1. Kann sich B auf Art. 34 AEUV berufen, weil dieser unmittelbar anwendbar ist?
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- Friederike Günther
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1 Vorbemerkungen zur Terminologie: Seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am ist die Europäische Gemeinschaft (EG) und damit die alte Säulenstruktur aufgelöst. Es gibt nur noch die Europäische Union (EU), die Rechtsnachfolgerin der EG ist, siehe Art. 1 Abs. 3 UA 3 S. 3 EUV. Die supranationalen Politiken waren vor dem Vertrag von Lissabon im EGV enthalten. Deshalb wurde immer von Gemeinschaftsrecht, Gemeinschaftsinteresse, etc. gesprochen. Nach der Auflösung der EG ist nunmehr jedoch die richtige Terminologie Unionsrecht, Unionsinteresse, etc. Fall 1a (Primärrecht) Der Richter stellt sich folgende Fragen: 1. Kann sich B auf Art. 34 AEUV berufen, weil dieser unmittelbar anwendbar ist? 2. Wie ist die Rangfrage zwischen Art. 34 AEUV und der nationalen Norm zu lösen? 3. Welche Befugnisse stehen dem nationalen Richter bei einer Feststellung der Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit Unionsrecht zu? A. Unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 34 AEUV Richter A möchte zunächst wissen, ob sich B vor dem nationalen Gericht auf Art. 34 AEUV berufen kann. Das setzt die unmittelbare Anwendbarkeit der einschlägigen Bestimmung voraus. In Anbetracht des völkerrechtlichen Grundsatzes, dass internationale Verträge nur an Staaten und nicht an Individuen adressiert sind, ist vorab zu überlegen, ob das Primärrecht der Union in der Bundesrepublik unmittelbar gilt oder ob es eines deutschen Umsetzungsaktes bedarf. Hinweis: Unterscheiden Sie folgende Begriffe: Unmittelbare Geltung = Frage der rechtlichen Geltung des Unionsrechts in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen 1 In der Bundesrepublik Deutschland wird Geltung durch völkerrechtlichen Vertrag und Zustimmungsgesetz hergestellt, Art. 59 Abs. 1 Satz 1, 2 GG. Art. 23 Abs. 1, 24 GG, ermächtigen die Bundesrepublik dazu, Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen, was eine Öffnung der nationalen Rechtsordnung 1 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, 5. Aufl. 2011, S. 153; Lorenzmeier, Europarecht, 2011, S. 164; Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 8. Aufl. 2012, S. 87; Bieber/Epiney/Haag, Die Europäische Union, 10. Aufl. 2013, S. 110 f. Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 1 von 13
2 ermöglicht und somit der unmittelbaren Geltung und Anwendbarkeit des Unionsrechts Raum lässt. 2 Ein besonderer Anwendungsbefehl ist insbesondere für das Sekundärrecht damit nicht mehr nötig. Unmittelbare Anwendbarkeit = Frage, ob die unionsrechtliche Norm unmittelbar Rechte und Pflichten für Individuen begründen und ihnen subjektiv öffentliche Rechte verleihen. 3 Diese Eigenschaft kommt anders als die unmittelbare Geltung des Unionsrechts nicht allen Bestimmungen des Unionsrechts zu. 4 Anwendungsvorrang = steht nationales Recht einer unmittelbar anwendbaren Norm des Unionsrechts entgegen, so führt der Anwendungsvorrang zur Verdrängung des nationalen Rechts. 5 I. Wirkung des Primärrechts in der deutschen Rechtsordnung: Unmittelbare Geltung Fraglich ist zunächst, ob das Unionsrecht in den nationalen Rechtsordnungen unmittelbar, d.h. ab Inkrafttreten automatisch, in den Mitgliedstaaten gilt oder ob es eines nationalen Umsetzungsaktes bedarf. 1. Völkerrechtliche Sichtweise als Ausgangspunkt Die Gründungsverträge der Europäischen Union (= EUV und AEUV) sind völkerrechtliche multilaterale Verträge und bilden, zusammen mit anderen Normen denen dieser Rang eingeräumt wird etwa der Grundrechtecharta das Primärrecht der Union. Als völkerrechtliche Verträge binden sie grundsätzlich die Vertragsstaaten der Union inter partes. In der Frage, wie sich das Völkerrecht zu den nationalen Rechtsordnungen verhält, werden in der Wissenschaft ein monistischer sowie ein dualistischer Ansatz verfolgt. Nach dem monistischen Ansatz, der die Idee einer Gesamtrechtsordnung verfolgt, hat das Völkerrecht unmittelbar neben dem nationalen Recht Geltung, ohne dass es eines Transformationsaktes bedarf. Der heute vorwiegend verfolgte dualistische Ansatz geht hingegen davon aus, dass Völkerrecht und nationales Recht verschiedene Rechtsordnungen darstellen und das Völkerrecht erst durch einen Transformations- oder Implementierungsakt in der nationalen Rechtsordnung Geltung erlangt. Beide Ansätze lassen sich nicht strikt trennen. Die Staaten verwenden oftmals Mischformen zwischen beiden Ansätzen, um das Verhältnis von Völkerrecht und nationalem Recht zu regeln. Bliebe es dabei, würde das Unionsrecht, abhängig von den jeweils geltenden nationalen 2 Siehe näher Jarass/Pieroth/Jarass, GG, 12. Aufl. 2012, Art. 23 Rn 25 ff; Sachs/Streinz, GG, 6. Aufl. 2011, Art. 23 Rn 54 ff. 3 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn 1), S Z.B. sind die Querschnittsnormen Art. 167, 168, 169 AEUV nicht unmittelbar anwendbar. 5 Vgl. Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, S. 77; Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn 1), S. 158 f.; Lorenzmeier (Fn 1), S. 92 ff; Haratsch/Koenig/Pechstein, (Fn 1), S. 87. Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 2 von 13
3 Verfassungsnormen, durch Transformations- oder Implementierungsakt Geltung erlangen. 2. Sicht des EuGH Nach Ansicht des EuGH 6 unterscheiden sich die Gründungsverträge der Europäischen Union von anderen völkerrechtlichen Verträgen, die nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen Staaten begründen. Die Gründungsverträge der Union schaffen vielmehr eine eigene Rechtsordnung 7 (sog. self-contained regime 8 ), die von den Mitgliedstaaten aufgenommen wird und von den nationalen Gerichten anzuwenden ist. 9 Durch die Schaffung der EU mit eigener Rechts-, internationaler Handlungs-, und Geschäftsfähigkeit, mit eigenen Organen und echten durch die Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten unionseigenen Hoheitsrechten, haben die Mitgliedstaaten ihre Souveränitätsrechte beschränkt und einen Rechtskörper geschaffen, der für sie und ihre Angehörigen verbindlich ist. 10 Aus der Übertragung der Hoheitsgewalt und der Eigenständigkeit des Unionsrechts wird somit die unmittelbare Geltung des Unionsrechts in den nationalen Rechtsordnungen abgeleitet. 11 Somit genießt das Primärrecht der Union unmittelbare Geltung in den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten. Es ist automatisch Bestandteil der deutschen Rechtsordnung und damit vom entscheidenden nationalen Richter zu beachten. Hinweis zum Verständnis des Unionsrechts Ansicht des EuGH: Mit den soeben dargestellten Überlegungen kommt der EuGH zu der Schlussfolgerung, dass es sich bei Unionsrecht um eine autonome Rechtsordnung handelt, die losgelöst vom Völkerrecht betrachtet werden muss. Ansicht des BVerfG: Das BVerfG sieht das Unionsrecht nicht losgelöst vom Völkerrecht und betont, dass die Legitimation des Europarechts aus der verfassungsrechtlichen Ermächtigung, wie sie sich in den Zustimmungsgesetzen zu den europäischen Verträgen manifestiert, resultiert. II. Unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts in den nationalen Rechtsordnungen Von der unmittelbaren Geltung des Unionsrechts in den nationalen Rechtsordnungen ist die unmittelbare Anwendbarkeit von Unionsrecht in den nationalen 6 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1141, Rn 7 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier, Europarecht in Fällen, 5. Aufl. 2012, S. 38). 7 Vgl. Hobe, Europarecht, 7. Aufl. 2012, S. 25 ff.; Streinz (Fn 5), S Dazu Ipsen, Völkerrecht, 5. Aufl. 2004, S EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, S. 629, Rn 14/16 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 42). 10 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1141, Rn 8 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 38). 11 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1141, Rn 8 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 38). Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 3 von 13
4 Rechtsordnungen zu unterscheiden. Die unmittelbare Anwendbarkeit regelt, ob die unionsrechtlichen Regelungen den Individuen in den nationalen Rechtsordnungen unmittelbar Rechte oder Pflichten auferlegt. 12 Umgekehrt ist Rechtsfolge der unmittelbaren Anwendbarkeit, dass sich der Einzelne vor einem nationalen Gericht auf Normen des Europarechts berufen kann, diese mithin subjektive Rechte im Sinne des 42 Abs. 2 VwGO begründen Voraussetzungen für die unmittelbare Anwendung von Primärrecht Fraglich ist, ob Art. 34 AEUV unmittelbar anwendbar ist. Nach der Rechtsprechung des EuGH ist für die unmittelbare Anwendbarkeit einer Vorschrift des Primärrechts erforderlich, dass diese rechtlich vollkommen (d.h. die Bestimmung muss klar und hinreichend genau sein, so dass sie ohne weitere Konkretisierung anwendbar ist), inhaltlich unbedingt (d.h. die Bestimmung darf mit keinem Vorbehalt oder zeitlichen Aufschub versehen sein und von keinem weiteren Rechtsakt der Union oder der Mitgliedstaaten abhängig sein). 14 Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Einzelnen ein subjektives Recht gegeben wird, Einzelne ausdrücklich verpflichtet werden oder wenn dem Mitgliedstaat eindeutige Verpflichtungen zugunsten des Individuums auferlegt werden. 15 Vorliegend erfüllt Art. 34 AEUV alle Voraussetzungen. Art. 34 AEUV spricht ein klares und absolutes Verbot aus: mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen, sowie Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten sind zu unterlassen. Die Norm ist mithin rechtlich vollkommen und legt den Mitgliedstaaten eine Unterlassungspflicht auf. Weiterhin sind auch keine Vorbehalte und Aufschubsregelungen ersichtlich und es bedarf keines weiteren Ausführungsaktes durch den Unions- oder staatlichen Gesetzgeber. Somit ist Art. 34 AEUV unmittelbar in den Mitgliedstaaten anwendbar und entfaltet subjektiv-rechtliche Wirkung für den Einzelnen. Hinweis: Generell muss für jede Regelung innerhalb der Verträge individuell festgestellt werden, ob sie die Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendbarkeit erfüllt. Der EuGH hat jedoch bereits allen Grundfreiheiten sowie dem Freizügigkeitsrecht und dem Diskriminierungsverbot unmittelbare Wirkung beigemessen. 12 Lorenzmeier (Fn 1), S. 164; Streinz (Fn 5), S Kopp/Schenke, VwGO, 19. Aufl. 2013, 42 Rn EuGH, Rs. 57/65, Lüttike, Slg. 1971, S. 325 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 2). 15 Schweitzer, Staatsrecht III, 10. Aufl. 2010, S. 205 Rn 520a. Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 4 von 13
5 B. Verhältnis nationales Recht Europarecht Fraglich ist, welcher Rang dem unmittelbar geltenden Europarecht innerhalb der jeweiligen nationalen Rechtsordnungen zukommt, insbesondere wie es sich zu konfligierendem nationalen Recht verhält. I. Vorrang des Unionsrechts Der EuGH hat in seiner Entscheidung Costa/ENEL 16 den Konflikt zwischen einer nationalen Norm und einer unionsrechtlichen Norm zugunsten der Letzteren aufgelöst und damit den Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Verhältnis zu nationalem Recht begründet. Demnach ergibt sich der Vorrang des Unionsrechts indirekt aus der unmittelbaren Geltung des Unionsrechts in den nationalen Rechtsordnungen. Da durch die Übertragung von Hoheitsrechten und der Eigenständigkeit der Unionsrechtsordnung eine von den allgemeinen internationalen Verträgen eigenständige, in allen Mitgliedstaaten geltende Rechtsordnung geschaffen wurde, muss auch die Einheitlichkeit dieser Rechtsordnung gewahrt werden. 17 Die Eigenständigkeit und Einheitlichkeit der Unionsrechtsordnung würde durch die mögliche Überprüfbarkeit von Unionsrecht anhand nationaler Regelungen gefährdet, da das Unionsrecht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat verschiedene Geltung haben könnte. 18 Mithin muss das Unionsrecht nationalem Recht vorgehen. Das gilt auch für das Verfassungsrecht der Mitgliedstaaten. 19 Dies stellt zugleich eine Ausprägung des Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit gem. Art. 4 Abs. 3 EUV dar, nachdem die Unionsrechtsordnung effektiv wirksam sein muss ( effet utile 20 ). 21 Der Vorrang des Unionsrechts ist nun auch in Erklärung Nr. 17 des Vertrages von Lissabon geregelt und damit kodifiziert. 22 Als Teil des Vertrages von Lissabon in der Form einer einseitigen, völkerrechtlichen Erklärung der Mitgliedstaaten sind die Erklärungen für diese verbindlich. In die Erklärung wurde auch das Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 22. Juni aufgenommen, welches die Begründung des EuGH für den Vorrang des Unionsrechts übernimmt. 16 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 38). 17 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1141, Rn 9 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 38); EuGH, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rn 3 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 41). 18 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1141, Rn 9 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 38). 19 Vgl. Bieber/Epiney/Haag, (Fn 1), S. 110 f; Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn 1), S. 158 ff.; Streinz (Fn 5), S EuGH, Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1974, S. 1337, Rn 12 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6, S. 662). 21 Calliess/Ruffert/Calliess EUV, AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 4 EUV Rn 77; Geiger/Khan/Kotzur/Geiger, EUV, AEUV, 5. Aufl. 2010, Art. 4 EUV Rn 39; Streinz/Streinz, EUV, AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 4 EUV Rn 33; Vedder/Heintschel von Heinegg/Vedder, Europäisches Unionsrecht, 2012, Art. 4 EUV Rn 18 ff. 22 Erklärung Nr. 17 Erklärung zum Vorrang: Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtssprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtssprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben. 23 Gutachten des Juristischen Dienstes des Rates vom 22. Juni 2007: Nach der Rechtssprechung des Gerichtshofs ist der Vorrang des EG-Rechts einer der Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts. Dem Gerichtshof zufolge ergibt sich dieser Grundsatz aus der Besonderheit der Europäischen Gemeinschaft. Zum Zeitpunkt des ersten Urteils im Rahmen dieser ständigen Rechtsprechung (Rechtssache 6/64, Costa gegen Enel, 15. Juli 1964) war dieser Vorrang im Vertrag nicht erwähnt. Dies ist auch heute noch der Fall. Die Tatsache, dass der Grundsatz dieses Vorrangs nicht in den künftigen Vertrag aufgenommen wird, ändert nichts an seiner Existenz und an der bestehenden Rechtssprechung des Gerichtshofs. Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 5 von 13
6 Hinweis: Auch das BVerfG erkennt grundsätzlich den Anwendungsvorrang des Unionsrechts an, begründet diesen allerdings aus der grundgesetzlichen Legitimation (s.o.). Deshalb ist im Rahmen des Verfassungsrechts ein Vorrang des nationalen Rechts aus Sicht des BVerfG denkbar. II. Folgen des Vorrangs des Unionsrechts für die nationale Rechtsordnung Der Vorrang des Unionsrechts bewirkt zunächst, dass innerstaatliche Stellen zur Vermeidung von Normenkollisionen die maßgeblichen nationalen Bestimmungen unionsrechtskonform auslegen müssen (Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung). 24 Ist dies nicht möglich und damit ein Konflikt der nationalen Norm mit der unionsrechtlichen Norm unvermeidbar, so ist die nationale Norm nicht anzuwenden. 25 Ein Geltungsvorrang des Unionsrechts, der im Kollisionsfall die Nichtigkeit einer entgegenstehenden nationalen Vorschrift bewirken würde, besteht gerade nicht und wird auch vom EuGH nicht vertreten. 26 Hinweis: Der Anwendungsvorrang gilt im Grundsatz nur für abstrakt-generelle innerstaatliche Regelungen 27 und nur im Anwendungsbereich des Unionsrechts. 28 Für konkret-individuelle Verwaltungsakte bestimmen sich die Folgen eines Verstoßes gegen das Unionsrechts nach den nationalen verwaltungsverfahrens- und verwaltungsprozessrechtlichen Vorschriften (In Deutschland: etwaige Nichtigkeit nach 44 Abs. 1 VwVfG oder Aufhebung aufgrund Rechtswidrigkeit nach 48 VwVfG). Vorliegend ist eine unionsrechtskonforme Auslegung der nationalen Vorschrift nicht möglich. Aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts muss die entgegenstehende nationale Vorschrift mithin unangewendet bleiben. Auch die lex-posterior Regel gilt im Rahmen des Unionsrechts nicht. Ein späterer Gesetzgebungsakt eines Mitgliedstaates kann die Verpflichtungen aus den Unionsverträgen nicht in Frage stellen. 29 Damit fehlt es dem angegriffenen Kostenbescheid an einer mit höherrangigem Recht vereinbaren Rechtsgrundlage. Der Verwaltungsakt ist damit rechtswidrig und die Anfechtungsklage des B begründet, 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. 24 Haratsch/Koenig/Pechstein, (Fn 1), S EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, S. 629, Rn 17/18 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 42). 26 EuGH, verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, IN.CO.GE. 90 U.A., Slg. 1998, I-6307, Rn 18 ff. (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 38). 27 Haratsch/Koenig/Pechstein, (Fn 1), S Dazu bedarf es immer eines grenzüberschreitenden Bezugs des Sachverhalts. 29 EuGH, Rs. 6/64, Costa/ENEL, Slg. 1964, S. 1141, Rn 10 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 38). Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 6 von 13
7 C. Befugnisse des nationalen Gerichts Weiterhin muss geklärt werden, ob der Richter A die Nichtanwendbarkeit der nationalen Norm selbst feststellen kann, oder ob er dies durch EuGH oder Bundesverfassungsgericht feststellen lassen muss. Hinsichtlich des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 100 Abs. 1 GG bereits, dass eine konkrete Normenkontrolle nur zulässig ist, wenn die Verfassungswidrigkeit einer nationalen Norm im Raum steht. Indes geht es vorliegend um die Unionsrechtswidrigkeit der Norm. Weiterhin greift das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nicht ein, da der Anwendungsvorrang des Unionsrechts gerade nicht die Nichtigkeit der streitigen Norm zur Konsequenz hat. Damit bedarf es keiner Anrufung des Bundesverfassungsgerichts. Weiterhin bedarf es keines Ausspruchs durch den EuGH. Dieser ist grundsätzlich nicht kompetent, über nationales Recht zu urteilen oder gar dieses zu verwerfen. Vielmehr folgt aus der Sicht des EuGH aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts, dass angerufene mitgliedstaatliche Gerichte selbst Normen, die dem Unionsrecht entgegenstehen, unangewendet lassen müssen. 30 Das zeigt die besondere Verantwortung der nationalen Gerichte im Rahmen des Vollzugs des Unionsrechts. Verknüpfung: Hätte der Richter Zweifel an der Vereinbarkeit der nationalen Norm mit Art. 34 AEUV, so bestünde die Möglichkeit, eine Vorabentscheidung durch den EuGH nach Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV anzustreben. 30 EuGH, Rs. 106/77, Simmenthal II, Slg. 1978, S. 629, Rn 17/18 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S.42); EuGH, Rs. C- 555/07, Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365, Rn 55 f. Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 7 von 13
8 Fall 1b (Verordnung) Exkurs Überblick über die Sekundärrechtsakte des Art. 288 AEUV Verordnung: Die VO hat allgemeine Geltung und gilt aus sich heraus unmittelbar und verbindlich in jedem Mitgliedstaat. Sie geht nationalem Rechts aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts vor. Man kann sich die VO als europäisches Gesetz vorstellen. Richtlinie: Die Richtlinie adressiert in erster Linie die Mitgliedstaaten, indem sie diesen Vorgaben macht, welche die Mitgliedstaaten in ihr nationales Recht umsetzen müssen. Dabei sind die Mitgliedstaaten in der Art und Weise der Umsetzung grundsätzlich frei, solange sie die Ziele der Richtlinie am Ende mit ihren Methoden erreichen. Eine Richtlinie ist nur unter engen Voraussetzungen unmittelbar wirksam und anwendbar. Beschluss: Beschlüsse sind ebenfalls verbindlich, stellen allerdings keine abstraktgenerelle, sondern eine konkret-individuelle Regelung dar. Man kann sie sich als europäischen Verwaltungsakt vorstellen. Als solcher kann er auch an privatrechtliche Personen gerichtet werden (insb. im Wettbewerbsrecht). A. Bedeutung der allgemeinen Geltung einer Verordnung i.s.d. Art. 288 Abs. 2 AEUV Nach Art. 288 Abs. 2 AEUV hat eine Verordnung als Sekundärrechtsakt der Union allgemeine Geltung und gilt somit unmittelbar und verbindlich in jedem Mitgliedstaat. 31 Aufgrund ihrer Rechtsnatur und Funktion im Rechtsquellensystem der Union und des Wortlauts des Art. 288 Abs. 2 AEUV ( gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat ), erzeugt eine Verordnung somit unmittelbare Wirkung in den nationalen Rechtsordnungen 32. Sie ist ipso iure geeignet, für Individuen Rechte und Pflichten zu begründen, deren Einhaltung die nationalen Gerichte sicherstellen müssen. Somit bedurfte es bereits keiner Umsetzung der Verordnungen durch den italienischen Gesetzgeber. Die Verordnung entfaltete mit Inkrafttreten am 1. Juli 1968 unmittelbare Wirkung und G konnte sich ab diesem Zeitpunkt auf die Verordnung berufen. Entgegenstehende nationale Vorschriften sind im Falle der Kollision von den nationalen Gerichten außer Betracht zu lassen. 31 Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn 1), S.123; Bieber/Epiney/Haag (Fn 1), S. 188 ff; Herdegen, Europarecht, 15. Aufl. 2013, S. 174; Hobe (Fn 7), S. 94; Streinz (Fn 5), S EuGH, Rs. 34/73, Variola, Slg. 1973, S. 981, Rn 8 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 3). Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 8 von 13
9 B. Zulässigkeit nationaler Umsetzungsakte Vorliegend hat Italien die Regelungen der Verordnungen durch Umsetzungsakt in nationales Recht umgewandelt. Ob dies rechtmäßig ist, ist fraglich. Aus der unmittelbaren Geltung einer Verordnung folgt, dass die Verordnung in Kraft tritt, zugunsten oder zulasten eines Rechtssubjektes Anwendung findet, und kein weiterer Umsetzungsakt des nationalen Gesetzgebers benötigt wird. 33 Aufgrund Art. 4 Abs. 3 EUV dürfen die Mitgliedstaaten keine Maßnahmen ergreifen, die die unmittelbare Geltung einer Verordnung verhindern oder erschweren, da sonst die gleichzeitige und einheitliche Anwendung der Verordnung in allen Mitgliedstaaten gefährdet wäre. 34 Die Mitgliedstaaten dürfen insbesondere keine Maßnahmen ergreifen, die geeignet sind, die Zuständigkeit des Gerichtshofes zu beschneiden und den Normadressaten über den Unionsrechtscharakter der Norm im Unklaren lassen. 35 Die Umwandlung der im Sachverhalt vorliegenden Verordnung in italienisches Recht würde zudem den EuGH in seiner Überprüfungskompetenz beschneiden. Die Umwandlung lässt italienische Staatsbürger im Unklaren darüber, dass es sich um eine unionsrechtliche Regelung mit möglichem Rechtschutz vor dem EuG/EuGH handelt. Die Transformation von Verordnungen in nationales Recht ist somit unzulässig. Teil 1c (Richtlinien) A. Rechtsnatur der Richtlinie Nach Art. 288 Abs. 3 AEUV ist die Richtlinie für die Mitgliedstaaten verbindlich, überlässt es jedoch diesen, die Form und Mittel auszuwählen, die sie für die Erreichung des Zieles als geeignet ansehen. Hierdurch soll ein Kompromiss zwischen den Erfordernissen einheitlichen Rechts und Bewahrung nationaler Eigenheiten geschaffen werden (die Richtlinie wird meist in Bereichen der Angleichung und nicht der Vereinheitlichung der nationalen Rechtsordnungen verwendet). Somit entfaltet die Richtlinie, in Abweichung zu einer Verordnung, grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, sondern bedarf eines nationalen Umsetzungsaktes. B. Umsetzungspflicht der Mitgliedstaaten Art. 288 Abs. 3 AEUV bestimmt, dass die Umsetzung der Richtlinie für die Mitgliedstaaten verbindlich ist. Diese Verpflichtung wird durch Art. 4 Abs. 3 EUV 33 EuGH, Rs. 34/73, Variola, Slg. 1973, S. 981, Rn 10 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 3). 34 EuGH, Rs. 94/77, Fratelli Zerbone, Slg. 1978, S. 99, Rn EuGH, Rs. 34/73, Variola, Slg. 1973, S. 981, Rn 11 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 3). Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 9 von 13
10 untermauert. Meist enthalten die Richtlinien selbst nochmals einen Passus zur Umsetzungspflicht und stellen eine Frist auf, bis zu welchem Zeitpunkt die Umsetzung zu erfolgen hat. 36 Zwar steht den Mitgliedstaaten die Wahl der Form und Mittel der Umsetzung frei; jedoch müssen diejenigen Maßnahmen getroffen werden, die die praktische Wirksamkeit der Richtlinie am Besten gewährleisten. 37 Hinweis: Es müssen folgende Grundsätze für die Anforderungen der Umsetzungspflicht von Richtlinien eingehalten werden: Gebot der Publizität: Der Betroffene muss von seinen Rechten und Pflichten Kenntnis erlangen können. 2. Der Betroffene muss sich vor nationalen Gerichten auf nationale Regelung berufen können (Normcharakter und Außenwirkung der Umsetzungsnorm); vgl. EuGH zur TA-Luft 39 - Umsetzung einer Richtlinie durch dt. Verwaltungsvorschrift nicht ausreichend. 3. Eine bloße Übereinstimmung der innerstaatlichen Praxis mit dem durch die Richtlinie geforderten Zustand reicht nicht aus (Aber: richtlinienkonforme Auslegung eines vorhandenen unbestimmten Rechtsbegriffs ausreichend). C. Unmittelbare Wirkung von Richtlinien in den Mitgliedstaaten Wie bereits erwähnt entfalten Richtlinien zwar grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten. Ausnahmsweise nimmt der EuGH indes eine unmittelbare Wirkung an, wenn die Richtlinie nicht, nicht rechtzeitig oder fehlerhaft umgesetzt wurde, die Richtlinie an relevanter Stelle so hinreichend genau formuliert ist, dass daraus unmittelbar ein Recht abgeleitet werden kann (ohne Umsetzungsspielraum für den nationalen Gesetzgeber) und die relevante Norm dazu bestimmt ist, dem Einzelnen subjektive Rechte zu gewähren. 40 Weiterhin müssen die Grundsätze der Drittwirkung beachtet werden (siehe IV.). Der EuGH begründet diese Möglichkeit mit dem Grundsatz des effet utile, da die praktische Wirksamkeit einer Richtlinie erheblich beeinträchtigt würde, wenn es jeder Mitgliedstaat in der Hand hätte, wann, wie und ob er die Richtlinie umsetzt. Hierdurch könnten die Rechtswirkungen der Richtlinie hinausgezögert oder ganz vereitelt werden. 41 Die Möglichkeit der Einleitung eines möglichen Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV ist zur Sicherung des Unionsrechts nicht ausreichend (es ergeht nur ein Feststellungsurteil, welches die 36 Vgl. Hobe (Fn 7), S. 95; Lorenzmeier (Fn 1), S EuGH, Rs. C-361/88, TA-Luft, Slg. 1991, I-2567, Rn 24 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 25); Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn 1), S EuGH, Rs. C-361/88, TA-Luft, Slg. 1991, I-2567, Rn 15 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 25). 39 EuGH, Rs. C-361/88, TA-Luft, Slg. 1991, I-2567 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 25). 40 EuGH, Rs. 8/81. Becker, Slg. 1982, S. 53, Rn 25 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 9); EuGH, verb. Rs. C-6 u. C- 9/90, Francovich, Slg. 1991, I-5357, Rn 12 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 217). 41 EuGH, Rs. 9/70, Leberpfennig, Slg. 1970, S. 825, Rn 5 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 5). Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 10 von 13
11 Verzögerung der Umsetzung nicht verhindern kann). Weiterhin wird die Möglichkeit der unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie auf den Sanktionsgedanken gestützt. Es soll hierdurch dem Mitgliedstaat verwehrt bleiben, den Bürgern, die sich auf die Vergünstigung einer nichtumgesetzten Richtlinie berufen, die Nichtumsetzung entgegenzuhalten. 42 Folge einer unmittelbaren Wirkung einer Richtlinie ist grundsätzlich, dass sich der Einzelne gegenüber dem Staat auf die nichtumgesetzte Richtlinienvorschrift berufen kann. D. Problem der horizontalen Drittwirkung von Richtlinien Es ist jedoch noch nicht völlig geklärt, in welchen Rechtsverhältnissen eine unmittelbare Wirkung eintreten kann. Dabei muss zwischen den Rechtsverhältnissen Bürger-Staat (vertikales Verhältnis) und Bürger-Bürger (horizontales Verhältnis) unterschieden werden. Unstreitig können sich Private gegenüber dem nicht umsetzenden Staat positiv auf eine Richtlinienbestimmung berufen (positive vertikale Wirkung). Das folgt aus dem Gedanken der Sanktion. Umgekehrt aber kann sich der nicht umsetzende Staat nicht gegenüber einem Privaten auf die nicht umgesetzte Richtlinienbestimmung berufen (keine umgekehrt-vertikale Wirkung), da hier die Begründung des Sanktionsgedankens nicht mehr zum Tragen kommt, und weiterhin Aspekte der Rechtsicherheit sowie das Rückwirkungsverbot entgegenstehen. 43 Problematisch ist jedoch die horizontale Drittwirkung von Richtlinien, d.h. die unmittelbare Wirkung von nichtumgesetzten Richtlinien zwischen Privaten. Hier ist ein Berufen auf die Richtlinie jedenfalls dann möglich, wenn sich die Belastung für den privaten Dritten nur als Rechtsreflex erweist, etwa in Konkurrentenklagesituationen oder Drittanfechtungsklagen (bspw. im Bau- und Immissionsschutzrecht). In rein privatrechtlichen Verhältnissen wie im hiesigen Fall hat der EuGH eine horizontale Drittwirkung jedoch abgelehnt. Dies mit der Begründung, dass eine unmittelbare Wirkung zu Lasten der Bürger eine Kompetenzüberschreitung der Union sei, da belastende Regelungen gerade nur durch Verordnungen möglich seien, für die der Union in diesem Bereich jedoch die Regelungsbefugnis fehle. 44 Allerdings 42 EuGH, Rs. 8/81. Becker, Slg. 1982, S. 53, Rn 24; (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 9); EuGH, verb. Rs. C-6 u. C- 9/90, Francovich, Slg. 1991, I-5357, Rn 11 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 217). 43 EuGH, Rs. 80/86, Kolpinghuis Nijmegen, Slg 1987, S. 3969, Rn 9; Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn 1), S EuGH, Rs. C-443/98, Unilever Italia, Slg. 2000, I-7535, Rn 50; EuGH, Rs. C-91/92, Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Rn 24 ff (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 14); EuGH, Rs. C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Rn 6 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 20). Hieran ändert auch die Entscheidung des Gerichtshofes in EuGH, Rs. C-144/04, Mangold, Slg. 2005, I-9981, nichts, da der EuGH darin maßgeblich auf das primärrechtlich verankerte Diskriminierungsverbot abgestellt hat (Rn 75). In Anbetracht der Entscheidung des Gerichtshofs in EuGH, Rs. C-555/07, Kücükdeveci, Slg. 2010, I-365 Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 11 von 13
12 scheint der EuGH das Verbot der horizontalen Drittwirkung zwischen Bürgern nur auf Fälle begrenzen zu wollen, in denen die Richtlinienvorschriften Verpflichtungen Einzelner begründen und somit die nichtumgesetzte Richtlinienvorschrift Rechtsgrundlage einer Gerichtsentscheidung darstellen würde. Soweit die unmittelbare Wirkung nur dazu führt, dass richtlinienwidriges nationales Recht vom Richter nicht angewendet werden darf, ist dies hinzunehmen. 45 E. Anwendung der Grundsätze auf den vorliegenden Fall Vorliegend ist fraglich, ob K ein Widerrufsrecht aus der Richtlinie zusteht. I. Widerrufsrecht durch nationale Rechtsordnung Der italienische Gesetzgeber hat die Richtlinie noch nicht durch einen Umsetzungsakt in seine Rechtsordnung übernommen. Ein Widerrufsrecht steht dem K nach italienischem Recht somit nicht zu. Richtlinien haben aufgrund ihrer Rechtsnatur auch generell keinen unmittelbaren Geltungsanspruch innerhalb der nationalen Rechtsordnungen. Gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV sind die Mitgliedstaaten nur verpflichtet, die Richtlinien innerhalb der Umsetzungsfrist in nationales Recht umzusetzen. II. Widerrufsrecht aus unmittelbarer Wirkung der Richtlinie aufgrund Ablaufs der Umsetzungsfrist Vorliegend hat es der italienische Gesetzgeber jedoch versäumt, die Richtlinie innerhalb der Umsetzungsfrist in nationales Recht umzusetzen. Aufgrund des Effektivitätsgebots und des Sanktionsgedankens könnte mithin eine unmittelbare Anwendung der Richtlinienvorschrift in Betracht kommen. Dies ist der Fall, wenn die Richtlinie so hinreichend genau formuliert ist, dass daraus unmittelbar ein subjektives Recht abgeleitet werden kann und die in der Richtlinie festgelegte Umsetzungsfrist abgelaufen ist, ohne dass die Richtlinie vollständig und richtig umgesetzt worden ist. Vorliegend gewährt die Richtlinie dem Einzelnen ein Widerrufsrecht für außerhalb von Verkaufsräumen geschlossene Verträge. Diese Vorschrift ist hinreichend genau formuliert und bedarf keines weiteren Umsetzungsaktes durch die Mitgliedstaaten. Wie bereits erwähnt, hat der italienische Gesetzgeber auch die Umsetzungsfrist verstreichen lassen. Somit liegen die generellen Voraussetzungen der unmittelbaren Anwendung der Richtlinie vor. Allerdings könnte der unmittelbaren Anwendung der bleibt die Thematik allerdings weiterhin umstritten. Dort wurde eine Unvereinbarkeit des 622 Abs. 2 BGB mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot, wie es in der Richtlinie 2000/78 konkretisiert ist, festgestellt. 45 EuGH, Rs. C-201/02, Wells, Slg. 2004, I-723; Rn 54; EuGH, Rs. C-443/98, Unilever Italia, Slg. 2000, I-7535, Rn 50; Oppermann/Classen/Nettesheim (Fn 1), S Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 12 von 13
13 Richtlinienvorschrift entgegenstehen, dass K das in der Vorschrift enthaltene Widerrufsrecht gegenüber einem Bürger geltend machen möchte (horizontale Drittwirkung). Die unmittelbare Wirkung von Richtlinien ist jedoch nur im Verhältnis des Bürgers zum Staat problemlos (vertikale Drittwirkung). Generell wird eine horizontale Drittwirkung in den Fällen, in denen der Bürger ein Recht aus einer nichtumgesetzten Richtlinie geltend machen möchte, abgelehnt. Das ist hier gerade der Fall. K möchte das in der Richtlinie festgelegte Widerrufsrecht gegenüber S geltend machen. Somit steht ihm kein Widerrufsrecht aus einer unmittelbaren Wirkung der Richtlinie zur Verfügung. K bleibt somit nur die Möglichkeit, gegenüber dem Staat einen Schadensersatzanspruch wegen einer nicht fristgerecht erfolgter Umsetzung der Richtlinie geltend zu machen. 46 Hinweis: Dieser wird in Fall 4 behandelt. 46 EuGH, Rs. C-6/90, Francovich, Slg. 1991, I-5357 (= Hummer/Vedder/Lorenzmeier (Fn 6), S. 217). Indlekofer/Schwichtenberg/Engel Seite 13 von 13
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