LERNEN AUS FEHLERN: SYSTEMORIENTIERTE FALLANALYSEN PROBLEMATISCH VERLAUFENER KINDERSCHUTZFÄLLE. METHODISCHES VORGEHEN UND AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE.

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Transkript:

ASD-BUNDESKONGRESS 2016 14. 16. SEPTEMBER 2016 UNIVERSITÄT KASSEL LERNEN AUS FEHLERN: SYSTEMORIENTIERTE FALLANALYSEN PROBLEMATISCH VERLAUFENER KINDERSCHUTZFÄLLE. METHODISCHES VORGEHEN UND AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE. Susanna Lillig Deutsches Jugendinstitut München Fachgruppe Nationales Zentrum Frühe Hilfen - www.fruehehilfen.de lillig@dji.de

INHALTSÜBERSICHT Konzeptioneller Hintergrund für Fallanalysen Methodisches Vorgehen bei systemorientierten Fallanalysen Skizzierung von bislang fünf Fällen Auswahl von Ergebnissen aus den Analyseprozessen I Interaktion Fachkräfte Familie II Konzeption von Hilfe für die Familie und Schutz für das Kind III Prozess der Gefährdungseinschätzung IV Interinstitutionelle Kooperation und Kommunikation V Arbeitsbedingungen / Strukturelle Rahmenbedingungen Einige Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kinderschutzarbeit Veröffentlichung des Projektberichtes Anfang 2017 auf www.fruehehilfen.de/qualitaetsentwicklung-im-kinderschutz/

KONZEPTIONELLER HINTERGRUND Systemorientierte Perspektive, aufbauend auf dem Modell des Systems Approach Learning Together des Social Care Institutes for Excellence (SCIE) Kollegiale Beratung und Begleitung durch Sheila Fish >> Fachkräfte als Teil von Systemen >> Organisatorisches Design beeinflusst Arbeitsweisen Ziele: Herausarbeitung von und vertieftes Verständnis für systembezogene Einflussfaktoren und Ursachen, die Schwierigkeiten im Arbeits- und Kooperationsprozess erzeugt haben Keine Suche nach individuell Schuldigen Bewertung der Praxis stets im Dialog mit der Praxis Welche Lehren lassen sich für die beteiligten Organisationen aus dem Analyseprozess und den Ergebnissen ableiten? Einzelfall als Fenster zum Kinderschutzsystem: Welche wiederkehrenden Risikomuster lassen sich erkennen? Systemorientierte Fallanalysen als Beitrag zur Weiterentwicklung der Kinderschutz-Praxis, auch im Hinblick auf zukünftig eher vermeidbare Fehler Mit vermeidbaren Fehlern bezeichnet Eileen Munro u.a. ein Festhalten an Einschätzungen und Entscheidungen obwohl sich im Fallverlauf oder durch eigene Reflexion neue Informationen und Perspektiven ergeben haben. Siehe Munro E. (1996). Avoidable and Unavoidable Mistakes in Child Protection Work. British Journal of Social Work, 26, 793-808.

SYSTEMORIENTIERTE PERSPEKTIVE Leitende Prinzipien für die Fallanalyse (1) Vermeidung von Verzerrungen durch eine rein rückblickende Betrachtung: hindsight bias Abbildung aus: Dekker S. (2002). The Field Guide to Understanding Human Error. Ashgate Publishing Limited. (2) Bewertung der Praxis stets in Verbindung mit der Suche nach Einflussfaktoren und Ursachen - im Dialog mit den Fachkräften - >> Warum erschien es damals sinnvoll, vertretbar, geeignet? (3) Welche Lehren können wir daraus für unsere Praxis / die Organisation ziehen? >> Fall als Fenster auf das Kinderschutzsystem welche wiederkehrenden Risikomuster lassen sich erkennen?

UNTERSUCHUNGSBEREICHE Hilfeprozessverlauf Hilfekonzept Risikoeinschätzung Institutionelle Rahmenbedingungen Kooperation und Vernetzung der beteiligten Institutionen und Fachkräfte

Aktenanalysen METHODISCHES VORGEHEN IM RAHMEN SYSTEMORIENTIERTER FALLANALYSEN Interviews im Tandem mit Fachkräften und Familienmitgliedern Schriftliche Rekonstruktion des Fallverlaufs auf drei Ebenen: a) Familiengeschichte b) Aktivitäten, Entscheidungen des Hilfesystems c) Einschätzungen von Risiken, Personen, familiären Dynamiken Fall- und Reviewteams mit fallbeteiligten Fachkräften auf Fall- und Leitungsebene sowie mit Steuerungs- und Konzeptverantwortlichen: >> Präsentation des rekonstruierten Fallverlaufs >> Identifikation und gemeinsame Erörterung von besonderen Schlüsselstellen, kritischen Episoden, problematischen Themen >> Generalisierende Perspektive: Kennen Sie das aus anderen Fällen? >> Diskussion von konkreten organisationsinternen und kooperationsbezogenen Weiterentwicklungsbedarfen >> Vereinbarungen der Umsetzungsschritte zur Weiterentwicklung Verschriftlichung und Abstimmung der Ergebnisse

BISLANG FÜNF FÄLLE Kontext frühe Kindheit und Frühe Hilfen, z.t. mehrjährige Hilfeprozesse Alter der Kinder: Neugeboren - 3 Jahre Alter der Eltern: Zwischen 18 und ca. 30 Jahren Beteiligte Fachkräfte aus Jugendamt, Gesundheitshilfe, von Freien Trägern - ambulante Hilfen, Fachdienste Zwei Großstädte, ein Flächenlandkreis

BISLANG FÜNF FÄLLE Problemlagen Junge und überforderte Mütter oder Eltern Psychisch kranke Mütter Konflikthafte und sehr belastete Paarbeziehung mit Trennungswünschen Mutter erkennt Bedürfnisse ihres Kindes nicht und Bindungsaufbau zu zwei früheren Kindern gescheitert Drogenerfahrung der Eltern

BISLANG FÜNF FÄLLE Anlass für die Fallanalyse Schütteltrauma mit Todesfolge Biss- und Brandwunde des Kindes Körperliche Misshandlung des Kindes und Kind alleine in Wohnung zurück gelassen Entlassung des Kindes aus Geburtsklinik nach Hause bei sehr hoher Kontrollpräsenz verschiedener Fachkräfte; Unterschiedliche Gefährdungseinschätzungen der systembeteiligten Fachkräfte Misshandlung mit Todesfolge

I AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE AUS FÜNF FÄLLEN Interaktionen von Fachkräften mit der Familie Schwierige Themen werden vermieden oder geschönt und Kompromisse in der Konzeption von Hilfe und Schutz eingegangen, die hinter den Bedürfnissen des Kindes zurück bleiben. Mögliche Hintergründe Aus Angst, den Kontakt zu den Eltern zu verlieren, werden Schwierigkeiten nicht offen angesprochen und unklare Situationen im Unklaren belassen. Eltern mit Schwierigkeiten, Defiziten und Risiken zu konfrontieren, kann den Aufbau einer tragfähigen Arbeitsbeziehung belasten oder gar gefährden. Die Abklärung von Risiken für das Kind und von Verletzungen wird folglich nicht oder nur zögerlich umgesetzt, weil dadurch eine Belastung des ambivalenten und brüchigen Kontaktes zur Familie befürchtet wird. Dies kann jedoch für Eltern zur Folge haben, dass Entscheidungen der Fachkräfte nicht oder nur eingeschränkt nachvollziehbar sind sowie an sie gestellte Erwartungen und Veränderungsziele diffus bleiben. Die (vermuteten) Grenzen der Mutter werden zum Maßstab für die Auswahl der Hilfen. Fachkräfte scheuen die Konfrontation der Mutter mit den Sorgen um das Kind sowie die Umsetzung von Schutzmaßnahmen aus Sorge um die Gesundheit und das Leben der Mutter (psychisch kranke Mutter; drohender Suizid).

AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE AUS FÜNF FÄLLEN II Konzeptionen von Hilfe für die Familie und Schutz für das Kind Das Kind und seine Belastungen oder Schädigungen sowie die Behandlung bereits entstandener Defizite geraten aus dem Blick. Mögliche Hintergründe Hohe Falldynamik, Ausmaß der Problemlagen (z.b. komplexes Krankheitsbild eines Elternteils) und Ambivalenz der Erwachsenen binden die Aufmerksamkeit der Fachkräfte. Darüber geraten die tatsächliche (Versorgungs-)Situation des Kindes und seine Entwicklungsbedürfnisse aus dem Blick. Der Schutzgedanke überlagert die Wahrnehmung des Förderbedarfs des Kindes die Behandlung von Entwicklungsverzögerungen wird nicht mit hoher Priorität verfolgt. Der Erfolg des Hilfeverlaufs wird nicht vom Kind aus bewertet. Hilfen werden verfolgt, abgebrochen, verändert etc. ohne dass die Konsequenzen für das Kind reflektiert werden. Nicht-Abbruch des Hilfekontakts durch die Erwachsenen (Kooperation) wird zum impliziten Erfolgskriterium für Hilfe.

AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE AUS FÜNF FÄLLEN III Prozess der Gefährdungseinschätzung Kooperationsbereitschaft wird mit Veränderungsfähigkeit gleich gesetzt. Ressourcen und Stärken der Familie werden überschätzt. Mögliche Hintergründe Unsicherheit, wie Veränderungsfähigkeit beurteilt werden kann. (Positive) Veränderungen des elterlichen Verhaltens bei Versorgung und Förderung ihrer Kinder werden im Rahmen einer Bilanzierung des Hilfeerfolgs nicht erhoben. Guter Kontakt und viel Nähe zur Familie können dazu führen, dass sie einen klaren Blick auf mögliche Risiken verstellen. Auch Milieuakzeptanz bei langjähriger Arbeit in einem bestimmten Problemfeld.

AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE AUS FÜNF FÄLLEN IV Interinstitutionelle Kooperation und Kommunikation (Unterschiedliche) Einschätzungen des Gefährdungsrisikos werden nicht systematisch zusammengeführt, reflektiert und abgeglichen. Mögliche Hintergründe - Riskanter Umgang mit Dissens Die Risikoeinschätzung ist Aufgabe des Jugendamtes. Zweifel an der Angemessenheit dieser Einschätzung werden nicht nachhaltig eingebracht, weil dem Jugendamt als letztverantwortlicher Stelle die Verantwortung zugeschrieben wird bzw. dieses diese auch für sich in Anspruch nimmt. Helferkonferenzen sollen nicht unnötig in die Länge gezogen. Auseinandersetzungen mit dem Auftraggeber werden vermieden. Konfliktvermeidendes Verhalten in Helferkonferenzen bzw. zwischen Helfern. Dissens wird wahrgenommen aber nicht nachhaltig eingebracht bzw. aufgegriffen. Fehlendes Beschwerdemanagement: Es gibt keine Vereinbarungen oder klare Verfahrensweisen im Konfliktfall bzw. das Konfliktmanagement ist nicht aufeinander abgestimmt. Beschwerden werden von Kooperationspartnern schriftlich eingebracht in der Hoffnung, dass dies zu der erhofften Intervention der Leitung führt.

AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE AUS FÜNF FÄLLEN V Arbeitsbedingungen / Strukturelle Rahmenbedingungen Qualitätssichernde Verfahren und Regelungen entfalten keine Wirkung Mögliche Hintergründe Die QS-Verfahren (Supervision, Intervision) zur Reflexion von Fällen zeigen nicht die erhoffte Wirkung im Hinblick darauf, durch das Mehraugenprinzip Fehleinschätzungen zu vermeiden. Begrenzte zeitliche Ressourcen sowie hohe Arbeitsbelastungen aller Beteiligter wirken sich einschränkend auf die Qualität der kollegialen Beratung aus. Kollegiale Beratung fällt in Phasen hoher Arbeitsdichte aus oder kann nicht ausreichend problemanalysierend durchgeführt werden. Vorgesetzte können oftmals nur schriftlich informiert werden oder können den Arbeitsprozess nur auf dem Hintergrund der Plausibilität in der Darstellung der Fachkraft prüfen. Aufgrund hoher Arbeitsdichte gelingt keine Co-Arbeit. Somit kann keine zusätzliche fachliche Perspektive in die Reflexionen einbezogen werden. Die Beurteilungs- und Interpretationsmöglichkeiten sind somit eingeschränkt.

FAZIT Ergebnisse aus allen Fallanalysen weisen daraufhin, dass sich aufgabenbezogene Schwierigkeiten in der Kinderschutzpraxis gezeigt haben nicht nur individuelle, spezifisch interinstitutionelle oder lokale Schwierigkeiten. Was ließe sich tun?

AUSWAHL AN EMPFEHLUNGEN ZUR WEITERENTWICKLUNG DER KINDERSCHUTZARBEIT (1) Veränderte Strukturierung von Intervisionen zur Vermeidung von Bestätigungsfehlern (z.b. durch Einbezug verschiedener Perspektiven, Beteiligung einer externen Moderation) Systematische Orte für die interdisziplinäre Gefährdungseinschätzung auch begleitend zum Hilfeprozess Möglichkeit der Co-Arbeit in Kinderschutzfällen Stärkere persönliche Präsenz von Leitungskräften bei Entscheidungsprozessen

AUSWAHL AN EMPFEHLUNGEN ZUR WEITERENTWICKLUNG DER KINDERSCHUTZARBEIT (2) Qualifizierung der Risikoeinschätzung > Unterstützung und praxisorientierte Fortbildung der Fachkräfte > Nutzung strukturierter Einschätzhilfen > Nutzung externer Expertise (etwa Rechtsmedizin, Erwachsenen- und Kinderpsychiatrie, Fachberatungsstellen; ggf. Aufbau einer Clearingstelle) Stärkung der Kindorientierung in Hilfeplanung und Bewertung von Hilfen > Verankerung der Kindperspektive in Formularen und Dokumentationsbögen > Fortbildungen zu Gesprächen mit Kindern und zur Beobachtung von Eltern- Kind-Interaktionen

1 VIELEN DANK FÜR IHR INTERESSE UND IHRE AUFMERKSAMKEIT!