Kaufhausgalerie, vor mir sitzt ein kleines Mädchen mit roten Wangen und riesigen Kulleraugen. Die Geschichte ist fast zu Ende (ich erzähle da immer nur kurze) als die Mutter aus dem Drogeriemarkt kommt, weder ihr Kind, noch mich anschaut, sonders ihr Kind einfach an die Hand nimmt, "Komm, wir müssen gehen!" Dieser Schock brachte Tränen, denn die Geschichte war noch nicht zu Ende! Glauben sie mir, diese Mutter wird sich in wenigen Jahren an anderer Stelle darüber beschweren, dass ihr Kind so sprunghaft in seinem Tun ist, und nichts wirklich zu Ende bringt.. Hätte sie ihren Hotzenplotz aufmerksam gelesen, so hätte sie gelernt, dass man erst zu Ende denken muss und dass erst alles erledigt ist, wenn die richtige Idee da ist, wenn sie ausgeführt wurde, oder eben: die Geschichte zu Ende erzählt worden ist. Dafür ist es aber hilfreich, wenn eine Geschichte so spannend und unterhaltsam ist, dass auch die Erwachsenen gerne zuhören oder sie lesen. Mein Ausbilder, Dr. Heinrich Dickerhoff, von der Europäischen Märchengesellschaft hat mir den wichtigen Satz mitgegeben: Wir Erzähler haben KEIN Recht unsere Zuhörer zu langweilen! Wenn ich den Froschkönig erzähle, dann muss er so erzählt sein, dass jeder Erwachsene im Raum fasziniert zuhört! Der Räuber Hotzenplotz ist definitiv ein perfektes Bespiel dafür, wie wichtig es ist, dass wir aufhören zu trennen: Das ist für Kinder - das ist für Erwachsene. So oft es nur möglich ist, sollten wir den Kindern erklären, was wir als Erwachsene tun und warum - und wir sollten unseren Kindern zuhören, was sie an Ideen haben, wir sollten sie ernst nehmen. Denn sie sind die, die unsere Welt regieren werden, wenn wir alt und hilfsbedürftig sind! Im Hotzenplotz steckt sehr vieles, was wir uns mit unseren Kindern als Erfahrungen im gemeinsamen Lesen einsammeln können. Es sind Dinge, die heute genauso aktuell (vielleicht noch aktueller) sind wie vor über 50 Jahren. Gute Märchen reden in Geschichten über existenzielle Fragen des Menschseins und auch diese guten Hotzenplotz-Geschichten tun nichts anderes. Ich möchte vier solche Aspekte etwas näher betrachten: Die beliebte Schwarz-Weiß-Malerei Du bist böse - ich bin gut, ach, wenn es doch so einfach wäre! Der Hotzenplotz hat wie Kasperletheater klassische Archetypen: GUT ORDNUNG, MACHT BÖSE, Das GUTE ehrlich, moralisch, anständig, hilfsbereit, human ORDNUNG, Gerechtigkeit Das BÖSE, ungerecht, ignorant, verachtend Preußler gelingt es, seine Figuren aus diesen Schemata zu lösen, aber nicht in dem er sie abstreift, sondern indem er die anderen Komponenten einbaut! Vortrag Hotzenplotz Seite 3
4 Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ich NICHT MEHR BÖSE bin, oder ob ich begreife, dass ich SOWOHL böse als AUCH gut bin. Natürlich ist der Räuber Hotzenplotz der Böse, aber wenn wir auf Seite 23 und 27 einmal nachlesen, so sind Preußlers Beschreibungen eher so, wie man einen ehrbaren Arbeiter bei seinem Handwerk beschreibt, er macht seinen Job und er ist bestrebt, ihn gut zu machen. (Drei Zitate, einschließlich Seite 30) Ein anderes Beispiel für die Auflösung der Schwarz-Weiß-Sicht ist die Angelegenheit mit Frau Schlotterbeck im 2. Band. So mancher Krimi der heutigen Zeit hat nicht mehr den perfekten James- Bond-Ermittler, die "verkrachten Typen" werden inzwischen mehr in Szene gesetzt. Teilweise gibt es auch die Tendenz, dass ein Dorfpolizist als komische Type, als jemand, den man am besten "verarscht", gesehen wird. Weder das James-Bond-Bild, noch die Verachtung, die in der Verarschung steckt sind hilfreich, gut, nützlich - wie auch immer. Die Polizei ist nicht allwissend, aber Herr Dimpfelmoser wird auch nicht als "Doofkopp" dargestellt, Er erkennt seine Grenzen und holt sich die passende Hilfe, aber in diesem Fall nicht bei (WEISS) Amaryllis der schönen und guten Zauberin, sondern bei der (quasi schwarz und weiß karierten) Zigarren-rauchenden, wabbelig-fetten, Lockenwickler-verzierten, als Hexe ziemlich unfähigen Hellseherin Schlotterbeck. Zitat Seite 201 und 203. Frau Schlotterbeck ist nun wahrlich keine polizeilich akzeptierte Autorität und doch bittet der biedere Oberwachtmeister Dimpfelmoser sie um Hilfe. Hier passt weder die Polizei noch die Hellseherin korrekt in das Schwarz-Weiß-Schema und das ist gut so, denn: Es sind nicht immer die eingefahrenen Gleise, die uns ans Ziel bringen. Aber das schreibt Otfried Preußler nicht expressis verbis, die Geschichte nimmt einfach nur genauso ihren Fortgang und transportiert so die Erkenntnis. Der 2. Aspekt: Von der Nützlichkeit des Scheitern Es ist immer ärgerlich, manchmal gefährlich und häufig ungeheuer unpraktisch zeitraubend: Wenn etwas schief geht! Auch ich kann mich nicht davon frei machen, dass ich -gerade als junge Mutter - mir viel zu selten die Zeit genommen habe, mein Kind scheitern zu lassen. Hierzu ein Beispiel: Im 2. Band gibt es eine Stelle, an der Räuber Hotzenplotz die Großmutter entführt, um an viel Geld zu kommen. (Zitat Seite 179 fff) Er schafft die Großmutter (ganz im Stile des Kasperle Theaters) mit dem Fahrrad weg. Zunächst gelingt es Hotzenplotz der Großmutter vor zu täuschen, er sei der Polizist. Dann kommt die fürsorgliche Schutzbehauptung: Augen schließen wegen Rollsplit. So radelt der Räuber aus der Stadt, ohne dass sie es merkt und dann ist es ihm schließlich egal: Hotzenplotz gibt sich zu erkennen. Großmutter - auf dem Fahrradsattel - will sich wehren, greift zur Luftpumpe, die 1962 bestimmt noch nicht aus leichtem Plastik war, und schlägt Hotzenplotz auf den Kopf. Auf diesem sitzt aber der Polizei-Helm und somit ist diese Attacke völlig überflüssig. Das aufmerksam zuhörende Kind steht unter Spannung: Entführung! Und dann kommt plötzlich die Erkenntnis: "Mensch das ist doch blöd, so kann das doch nichts werden! Ich hät das ganz anders gemacht!" Der kindliche Kopf beginnt zu arbeiten, weil die Luftpumpe eben nicht zum Ziel geführt hat. Die häufigen unbedachten Hauruck-Aktionen, die ganz in Stil des Kasperle-Theaters bleiben, bringen teils zum Lachen, teils machen sie es besonders einfach, auch für ein Kind eine bessere Lösung zu finden (und schenken dem Kind die Erfahrung: "Ich bin klüger"), und nicht zuletzt zeigen sie uns auch ganz nebenbei, dass es hilfreich ist, erst nachdenken - dann handeln. Das offensichtliche Scheitern der Großmutter stößt die Gedanken an und das Kind wird selbst kreativ. Vortrag Hotzenplotz Seite 4
5 Diesen Trick wendet Preußler auch bei der Sache mit der Goldkiste im 1. Band an. (Zitat, Seite 33 ff) Kasperle und Seppel trennen sich, jeder verfolgt eine der Sandspuren und sie werden, da sie alleine sind, geschnappt. Ein kleiner Junge hat mir dazu einmal gesagt: "Die wären besser zusammen zuerst den einen und dann den anderen Weg gegangen!" Na also, da hat doch einer etwas kapiert! Im 3. Band, in dem der Räuber KEIN Räuber mehr sein will, wird das Scheitern von Preußler auf die Spitze getrieben, denn es geht nicht von jetzt auf gleich, dass aus Böse Gut wird, das ist immer ein reichlich holpriger Weg. Es ist gut, dass die Geschichte/die Geschichten gut ausgehen, aber vor allem ist es gut, dass der Weg mit viel "Scheitern" gepflastert ist, denn jedes Scheitern ist die Chance, es besser zu machen. Wenn wir nun - in dem wir selbst die Dinge für das Kind regeln - das Scheitern auf Teufel komm raus vermeidendann hindern wir das Kind, seine Erfahrungen zu machen. Wir hindern es daran, den inneren Lernprozess in Gang zu bringen Wir scheuchen es auf die Schnelle durch das Geschehen hindurch, ohne dass es üben kann, wie man mit Risiko und Gefahr umgeht. Deshalb müssen die Märchenhelden auch so oft ihre Problemlösung 3x angehen. Ich weiß, dass das seine Grenzen hat. Ich kann das Kind nicht unters Auto rennen lassen, damit es Erfahrungen macht und begreift, dass man nicht einfach auf die Straße laufen darf, aber gerade darum ist das Scheitern und das Versagen in einer "GESCHICHTE" so wichtig, weil hier der Denkprozess ohne Risiko angestoßen werden kann. Und wenn das Kind darüber lachen muss "wie man so blöd sein kann" UND erklärt: "ich hab da ne viieeel bessere Idee!", dann bleibt die Sache noch besser hängen! Der 3. Aspekt: Mobbing oder Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Der 3. Band greift ein Thema auf, mit dem wir heutzutage in einer Weise konfrontiert werden, wie es sich Otfried Preußler 1973 wahrhaftig wohl nicht vorstellen konnte. Aber wie gesagt, alle Märchen greifen Themen auf, die Ur-Themen der Menschheit sind, ganz gleich wie sie sich durch die Zeiten hin darstellen. Kinder machen Fehler, Kinder lügen aus Angst, Kinder lügen um besser dazustehen, Kinder lügen, um ihren Eltern nicht weh zu tun, um ihr eigenes Versagen zu vertuschen. Wir, die Älteren, weisen den Kindern nach, dass sie gelogen haben - es nicht die Wahrheit war, und wenn wir nicht irgendwann anfangen, uns in einer Diskussion auf Augenhöhe und mit liebendem Herzen mit den Kindern über diese Lügen und Vertuschungen auszutauschen, dann entsteht in uns Eltern ein immer größer werdendes Misstrauen. Es ist unendlich schwer, aus diesem Tunnel des Misstrauens wieder heraus zu kommen, denn wer einmal lügt, dem glaubt man nicht Wer einmal Räuber war, der bleibt Räuber Wer einmal durchs Styling-Raster, Fußball-Schuh-Raster, Tattoo-Raster oder durch welches Raster auch immer, gefallen ist, der ist nur doof. Es ist unser gegenseitiges Schubladendenken, das menschliche - kindliche Entwicklung blockiert. Der 3. Band, kommt so daher: nur einfach eine kleine Kasperle-Theater-Geschichte von der gestohlenen Kugel, aber man könnte es auch die Geschichte einer GELUNGENEN Resozialisierung nennen. Zitat Seite 315: Was braucht es denn, um aus der Mobbing-Falle heraus zu kommen? Das Zitat zeigt klar auf: Freunde, die einem vertrauen! Ein Psychologe/-in ist heute oft nötig, um den Kindern zu helfen wieder Vertrauen zu fassen, zu sich zunächst einmal vor allem und dann vielleicht auch irgendwann zu anderen. Vortrag Hotzenplotz Seite 5
6 Das wichtigste aber sind Freunde und/oder eine Familie, die sich einsetzen, um die Fakten evident - sichtbar zu machen. Deswegen klären K. und S. den Diebstahl notwendiger weise auf. Aber die Geschichte zeigt auch: es geht nicht von jetzt auf gleich. Hotzenplotz resigniert und beschließt die Trennung: Auswandern nach Amerika. Klischeehaft anmutend, aber eine Trennung ist oft die einzige Möglichkeit für einen Neuanfang ohne direkte Altlasten, an einer anderen Schule, in einer anderen Stadt. Hotzenplotz hat scheinbar keine Perspektive, weil er seine Stärken nicht kennt. Was aber sind seine Stärken, wenn er jetzt nicht mehr raubt? Otfried Preußler hat ja den Wunsch seiner Leser, doch noch mal einen Band vom Hotzenplotz zu schreiben, immer erst wieder nach einigen Jahren erfüllt. Die drei Bände sind nicht im Konzept gemeinsam entstanden. Trotzdem wird die Entwicklung und Ausrichtung von Hotzenplotz sehr schlüssig dadurch, dass Preußler ja auch schon im 1. und 2. Band den Räuber als Selbstversorger gezeichnet hat. (siehe sein Baum mit den Lebensmitteln) Hotzenplotz hat weder die Chance auf Hartz IV, noch ist es für ihn eine diskutierbare Alternative. Er will sich selbst versorgen, er weiß, dass er kein Räuber mehr sein will, er weiß aber auch, dass das zwingend erfordert, dass er entscheidet, WAS er sein will. Hotzenplotz liebt deftige Küche und weiß auch genau, wie man sie zubereitet, siehe die köstliche Schwammerlsuppe mit Speck und Zwiebeln. Die Lösung, die Entscheidung für den neuen Beruf ist das Wirtshaus im Wald. Denn von gutem Essen versteht er was, auch wenn er nicht sonderlich gut in Rechtschreibung ist. Auch die Tatsache, dass Hotzenplotz sein Leben als Räuber durchaus gewissenhaft gestaltet hat, zeigt, dass zielorientiertes Handeln durchaus auch zu seinen Stärken gehört! Zitat Seite 23. Und zielorientiertes Handeln ist eines der erfolgreichsten Management-Konzepte unserer Zeit. Der 4. und letzte Aspekt: Die Strafe folget auf dem Fuss! Ich weiß, ich packe hier ein ganz heißes Eisen an! Das Märchen, die Kasperlegeschichte und damit auch der Hotzenplotz gehen "GUT" aus. Was aber heißt das konkret und inhaltlich für uns? Der Räuber wird gefangengenommen, die Dinge, die gestohlen wurden, werden zurückgegeben, die Bösen werden vernichtet: Zitat Seite 102: Ein grässlicher letzter Schrei! Das Böse in Gestalt des Zauberers Petrosilius Zwackelmann stürzt in den Unkenpfuhl und ertrinkt. Das Gute, die Fee Amaryllis, legt das Zauberschloss des großen und bösen Zauberers in Schutt und Asche. Und somit haben wir wieder die alte Diskussion um "Das Böse" in den Geschichten, um die "grausamen" Märchen. Die böse Königin: Ihr aber wurden glühende, eiserne Schuhe angezogen und sie musste darin tanzen und tanzen, bis sie sich totgetanzt hatte. Ja, natürlich, das ist nicht lustig, aber war es lustig, dass die gleiche Frau drei Anschläge auf das Leben Schneewittchens ausgeübt hat mit dem Ziel das Kind zu töten, zu töten aus Eifersucht???? In den alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat, da gab es ein Gefühl für Gerechtigkeit, das wir heute als grausam bezeichnen. Wir sind heute um ein vielfaches kultivierter---- aber? Ist die Menge der Straftaten dadurch geringer geworden, dass der Randalierer wieder heim geschickt wird und nach einem Jahr eine Bewährungsstrafe bekommt, weil niemand mehr so gut wie nichts erinnern und beweisen kann???? Wir schreien heute nach Sicherheit, wir haben Angst, mein Sohn hat mir berichtet, dass vor dem Männeken Piss in Brüssel bald mehr Soldaten mit Maschinengewehren stehen als Touristen. War das das Ziel? Vortrag Hotzenplotz Seite 6
7 Sind nur die anderen zu unkultiviert für uns? Wir haben uns von der Prügelstrafe befreit, wir haben die Gesetzbücher Jahr um Jahr aufgestockt, aber haben wir dadurch den Menschen geschaffen, der in sich ein natürliches, tief verwurzeltes Gefühl für humane Gerechtigkeit trägt??? Ist es nicht vielmehr so, dass nicht selten über unsere Gesetze, über unsere Justiz geschimpft wird, oder noch gefährlicher, über sie gelacht wird???? Ich bin nicht dafür, die Prügelstrafe wieder einzuführen, ich habe leider auch keine Patentlösung für dieses Dilemma in der Tasche, aber: Der Hotzenplotz ist eine Geschichte, in der die konsequente Kausalität von Fehler und "Strafe" für unachtsames, moralisch schlechtes Verhalten noch gewahrt ist: Wenn Du alleine durch den Wald gehst, und dich von deinem Begleiter trennst, kannst du einer möglichen Gefahr nicht die Stirne bieten, du bist ihr hilflos ausgeliefert! Wenn Du eine Kaffeemühle klaust und Menschen bedrohst, kommst Du in den Knast und zwar stehenden Fußes! Wenn nicht wenigstens in unseren Geschichten, in den Geschichten unserer Kinder diese Verknüpfung von Risiko und Kampf, von Untat und Sühne und von Befreiung von dem Bedrohlichen erhalten bleibt, wo um alles in der Welt, soll sich da noch ein Gefühl für Gerechtigkeit im Denken entwickeln können????? Es geht nicht darum, das Böse vor Kindern zu vertuschen, das ist in unserer Medien-gesteuerten Welt völlig unmöglich geworden. Es geht darum, mit unseren Kindern über Konzepte gegen das Böse nachzudenken. Mit ihnen in der geschützten Atmosphäre einer Geschichte eines Buches, zusammengekuschelt im Lieblingssofa, das Entsetzen auszuhalten und zu überwinden, so wie der Märchenheld, so wie Kasperle und Seppel, die an Ende den nicht enden wollenden Pflaumenkuchen genießen. Mit Kindern zu lesen bedeutet, dass es uns das wert ist, dass wir zumindest versuchen, eine tiefe Sehnsucht in unseren Kindern zu verankern: es muss auch einmal gerecht und gut ausgehen im Leben, ich meine, wünsche und hoffe, diese Sehnsucht darf nicht einfach verkümmern. Ich möchte diesen Vortrag mit einen Zitat von Otfried Preußler schließen: Ein Buch über eine heile Welt? Sicher nicht, aber ein Buch in der Hoffnung geschrieben, dass diese Welt heilbar ist. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf die Gesamtausgabe Otfried Preußler, "Alles vom Räuber Hotzenplotz", dtv junior, Ausgabe von 1988 Bad Hönningen, den 1. September Maggy Ziegler - Vortrag Hotzenplotz Seite 7
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