Suchtkranke Eltern in der Schicksalsgemeinschaft mit schutzbedürftigen Kindern: Sorgerechtsvorgaben zwischen Eigen- und Fremdverantwortung
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- Gerhard Fuhrmann
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Transkript
1 Suchtkranke Eltern in der Schicksalsgemeinschaft mit schutzbedürftigen Kindern: Sorgerechtsvorgaben zwischen Eigen- und Fremdverantwortung Dr. med. Edelhard Thoms
2 Dr. med. Edelhard Thoms Praxis für Psychotherapie und Psychoanalyse für Babies, Kinder, Jugendliche und Erwachsene Traumatherapeut (DeGPT) Suchtmedizin Supervisor (SPP) Zertifizierter Gutachter (BAG, BKJPP, DGKJP) Vorstand der GAIMH Deutschland Der Inhalt des folgenden Vortrages ist das Ergebnis des Bemühens um größtmögliche Objektivität und Unabhängigkeit. Ich versichere, das in Bezug auf den Inhalt des Vortrages keine Interessenkonflikte bestehen. Pragerstr. 125, Leipzig
3 Einführung Emotionale Vernachlässigung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindungsstörung Kindeswohlgefährdung Therapie
4 Anton: Vater alkoholabhängig, Mutter traumatisiert, drogenabhängig, beide Eltern eigene schwierige Kindheit Emotionale Mangelversorgung von Anton, Interaktionsstörungen, Regulationsstörungen, Gewalterleben zwischen den Eltern Anton hat wenig Freunde, kann Nähe und Distanz nicht gut regulieren, stressintolerant, kann in der Schule nicht folgen, Konzentrationsstörungen, Lernprobleme, hat keine ausreichenden Konfliktlösungsstrategien, Schulverweis (1. Klasse), muss elterliche Aufgaben übernehmen. Schulschwänzen mit 9 Jahren, Nikotin mit 10J., Alkohol und Drogen mit 11 Jahren, Crystalabhängigkeit mit 13 Jahren Mit 14J. Einweisung nach 1631b BGB
5 Einführung Emotionale Vernachlässigung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindungsstörung Kindeswohlgefährdung Therapie
6 Bereits zur Geburt, aber spätestens mit einem Jahr sind die Chancen extrem ungleich verteilt z.b. durch: Schädigung des Gehirns durch Substanzen während der Pränatalzeit, ungenügendes Beziehungsangebot prä-, post- und perinatal, nicht ausreichende emotionale, taktile und kognitive Förderung, zu geringer Hilfe bei der Verhaltensregulation, ausgelöst durch elterliche Psychopathologie, Paarkonflikt, Substanzmittelabhängigkeit etc. Nicht die Aufsehen erregenden Fälle von körperlicher Gewalt gegen Kinder sind der Skandal, sondern die chronische Vernachlässigung von Kindern in Risikofamilien Pro Kind hat gezeigt, dass es eine nicht unerhebliche Zahl solcher Risikofamilien gibt, die unsere Kindesschutzbehörden trotz großen Aufwandes nicht kennen bzw. erst kennen lernen, wenn es zu spät ist. Kai von Klitzing, 2012
7 Man unterscheidet Handlungen am Kind von Unterlassungen. Unterlassungen (Vernachlässigung) ist viel häufiger, ist aber in den Medien und auch in der Wahrnehmung bei Professionellen leider häufig ein vernachlässigtes Thema
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13 Einführung Emotionale Vernachlässigung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindungsstörung Kindeswohlgefährdung Therapie
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15 Bedeutung früher Erfahrungen für die Gehirn- und Verhaltensentwicklung Funktion und Struktur des sich entwickelnden Gehirns wird positiv oder negativ von sozial-emotionalen Beziehungserfahrungen beeinflusst - emotionale Sicherheit dient als Puffer gegen Stress - massive neuropsychologische Folgen entstehen bei frühem emotionalem Stress (Misshandlung, Vernachlässigung) Psychobiologische Regulation in der Bindungsbeziehung (Schore, 2001)
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19 Zusammenfassung Serotonin ist ein Neuromodulator und beeinflusst Gene und Epigenetik Stresshormone prägen das Stresssystem und beeinflussen das Risiko zur Entwicklung seelischer Störungen Oxytocin fördert das Bindungsverhalten und verbessert die seelische Entwicklung Die Neurowissenschaft verdeutlicht, dass die Qualität früher Beziehungserfahrungen die Gehirnarchitektur prägt und deshalb für die weitere Persönlichkeitsentwicklung von großer Bedeutung ist.
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21 Sind pränatale Stresseffekte reversibel Effekte von pränatalem Stress können durch postpartale Pflege und Zuwendung moderiert werden Sorgfältige Pflege ist assoziert mit weniger starkem Anstieg oder Dauer oder HHNA Aktivierung bei Kindern im ersten Lebensjahr (Cottrel &Seckl, 2009) Adoptionsstudien: unterstützende Pflege normalisiert Stresshormonlevel schon nach nur 10 Wochen (Gunnar et al., 2008)
22 Einführung Emotionale Vernachlässigung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindungsstörung Kindeswohlgefährdung Therapie
23 2,65 Mill. Kinder bis 18 J. sind dauerhaft oder zeitweise von elterlicher Alkoholabhängigkeit betroffen (Klein 2008) Kinder haben drogenabhängige Eltern 40% dieser Kinder erhalten keinerlei institutionelle Unterstützung Kinder werden jährlich mit Alkoholembryopathie geboren (4 von 1000) 4-5 Mill. erwachsene Kinder suchtkranker Eltern haben später psychische Störungen
24 Haupterfahrungen der Kinder suchtkranker Eltern Volatilität des Elternverhaltens Instabilität Unberechenbarkeit Unkontrolliertheit Gewalt (Zeuge und/oder Opfer) Misshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung Verlusterlebnisse, Diskontinuitäten Leugnung, Ängste, Verzweiflungsgefühle, suizidale Fantasien und Verfolgungsideen
25 Für Kinder höherer Stress als für Eltern durch Mangelnde Bewältigungsmechanismen Ohnmacht, Gefühl ausgeliefert zu sein Als Zeuge nicht handeln zu können Mangelnde Verbalisierungsmöglichkeit Einsamkeit und Isolation Schuld- und Schamgefühle
26 Drogenabhängige Eltern: Sind häufiger im Fokus als alkoholabhängige Eltern (1 zu 15) Es besteht Illegalität, soziale Randstellung und Verarmung Fremdplatzierung der Kinder vor Substitution liegt bei 70% Bei Substitution weniger Fremdplazierungen (30%) Höhere Quote von Kindesvernachlässigung
27 Risiko von Traumatisierungen bei Kindern alkoholkranker Eltern Subsyndromale PTBS 9,4% Sexuelle Gewalt OR 2.3 (1.4,3.2) Körperliche Gewalt OR 3.4 Kombiniert OR 1.9 Greifswalder Familienstudie 2008
28 Bei % aller Gerichtsfälle von kindlichem Missbrauch oder Vernachlässigung bestand bei einem Elternteil Alkohol- oder Drogenabhängigkeit
29 Konstellationen in dysfunktionalen Familien Suchtstörungen in Familien treten meist in Kombination mit anderen Stressoren und Belastungsfaktoren auf. Diese bilden für die betroffenen Kinder widrige Kindheitserfahrungen ( adverse childhood effects ; ACE)
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31 Konstellationen in dysfunktionalen Familien Die wichtigsten 9 widrigen Kindheitserfahrungen (adverse childhood effects ACE s ) sind: 1. emotionaler Missbrauch 2. Körperliche Misshandlung 3. Sexueller Missbrauch 4. Emotionale Vernachlässigung 5. Körperliche Vernachlässigung 6. Geschlagene Mutter 7. Elterliche Komorbidität 8. Elterliche Trennung und Scheidung 9. Elternteil im Strafvollzug Dube et al., 2011
32 Kummulative Effekte von Kindheitsbelastungen (4 oder mehr Kindheitsbelastungen) Im Vergleich zu Erwachsenen, die einen ACE score von 0 haben, finden sich erhöhte Wahrscheinlichkeiten für Koronare Herzerkrankung 220 % Diabetes mellitus 160 % Chronische Bronchitis 390 % Depressive Störung 460 % Suizidversuch 1220 % Nikotinabusus 220 % Gebrauch illegaler Drogen 470 % Übermäßiger Alkoholkonsum 740 % i.v. Gebrauch illegaler Drogen 1030 % Ein ACE score von 6 oder mehr reduziert die Lebenserwartung um 20 Jahre N = Anda & Felitti 2011
33 Was macht extremer Stress mit Kindern? Veränderung der Stress-Reaktionssysteme (epigenetische Veränderungen) Veränderung der Genexpression, der Myelinisierung, der neuronalen Morphologie, der Neurogenese und der Synaptogenese Timing der Schädigung ist von großer Bedeutung Schädigung des Neurokortex und limbischen Systems Schwere psychiatrische Folgen wie PTBS, Suchterkrankungen, Depression usw. Huber M (2014)
34 Defizit Diagnostik Ressourcendiagnostik
35 Einführung Emotionale Vernachlässigung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindungsstörung Kindeswohlgefährdung Therapie
36 Mary Ainsworth ( ) Bindungstheorie Kernannahme Die Organisation der Emotionen des Säuglings wird unterstützt durch die mütterliche Feinfühligkeit und zur Basis für die Entwicklung von Selbstwertgefühl und Beziehung zu Anderen. John Bowlby (
37 Verteilung von Bindungsmustern in Deutschland (13 Studien, Gloger-Tippelt & Vetter, 2000) sicher gebunden 45,5 % unsicher vermeidend gebunden 27,7 % unsicher ambivalent gebunden 6,9 % desorientiert / desorganisiert gebunden 19,9 % Ursache: Unverarbeitetes Trauma der Eltern oder des Säuglings / Kleinkinds bei 75-80%
38 Folgen der Bindungsmuster Sichere Bindung Schutzfaktor bei Belastungen Bessere Bewältigungsmöglichkeiten Kann sich Hilfe holen Zeigt mehr gemeinschaftliches Verhalten Empathie für emotionale Situation von anderen Menschen Hat mehr Beziehungen Zeigt mehr Kreativität Hat mehr Flexibilität und Ausdauer Hat mehr Gedächtnisleistung und Lernvermögen
39 Folgen der Bindungsmuster Unsichere Bindung Risikofaktor bei Belastungen Es bestehen weniger Bewältigungsmöglichkeiten Bei Lösungen von Problemen eher alleine Rückzug aus gemeinschaftlichen Aktivitäten Hat weniger Beziehungen Zeigt mehr Rigidität im Denken und Handeln Zeigt weniger prosoziale Verhaltensweisen Hat schlechtere Gedächtnisleistungen und Lernprobleme
40 Folgen der Bindungsmuster Desorganisierte Bindung Zeigt widersprüchliche Verhaltensweisen von Nähesuchen und Vermeidung Zeigt Verhaltensstereotypien Einfrieren der Bewegung Absencen, dissoziative Zustände
41 Ursachen für Unterschiede im Bindungsmuster Elterliche Feinfühligkeit Prompte, angemessene Reaktion auf kindliche Bedürfnisse Inkonsistentes Verhalten der Mutter und eine indifferente, emotional nicht ansprechbare Mutter führt zu unsicherem Bindungsverhalten Traumatisierendes, nicht vorhersehbares Verhalten der Mutter führt zu desorganisiertem Verhalten beim Kind
42 Feinfühligkeit Die Pflegperson muss die Signale des Säuglings wahrnehmen richtig interpretieren angemessen reagieren prompt reagieren
43 Feinfühligkeit Verhalten Sprache Rhythmus Blickkontakt Berührung
44 Sprachliche Interaktion Förderung einer sicheren Bindung durch die Verbalisierung der inneren Welt der affektiven Zustände der Handlungszusammenhänge des Säuglings
45 Blickkontakt Blickkontakt mit gelungener Affektabstimmung (Intersubjektivität) zwischen Säugling und Pflegeperson fördert die sichere Bindungsentwicklung
46 Berührung Feinfühlige Berührung und Körperkontakt zwischen Pflegeperson und Säugling fördert die sichere Bindungsentwicklung
47 Einführung Emotionale Vernachlässigung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindungsstörung Kindeswohlgefährdung Therapie
48 Ute Ziegenhain 2016
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51 Einführung Emotionale Vernachlässigung Entwicklung Psychosozialer Entwicklungsrahmen Bindungsstörung Beziehungstraumata und seelische Störungen Kindeswohlgefährdung Therapie
52 Die Perspektive der Kinder Trennung von der Hauptbindungsperson vs. ergänzendes Beziehungsangebot Chance für neue, ergänzende oder kompensatorische Beziehungserfahrungen Keine Beeinträchtigung der Mutter-Kind-Bindung durch den Aufbau einer weiteren emotionalen Beziehung zur Erzieherin
53 Stressregulationsstörungen Eigene Traumatisierung Depression Angst Sucht beeinträchtigen die Mentalisierungsfähigkeit. Das Baby wird als Belastung empfunden, das Mentalisieren ausgeschaltet: Das Schreien wird als Anklage, als Angriff erlebt
54 Die Unfähigkeit innere Bilder zu lesen Er schreit um mich zu ärgern Er brüllt sofort, wenn ich ihn auf den Arm nehme Er lächelt mich nie an Ich weiß nie, was er eigentlich will Stress beeinträchtigt die spielerische und reflektierende Aktivität zu Gunsten handlungsorientierter Entscheidungen
55 Therapeutische Strategie Interesse an den Gefühlen, Konflikten und Ambivalenzen der Mutter zeigen Übernahme der Alpha Funktion (Bion): Schaffung eines Zustandes für die Mutter, über das, was sie denkt, nach zu denken, dem Anfang der Reflektion Die Bedürfnisse des Babys zu denken Dem Baby eine Stimme verleihen
56 Therapeutische Ziele Dem Baby einen Platz geben, in den Gedanken und Gefühlen und seiner gegenwärtig zu sein (Winnicott) Sich auf responsive und sensible Weise dem Baby anzupassen Mütterliche Repräsentationen zu modifizieren und die Reflexionsfähigkeit zu verbessern Veränderung der Interaktionsfähigkeit
57 Reflexions- und Mentalisierungsfähigkeit Die Fähigkeit vokale, mimische und körperliche Kommunikation als Signale der Bedürfnisse des Babys lesen zu können Mit Sprache nicht beobachtbares zu interpretieren, sich der Erlebniswelt des Babys anzupassen Wenn das Baby meine Stimme nicht mehr hört ist es einsam und weint
58 Mütterliche Reflexion ist einseitiges Mentalisieren Das Baby nimmt die Mühe wahr, nicht nur körperlich versorgt zu werden, sondern auch unsichtbare Zustände werden in Worte gefasst Ich glaube du hast Hunger, bist erschreckt, einsam, aufgeregt... Innere lust- und unlustvolle Empfindungen werden mit Erfahrungen verknüpft, der andere reagiert, dadurch wird die Erfahrung handhabbar Die innere Landschaft des Babys wird nachempfunden
59 Video Alltagssequenzen: Füttern, Spielen Trösten u.a. Baby lesen lernen, die Gefühle bewusst werden lassen: Gute Sequenzen, später nicht gut abgestimmte Sequenzen: Ich frage mich, ob er verstanden hat was sie erwarten? Spürt er wie verzweifelt sie waren? Ist das Baby wirklich absichtlich in der Lage sie zu ärgern? Baby wird müde,das ist keine Ablehnung
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63 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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