Der Sandmann und der Freudsche Verleser. Über das Verhältnis der Erzählerfiguren zur erzählten Geschichte
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- Hansl Michel
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1 Universität Leipzig Leipzig, Institut für Germanistik HS: E.T.A. Hoffmann Prof. Dr. Ludwig Stockinger Arbeitsblatt: Daniel Börner Der Sandmann und der Freudsche Verleser. Über das Verhältnis der Erzählerfiguren zur erzählten Geschichte 1. Die Unvereinbarkeit rationaler und romantischer Kontemplation Der eigentlichen Erzählung im Sandmann ist ein fiktiver Briefwechsel Nathanaels mit Lothar vorangestellt, in diesen durch eine Unachtsamkeit Nathanaels auch seine Verlobte, Clara, miteinbezogen wird. Im Verlauf des Briefwechsels erfährt der Leser von Nathanaels traumatischen Kindheitserfahrungen und von Nathanaels Begegnung mit einem zunächst nicht näher beschriebenen Wetterglashändler, der die bereits überwunden geglaubten, zumindest aber verdrängten Erlebnisse Nathanael wieder ins Bewusstsein ruft und dessen Gemütszustand nachhaltig beeinflusst. Bereits im Briefwechsel werden die Geschehnisse diametral entgegengesetzt bewertet und es werden dabei zwei Standpunkte evoziert, die für das weitere Erzählverhalten konstitutiv sind, bezeichnen sie doch das Spannungsverhältnis an und in diesem Nathanael schließlich zugrunde geht. Die Briefe, die in direkter Leseransprache vom Erzähler im Anschluss an den Briefwechsel eher beiläufig als Umriss (S. 19 Seitenzahlen beziehen sich auf die in der Literatur ausgewiesene Sandmannausgabe) und narrativer Kunstgriff vorgestellt werden, seien nach Günter Saße vielmehr als Exposition der entscheidenden Problemlage zu verstehen, nämlich im Sinne von Nathanaels Kindheitserlebnissen als Ursache für seine psychische Erkrankung sowie im Weiteren, als daraus resultierende Andeutung von Nathanaels Kommunikationsstörung zur Umwelt. 1 Denn während Nathanael, der im Wetterglashändler Coppola den Wiedergänger des Advokaten Coppelius vermutet, den er für den Tod des Vaters verantwortlich macht und mit dem er überdies die ebenso verhasste wie gefürchtete Sandmannfigur assoziiert, dunkle Ahnungen eines grässlich mir drohenden Geschicks (S. 3), also ein unausweichliches feindliches Schicksal herannahen sieht, vertritt Clara die Position, dass [ ] alles Entsetzliche und Schreckliche, wovon du sprichst, nur in deinem Inneren vorging, die wahre wirkliche Außenwelt aber daran wohl wenig teilhatte. (S. 13) 1 Vgl. Saße, Günter: Der Sandmann. Kommunikative Isolation und narzisstische Selbstverfallenheit. In: E.T.A. Hoffmann, Romane und Erzählungen. Hg. von Günter Saße. Stuttgart 2004, S , S
2 Tatsächlich wird durch das Verfahren des multiperspektivischen Erzählens im weiteren Textverlauf eine eindeutige Interpretation der Handlung erschwert, da die Geschehnisse sowohl aus der mythologisierenden, subjektiven Sicht Nathanaels, als auch aus Claras bzw. Lothars rationaler, bestenfalls intersubjektiver aber keineswegs objektiver, Perspektive gedeutet werden können. Dabei würde nach Jochen Schmidt Claras Perspektive vom Erzähler aber keineswegs als einseitig verstandesgemäß und realitätsfixiert kritisiert und Nathanaels romantische Empfindung verklärt. 2 Negativen Zuschreibungen Claras wie kalt, gefühllos, prosaisch (S. 21) entgegne der Erzähler bereits präventiv, indem er Clara poetische, nämlich gemütvolle, verständige und kindliche (Ebd.) Qualitäten zuspreche. 3 Der frühromantische Dualismus Kunst und Philistertum/ bürgerliche Welt ist im Sandmann wesentlich differenzierter konzipiert und Hoffmann spart beiderseitig nicht mit Ironie und kritischer Hinterfragung. Auch fehlt es nicht an Versuchen die beiden Welten miteinander in Einklang zu bringen. Doch über die jeweiligen Überzeugungsversuche entfernen sich die Verlobten voneinander (S. 23), die Hilfestellungen und Andeutungen von Nathanaels Freund Sigmund fruchten nur wenig (S. 34) und auch Nathanaels kurzzeitige Versuche ein geordnetes Leben zu führen sowie seine Rekonvaleszensen wirken angesichts der unterschwelligen Assoziationen und Zwänge, denen er zunehmend ausgesetzt ist, lediglich retardierend, so dass konstatiert werden muss, dass den beiden Sphären eine Versöhnung miteinander verwehrt bleibt. 2. Nathanael und die Krise der romantischen Subjektivität Bei der Untersuchung des Verhältnis der Erzählerfiguren zur erzählten Geschichte lohnt es im Besonderen, den Antagonismus von Phantasie und Wirklichkeit, der Nathanael schließlich in die Schizophrenie treibt, genauer herauszuarbeiten, da gerade in der wechselnd auktorial und personalen Schilderung von Nathanaels Sicht eine Überwindung frühromantischer Positionen verzeichnet werden kann. Grundlegend bemerkt Saße hierzu, dass sich bei Nathanael Außen- und Innenwelt derart verschränken würden, dass seine subjektiven Imaginationen objektive Erscheinungen so stark überlagerten, dass schließlich Nathanaels Ängste für ihn zur Bedrohung eines realen Äußeren würden. 4 Oder anders ausgedrückt, die durch seine Kindheitserfahrungen 2 Vgl. Schmidt, Jochen: Die Krise der romantischen Subjektivität: E. TH. A. Hoffmanns Künstlernovelle >Der Sandmann< in historischer Perspektive. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Hg. von Jürgen Brummack. Tübingen 1981, S , S Vgl. ebd. Eine gegenteilige Bewertung Claras findet sich u.a. bei Ellis, John M.:Clara, Nathanael and the Narrator. Interpreting Hoffmann s > Der Sandmann <. In: German Quaterly 54, 1981, S Vgl. Saße, Günter: a.a.o., S
3 ausgelöste posttraumatische Belastungsstörung 5 führe im Weiteren zu einem Assoziationszwang 6, in dessen Verlauf sich die Welt subjektiver Phantasie mit der Übertragung der subjektiven Imagination auf die äußerliche Wirklichkeit, nicht mehr mit der Welt objektiver Wahrnehmung vereinbaren lasse. Die autonom sich entfaltende Imaginationskraft des Dichters (in diesem Falle Nathanael), ein frühromantisch postuliertes Ideal im Kontext des Geniebegriffs, wandelt sich im Sandmann zur solipsistischen Selbstverfallenheit, zum manischen Automatismus, der einmal entfesselt zur Selbstzerstörung des Individuums führt. Als Beleg für diese Sichtweise wird von Saße und Schmidt vor allem das Automatenmotiv aufgegriffen, nämlich Nathanaels Abwendung von Clara und seine Hinwendung zu Olimpia, der toten Puppe, die er in narzisstischer Selbstbespiegelung zum Leben erweckt. 7 Das Umschlagen poetischer Genialität in Fatalität am Beispiele des Automaten Olimpia wertet Saße dabei als Kritik Hoffmanns an der pseudoromantischen Innerlichkeit Der Freudsche Verleser Sigmund Freud stellt das Augenmotiv in den Mittelpunkt seiner Analyse zum Sandmann. 9 Neben seinem Befund, dass Nathanael dem, oben bereits erwähnten, Wiederholungszwang ausgesetzt ist, indem er aus seinem infantilen Seelenleben (Kindheitserinnerungen, Schauermärchen) das Unheimliche durch gleichartige Wiederkehr (Coppola als Wiedergänger von Coppelius) auf die Wirklichkeit projiziert 10, diagnostiziert er bei Nathanael einen Kastrationskomplex in Zusammenhang mit seiner Augenangst: Das Studium der Träume, der Phantasien und Mythen hat uns dann gelehrt, daß die Angst um die Augen, die Angst zu erblinden, häufig genug ein Ersatz für die Kastrationsangst ist. 11 In der Begründung dazu heißt es nach Freud, dass in der Kindergeschichte der Vater und Coppelius die durch Ambivalenz in zwei Gegensätze zerlegte Vater-Imago darstellten. 12 Während letzterer mit Blendung (Kastration) drohe, bäte ersterer die Augen des Kindes frei. 13 Diesem Väterpaar entsprächen in der späteren Lebensgeschichte Nathanaels der Professor Spalanzani und der Optiker Coppola, die analog zum ersten Väterpaar, das geheimnisvoll in der väterlichen Stube am Herd 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Schmidt, Jochen: a.a.o., S Vgl. Saße, Günter: a.a.o., S. 110f sowie Schmidt, Jochen: a.a.o., S. 367f. 8 Vgl. Saße, Günter: a.a.o., S Vgl. Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Ders.: Psychologische Schriften. Studienausgabe Band IV. Hg. von Alexander Mitscherlich [u.a.]. Frankfurt/Main 1970, S Vgl. ebd., S Ebd., S Vgl. ebd., S Vgl. ebd. 3
4 arbeitete, die Puppe Olimpia verfertigt haben. 14 Olimpia ist nach dem Verständnis Freuds, die Materialisation von Nathanaels femininer Einstellung zu seinem Vater in früher Kindheit, ein Komplex, dessen Beherrschung in der narzisstischen Liebe zu Olimpia seinen Ausdruck fände. 15 Grundlage der Freudschen Analyse ist dabei die Annahme - und Freud bezieht sich hierbei vorrangig auf den Schluss der Erzählung -, dass der Optiker Coppola identisch mit dem Advokaten Coppelius ist und dementsprechend der Sandmann sei. 16 Dies sichert die Erzählung m.e. hingegen keineswegs und es ist fraglich inwieweit Freud lediglich ungenau gelesen hat oder inwiefern er, um es salopp auszudrücken, dem Erzähler nicht schlicht auf den Leim gegangen ist. So lautet die Freudsche Beschreibung der Schlussszene, nachdem Clara und Nathanael den Rathausturm bestiegen haben, wie folgt: Oben zieht eine merkwürdige Erscheinung von etwas, was sich auf der Straße heranbewegt, die Aufmerksamkeit Claras auf sich. Nathaniel betrachtet dasselbe Ding durch Coppolas Perspektiv, das er in seiner Tasche findet, wird neuerlich vom Wahnsinn ergriffen [...], und weiter: Unter den Menschen, die sich unten ansammeln, ragt der Advokat Coppelius hervor, der plötzlich wieder erschienen ist. Wir dürfen annehmen, daß es der Anblick seiner Annäherung war, der den Wahnsinn bei Nathaniel zum Ausdruck brachte. 17 Tatsächlich aber hat Nathanael mitnichten dasselbe Ding durch Coppolas Perspektiv betrachtet wie Clara. Vielmehr ruft der Anblick von Clara selbst in ihm einen neuerlichen Anfall hervor (S. 41). Zudem ist es keineswegs gesichert das Coppelius wirklich erschienen ist. Denn wenngleich der Erzähler berichtet, dass unter der zusammengelaufenen Menge riesengroß der Advokat Coppelius hervorragte, ist er nach Nathanaels Selbsttötung nicht mehr in der Lage, den doch riesengroßen Coppelius in der Menge ausfindig zu machen (S. 42). Saße bedeutet, dass in dieser Szene die personale Erzählperspektive die auktoriale unterlaufe 18, was Schmidt auf die Anwendung des serapiontischen Prinzips zurückführt, dass nämlich ein Hebel der Außenwelt, die innere Kraft der Phantasie in Bewegung setze. 19 Demnach fungieren physiognomische Ähnlichkeiten, also optische Reize als Hebel der Außenwelt, deren Zufälligkeit und Vagheit die schrankenlose Willkür der Phantasie entfesselten. 20 Und Schmidt schließt: Bezeichnenderweise sieht Nathanael alsbald, wie der Advokat Coppelius [ ] > riesengroß < hervorragt. Schon dieses Wort > riesengroß < verrät, daß der scheinbar auktorial berichtende Erzähler wie so oft aus der Perspektive Nathanaels und seiner evozierenden Phantasie spricht Vgl. ebd., f. 15 Vgl. ebd., S Vgl. ebd., S Ebd., S Vgl. Saße, Günter: a.a.o., S Vgl. Schmidt, Jochen: a.a.o., S. 361f. 20 Vgl. ebd. 21 Ebd., S
5 Um noch einmal auf Freud zurückzukommen: wäre es also gesichert, dass Coppola und Coppelius tatsächlich und überdies identisch sind, so würde dies bedeuten, dass Nathanael mit seiner Anschauung und mit seinen Befürchtungen recht behielte, dass sich tatsächlich dunkle Mächte gegen ihn verschworen hätten und diese nicht bloß seiner Imagination entsprüngen, sondern vielmehr, dass seine Imagination Wirklichkeit konstruiere und reflektiere. Eine solche Festlegung des Textes als Widerspiegelung einer mystischen Welterfahrung entzieht sich der Erzähler jedoch. Wiewohl damit ebensowenig der rationalen Gegenposition im Sinne der Darstellung einer problematischen Subjektivität die Deutungshoheit anheim gefallen ist. Zu sehr hält der Erzähler mit Andeutungen, merkwürdigen Zufällen und Anspielungen (so verweisen die Namen Coppelius und Coppola auf das italienische coppo, Augenhöhle; etc. pp) die Möglichkeit der mystischen Interpretation offen. Gerade das wechselnde Erzählverhalten lässt eine eindeutige Auslegung nicht zu, wie Wolfgang Preisedanz diesbezüglich verzeichnet: das Erzählen legt keine gewisse Perspektive fest, sondern das Erzählte gewährt Perspektiven und überläßt dem Leser das Problem, für welche er sich entscheiden solle. 22 Und weiter, so Preisedanz, mache es gerade die wechselseitige Bedingtheit von Erscheinung und menschlichen Erkenntnisvermögen unmöglich, die in Frage stehende Wirklichkeit auf ein subjektives oder objektives >Prinzip< zurückzuführen, also zwischen Phantomen des Ichs und ontischer Mächtigkeit zu unterscheiden. 23 Literatur Primärliteratur Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann. Hg. von Rudolf Drux. Stuttgart Sekundärliteratur Ellis, John M.:Clara, Nathanael and the Narrator. Interpreting Hoffmann s >Der Sandmann<. In: German Quaterly 54, 1981, S Freud, Sigmund: Das Unheimliche. In: Ders.: Psychologische Schriften. Studienausgabe Band IV. Hg. von Alexander Mitscherlich [u.a.]. Frankfurt/Main 1970, S Preisedanz, Wolfgang: Eines matt geschliffenen Spiegels dunkler Widerschein. E.T.A. Hoffmanns Erzählkunst. In: E.T.A. Hoffmann. Hg. von Helmut Prang. Darmstadt 1970, S Saße, Günter: Der Sandmann. Kommunikative Isolation und narzisstische Selbstverfallenheit. In: E.T.A. Hoffmann, Romane und Erzählungen. Hg. von Günter Saße. Stuttgart 2004, S Schmidt, Jochen: Die Krise der romantischen Subjektivität: E. TH. A. Hoffmanns Künstlernovelle >Der Sandmann< in historischer Perspektive. In: Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann. Hg. von Jürgen Brummack. Tübingen 1981, S Preisedanz, Wolfgang: Eines matt geschliffenen Spiegels dunkler Widerschein. E.T.A. Hoffmanns Erzählkunst. In: E.T.A. Hoffmann. Hg. von Helmut Prang. Darmstadt 1970, S , S Vgl. ebd., S
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