4 Kapitel Meromorphe Funktionen Der Weierstraßsche Produktsatz Unser nächstes Problem soll sein, zu einer vorgegebenen Menge von Punkten eine holomorphe Funktion zu suchen, die genau in den Punkten Nullstellen hat. Der Identitätssatz sagt, daß das nur gehen kann, wenn die Menge diskret im Gebiet ist (falls nicht die Nullfunktion gesucht ist). Wir können deshalb die Menge wieder als Folge ( ) schreiben und optimistisch auch noch gewünschte Nullstellenordnungen (n ν ) zulassen.. Angenommen, die Folge ist endlich. Dann kann das Problem gelöst werden mittels k f(z) := (z ) nν.. Ist die Folge unendlich, dann klappt das nicht so ohne weiteres. Wir hätten gerne, daß ein unendliches Produkt (z ) nν gebildet werden kann. Allerdings, was soll das sein? Der naive Ansatz ist das Bilden endlicher Produkte bis zu einem ν 0 und dem anschließenden Grenzübergang nach Unendlich. Wir werden aber sehen, daß noch ein paar Zusätze nötig sind, um zum Beispiel sicherzustellen, daß ein unendliches Produkt nur dann gleich Null ist, wenn einer der Faktoren Null ist (denn sonst könnte der obige Ansatz ja zuviele Nullstellen liefern). Definition. Sei ( ) C. Das unendliche Produkt existiert, falls gilt: Entweder sind alle 0, es existiert der Grenzwert a := lim ist a 0, n und es oder es gibt ein ν 0, so dass 0 für alle ν ν 0 ist, und es existiert a := ν 0 im obigen Sinne. Dann setzen wir a := a. In den beiden angegebenen Fällen ist das Produkt nicht. := a, in allen anderen Fällen existiert Zunächst leiten wir einige elementare Eigenschaften unendlicher Produkte her :. Satz. Das unendliche Produkt existiere. Dann gilt :
Der Weierstraßsche Produktsatz 5. = 0 genau dann, wenn mindestens ein gleich Null ist.. Die Folge ( ) ist eine -Folge, d.h. es ist lim ν =. Beweis: () folgt direkt aus der Definition. () Ohne Einschränkung sind alle ungleich Null, da es ohnehin nur endlich viele Ausnahmen geben darf und die bei der Grenzwertbetrachtung unwichtig sind. n Dann existiert der Grenzwert a := lim 0. Nun wird a n als Quotient der Partialprodukte dargestellt, und es folgt lim a n = a a =. a n = n n, Als Schreibweise vereinbaren wir nun = + u ν. Dann ist notwendig für die Existenz des Produktes der, dass die u ν eine Nullfolge bilden.. Satz. Das unendliche Produkt ( + u ν ) existiert genau dann, wenn es ein ν 0 gibt, so dass für alle ν ν 0 gilt :. u ν {x R x },. log( + u ν ) ist konvergent. Bemerkungen.. Mit log ist der Hauptzweig des natürlichen Logarithmus gemeint. Diese Bezeichnung behalten wir im ganzen Kapitel bei.. Der Satz ermöglicht uns, die Konvergenz von Produkten mit unendlichen Summen zu entscheiden. Für die haben wir schon viele Kriterien! Beweis: ) Angenommen, es gelten die beiden Bedingungen, dann ist n n ( + u ν ) = exp log( + u ν ) = exp( n log( + u ν )). Weil die unendliche Summe existiert, und die Exponentialfunktion stetig ist, gilt:
6 Kapitel Meromorphe Funktionen ( + u ν ) = exp( log( + u ν )). Also existiert das Produkt im Sinne des zweiten Teils der Definition. ) Es existiere ( + u ν ). Sei ν so gewählt, dass + u ν 0 für alle ν ν. Für n ν sei P n := (+u ν ). ν=ν Dann existiert der Grenzwert P = lim P n und ist ungleich Null. Weiterhin existiert ν 0 ν, so dass für ν, µ ν 0 gilt. P ν P µ < 4 P, da P n eine Cauchyfolge ist.. P < P µ, weil die P µ gegen P 0 konvergieren. Dann ist P ν P µ < P µ, das heißt n P ν P µ < für alle ν, µ ν 0. Dabei sei ohne Einschränkung ν > µ. Dann ist ν λ=µ+ ( + u λ ) D () für ν > µ ν 0. Deshalb ist speziell + u λ R für λ ν 0 und der Grenzwert lim n λ=ν 0 + ( + u λ ) D liegt im Abschluss des Kreises. Nun ist der Logarithmus anwendbar, und es ergibt sich n log ( + u ν ) = lim ( + u ν ) = lim + n + log log( + u ν ) = (), + + log( + u ν ). Definition. Das unendliche Produkt ( + u ν ) heißt absolut konvergent genau dann, wenn es ein ν 0 gibt, so dass für alle ν ν 0 gilt:. u ν {x R : x },. log( + u ν ) konvergiert absolut.
Der Weierstraßsche Produktsatz 7.3 Satz. Das unendliche Produkt ( + u ν ) konvergiert absolut genau dann, wenn die Reihe u ν absolut konvergiert. Beweis: Wegen log() = 0 und log () = existiert der Grenzwert lim u 0 log( + u) u Deshalb können wir ein ε zwischen 0 und log( + u) u Daraus folgt aber eine Abschätzung nach unten: =. finden, so dass ist, für u < ε. u u log( + u) u log( + u), und daher log( + u) u. Andererseits kann die Dreiecksungleichung auch so angewendet werden: Das liefert als Abschätzung nach oben u log( + u) u log( + u) u log( + u) 3 u. Damit haben wir log( + u) eingeschlossen : u log( + u) 3 u. Ist das unendliche Produkt absolut konvergent, so bilden die u ν eine Nullfolge und es gibt ein ν 0, so dass u ν < ε für alle ν ν 0 ist. Dann ist aber log( + u ν ) u ν, und es folgt, dass die Reihe u ν absolut konvergiert. Falls die Reihe u ν absolut konvergiert, so bilden die u ν wieder eine Nullfolge, und es muss ein ν 0 geben, so dass u ν {x R : x } für ν ν 0 ist. Weil log( + u ν ) 3 u ν ist, folgt die absolute Konvergenz des unendlichen Produktes. Definition. Sei G C ein Gebiet, (f ν ) eine Folge stetiger Funktionen auf G. Das Produkt ( + f ν ) heißt punktweise konvergent gegen eine Funktion f : G C,
8 Kapitel Meromorphe Funktionen falls ( + f ν (z)) für jedes z G gegen f(z) konvergiert. Das Produkt heißt absolut lokal-gleichmäßig konvergent, falls absolut bzw. lokal-gleichmäßig konvergiert. f ν.4 Satz. Sei (f ν ) O(G) eine Folge holomorpher Funktionen. Das Produkt (+f ν ) sei absolut lokal-gleichmäßig konvergent. Dann konvergiert die Folge der Partialprodukte F n := n ( + f ν ) auf G kompakt gegen eine holomorphe Funktion. Beweis: Zunächst konvergiert die Folge F n schon einmal punktweise gegen eine Funktion f : G C. Wenn wir zeigen, dass die Folge sogar lokal-gleichmäßig konvergiert, dann sind wir fertig. Sei z 0 G und U = U(z 0 ) eine Umgebung, so dass f ν auf U absolut gleichmäßig konvergent ist. Ist 0 < ε <, dann gibt es ein ν 0, so dass f ν U < ε für alle ν ν 0 gilt. Wählen wir jetzt das ε noch so klein, dass log( + u) u dann gilt die schon gezeigte Einschließung für u ε ist, Definieren wir jetzt f ν(z) log( + f ν (z) 3 f ν(z) für ν ν 0, z U. h n (z) := n log( + f ν (z)), dann konvergieren die h n auf U gleichmäßig gegen eine holomorphe Funktion h, da die Reihe über die f ν absolut gleichmäßig auf U konvergiert. Außerdem gilt: F n (z) = [ ν0 ] ( + f ν (z)) exp(h n (z)). Sei jetzt U = U (z 0 ) U. Aus dem nachfolgenden Hilfssatz erhält man nun: exp(h n ) konvergiert auf U gleichmäßig gegen exp(h). Damit konvergiert auch die Folge F n auf U gleichmäßig gegen die Funktion [ ν0 ] F (z) := ( + f ν (z)) exp(h(z)),
Der Weierstraßsche Produktsatz 9 d.h. insbesondere ist f = F. Daraus folgt die Holomorphie von f..5 Hilfssatz. Ist U C offen, K U kompakt, (h n ) C(U) eine auf U gleichmäßig konvergente Folge stetiger Funktionen mit stetiger Grenzfunktion h und ϕ eine stetige Funktion auf C, so gilt: Die Folge der Funktionen ϕ h n konvergiert auf K gleichmäßig gegen ϕ h. Beweis: Die Menge K 0 := h(k) C ist kompakt und die Menge K := {w C : dist(w, K 0 ) } ist ebenfalls kompakt. Sei ε > 0 vorgegeben. Die stetige Funktion ϕ ist auf jeder kompakten Menge gleichmäßig stetig, insbesondere auf K. Es gibt also ein δ > 0 (das man < wählen kann), so dass ϕ(w) ϕ(w ) < ε ist, sofern nur w, w K und w w < δ ist. Zu diesem δ gibt es ein n 0, so dass h n (z) h(z) < δ für n n 0 und z K ist. Also liegt h n (K) K für n n 0. Für z K und n n 0 ist dann ϕ(h n (z)) ϕ(h(z)) < ε. Definition. Sei G C offen. Eine Nullstellenverteilung (oder ein positiver Divisor) auf G besteht aus einer in G diskreten Menge D und einer Familie von Ordnungen (n a ) a D, wobei die n a natürliche Zahlen sind. Eine Lösung der Nullstellenverteilung ist eine holomorphe Funktion f O(G), die genau in den Punkten a D Nullstellen der Ordnung n a hat..6 Satz. Jede Nullstellenverteilung in C ist lösbar. Beweis: Sei D C unendlich und diskret, (n a ) a D seien die Nullstellenordnungen. Wir schreiben D als Folge, D = { ν N}, so dass die nach ihren Beträgen aufsteigend geordnet sind. Außerdem können wir annehmen, dass jede Nullstellenordnung genau = ist, indem wir jeden Punkt a D genau n a -mal in der Folge auftreten lassen. Da D diskret in C ist, geht die Folge der Beträge monoton gegen unendlich. Betrachten wir nun für n N 0 spezielle Funktionen: E 0 (z) := z und E n (z) := ( z) exp(z + z + + zn ) für n. n Jedes E n ist eine ganze Funktion mit genau einer Nullstelle bei z =. Behauptung: Für z ist E n (z) z n+. Beweis dazu: Wir bestimmen zunächst die erste Ableitung E n(z) = exp(z + z zn + + n )+( z) (+z + +zn ) exp(z + z zn + + n ) = z n exp(z + z + + zn n ) = zn a λ z λ,
0 Kapitel Meromorphe Funktionen mit reellen Koeffizienten a λ > 0, a 0 =. Dann ist = wobei die b λ = a λ z E n (z) = E n (0) E n (z) = z 0 a λ λ + n + w λ+n dw = 0 sind. Sei a λ ( w λ+n+ λ + n + ϕ(z) := E n(z) z n+ = Für z folgt die Behauptung dann aus 0 E n(w)dw ) z = z n+ 0 b λ z λ. b λ z λ, ϕ(z) b λ z λ b λ = ϕ() = E n () =. Mit Hilfe der E n versuchen wir jetzt die Konstruktion einer Lösung der Nullstellenverteilung. Für jedes ν N ist (bei Wahl einer zunächst völlig beliebigen Zahl k ν N) die Funktion E kν ( z ) eine ganze Funktion, die genau in z = eine einfache Nullstelle hat. Das Produkt E kν ( z ) ist holomorph auf C, falls die Summe (E kν ( z ) ) absolut und kompakt auf C konvergiert. Wegen der gezeigten Abschätzung für E n ist das gleichbedeutend mit der kompakten Konvergenz von z kν+ auf jeder Kreisscheibe, denn z wird auf jeder festen Kreisscheibe für großes ν kleiner als (wegen ). Wir suchen also Zahlen k ν, so dass gilt: ( ) kν+ r < für alle r > 0. Versuchsweise setzen wir k ν := ν für alle ν. Ist r > 0 gegeben, dann existiert r ein ν 0, so dass < für alle ν ν 0. Dann ist ν ν 0 ( r )kν+ ν ν 0 ( )ν <.
Der Weierstraßsche Produktsatz Also konvergiert das Produkt absolut und kompakt gegen eine holomorphe Funktion, die die Nullstellenverteilung löst. Wir formulieren das Ergebnis noch einmal :.7 Weierstraßscher Produktsatz. Sei ( ) eine Folge verschiedener komplexer Zahlen, so dass lim = ist. Außerdem sei eine Folge (n ν ) von Vielfachheiten gegeben. Dann existiert eine Folge natürlicher Zahlen (k ν ), so daß ν [ ( f(z) := z n0 ( z kν )] ) exp µ ( z nν ) µ eine ganze Funktion ist, die genau in den Nullstellen der Ordnung n ν hat. Die Konvergenz ist gegeben, wenn ( r )kν+ für jedes r > 0 konvergiert. Ist g eine weitere Lösung der Nullstellenverteilung, dann existiert eine ganze Funktion h, so daß g = f exp(h) ist. Bemerkung. Die letzte Behauptung gilt, da der Quotient g/f eine ganze, nullstellenfreie Funktion ist, von der auf dem einfach zusammenhängenden Gebiet C ein Logarithmus existiert. µ= Beispiel. Die Funktion f(z) := sin(πz) hat als Nullstellenverteilung lauter einfache Nullstellen, und zwar in allen ganzen Zahlen ν Z. Die Summe ( ) r = ν ν 0 r ν machen den Ansatz konvergiert für jedes feste r. Deshalb setzen wir alle k ν = und sin(πz) = exp(h(z)) z ( z ν ) exp(z ν ), mit einer ganzen Funktion h. Wir versuchen, h zu bestimmen, indem wir auf beiden Seiten die logarithmische Ableitung (log f) = f bilden: π cot(πz) = = h (z) + z + ν 0 ( ν 0 h(z) + log z + ν 0 ( ν z ν f ( log( z ν ) + z ) ) ν + ) = h (z) + ν z + ν 0 ( z ν + ) ν
Kapitel Meromorphe Funktionen Aus der Darstellung des Cotangens, die wir aus dem Satz von Mittag-Leffler gewonnen haben, ergibt sich, dass h (z) 0 sein muss, also h(z) c. Wir bestimmen nun noch die Konstante c. Aus π sin(πz) πz = exp(c) ν 0( z ν ) exp(z ν ) folgt beim Grenzübergang für z 0 die Gleichung π = exp(c). Damit haben wir folgende Identität bewiesen:.8 Satz. [ ] sin(πz) = πz ( z ν ) exp(z ν ) = πz ( z ν ). ν 0 Bemerkung. Die konvergenzerzeugenden Faktoren heben sich weg, da über alle ganzen Zahlen 0 multipliziert wird..9 Folgerung (Wallis sche Formel). Eine Produktdarstellung für π ist π = (ν) (ν )(ν + ) = lim (n + ) n (ν) (ν + ). Beweis: Setze z := in der Produktdarstellung von sin(πz): = sin( π ) = π ( (ν) ) = π dann ergibt sich (ν) (ν), π = (ν) (ν )(ν + ). Die zweite Darstellung folgt aus der ersten nach Betrachtung der Partialprodukte: lim 3 4 3 5 6 5 7 (n) (n )(n + ) = lim (n + ) n (ν) (ν + ).