Das Problem der kalten Progression: Umfang und ökonomische Auswirkungen in Deutschland



Ähnliche Dokumente
Horizontaler Vergleich 2014

Horizontaler Vergleich 2012

1. Inhaltlicher Hintergrund Kalte Progression. 2. Im Unterschied zur Kalten Progression: Der Mittelstandsbauch. 3. Beschlusslage Union. 4.

Fragen und Antworten: zusätzlicher Beitragssatz

Ihr Einkommensteuertarif:

Kurzgutachten: Modelle der Anrechnung von Erwerbseinkommen auf den Anspruch auf ergänzende Leistungen nach dem SGB II

einkommenssteuerbelastung seit 1990 gesunken

IHS: Steuerreform erhöht Arbeitsanreize Lohn- und einkommensteuerpflichtige Haushalte werden merklich entlastet

Arbeitsblatt Verdienstabrechnung

Geringfügige Beschäftigung Mini-Jobs

Workshop B Bevölkerungsentwicklung & Wachstum Norbert Reuter - ver.di-bereich Wirtschaftspolitik / RWTH Aachen -

AHVplus D E L E G I E R T E N V E R S A M M L U N G V OM 1 1. M A I Die AHVplus-Varianten. Antrag: Abstimmung.

IMMOBILIENMARKT Arbeitsauftrag

Letzte Krankenkassen streichen Zusatzbeiträge

ikk-classic.de Gesetzliches Krankengeld für Selbstständige Kein Zusatzbeitrag 2010 Da fühl ich mich gut.

Entwicklung des realen BIP im Krisenjahr 2009

Informationsblatt zur Berechnung der Entlastung nach 10 des Stromsteuergesetzes und 55 des Energiesteuergesetzes

Sozialversicherungskennzahlen 2010

Was Sie über "kleine Jobs" wissen sollten! Minijob Euro. Chance oder Sackgasse? Tipps und Informationen. Euro-Geldscheine und Münzen

Butter bei die Fische. Studium und Selbständigkeit :30 Uhr Universität Hamburg, Career Center

Eine Bürokratiekostenfolgenabschätzung zum zweiten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt im Hinblick auf die Einführung einer Gleitzone

Staatsverschuldung und Wachstum

Anhang E: Checkliste Projektauswahlkriterien der Lokalen Aktionsgruppe Landkreis Freyung-Grafenau e. V.

Weniger kann mehr sein

Rentenreform ab 1. Januar Am 16. November 2000 hat der Deutsche. Bundestag die Streichung der bisherigen Berufsund

Information über den Lohnsteuerabzug im Faktorverfahren

Werkplatz Schweiz Eine Außenansicht

STEUERN & EINKOMMEN: Steuerliche Auswirkungen bei verschiedenen Arbeitsverhältnissen

Weihnachtsgeschäft im Einzelhandel 2014

Entwurf eines Gesetzes zur Festsetzung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Jahr 2014 (Beitragssatzgesetz 2014)

Einkommen- und Umsatzsteuer Steuerberatungstag am 28. Mai 2014

Die aktuelle Pflegereform in der Generationenbilanz

Referentenentwurf Alterssicherungsstärkungsgesetz

Aktuelle Entwicklungen bei den Strom- und Gas-Systemnutzungstarifen

Mittel- und langfristige Finanzierung der Pflegevorsorge. Präsentation der Studie des WIFOs

Verordnung zur Bestimmung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Jahr 2015

Was bleibt unterm Strich?

Medikalisierung oder Kompression? Wie die demographische Entwicklung auf die Krankenversicherung wirkt?

für Gründungszuschuss-, Einstiegsgeld- und andere Existenzgründer (4., aktualisierte und überarbeitete Andreas Lutz Businessplan

Würfelt man dabei je genau 10 - mal eine 1, 2, 3, 4, 5 und 6, so beträgt die Anzahl. der verschiedenen Reihenfolgen, in denen man dies tun kann, 60!.

Fallbeschreibung: Beitragsentwicklung in der privaten Krankenversicherung

Das Wachstum der deutschen Volkswirtschaft

Herrn Wilfried Mustermann Zillegasse Berlin

Für 2,60 Euro mehr im Monat: sichern gute Renten. Rentenniveau sichern. Erwerbsminderungsrente verbessern. Rente mit 67 aussetzen. ichwillrente.

Dr. Kraus & Partner Ihr Angebot zu Konfliktmanagement

IS-LM-Modell. simultanes Gleichgewicht am Geld- und Gütermarkt. Gleichgewicht: Produktion (Einkommen) = Güternachfrage

ZUKUNFTSVORSORGE mit STEUERPLUS. Zukunftssicherung durch Gehaltsumwandlung. Bedeutet für Sie als Dienstnehmer. In Zusammenarbeit mit Ihrem Dienstgeber

Anlage 1 zur Arbeitshilfe zur Hilfe zur Pflege nach 61 SGB XII in Tagespflegeeinrichtungen. Berechnungsbeispiele zu Ziffer Stand

Grenzbelastung der Arbeitnehmer

Pflegedossier für die kreisfreie Stadt Frankfurt (Oder)

Spanien - Deutschland. Belastungsvergleich. bei der. Einkommensteuer. Rechtsstand

Pflegedossier für den Landkreis Potsdam-Mittelmark

Demografie und Rente: Die Effekte einer höheren Erwerbstätigkeit Älterer auf die Beitragssätze zur Rentenversicherung

Die gesamtfiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit

Alterssicherung. Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Eine gemeinsame Initiative aller Berliner und Brandenburger SteuerberaterInnen. Einkommen- und Umsatzsteuer Steuerberatungstag am 28.

Meinungen der Bürgerinnen und Bürger in Hamburg und Berlin zu einer Bewerbung um die Austragung der Olympischen Spiele

Beispiel überschießendes Kindergeld:

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Übungsbuch für den Grundkurs mit Tipps und Lösungen: Analysis

Auslandsimmobilienfonds versus Deutsche Immobilienfonds

Die Wirtschaftskrise aus Sicht der Kinder

1 Überblick Neuerungen 2010

Sonderbeitrag ab

BEVÖLKERUNGS- UND UNTERNEHMERBEFRAGUNG»VERMÖGENSTEUER UND EIGENTUM«

Trend-Vorsorge. Der DIA Deutschland-Trend. 10. Befragungswelle 2. Quartal Einstellungen zur Altersvorsorge. Köln, 20.

Sachzuwendungen an Mitarbeiter und Geschäftspartner

Beitragserhöhungen in den Sozialversicherungen

Zehn Jahre 100 Häuser für 100 Familien ein Erfolgsprogramm feiert Jubiläum

Qualifikationsspezifische Arbeitsnachfrage und Arbeitsangebot: Quantitative Abschätzung zum Handlungsbedarf

BMF - I A Feb 04. Einkommensteuertarif , ,0. Durchschnittsbelastung ,0 grenz58 10,0

Sozialpolitik I (Soziale Sicherung) Wintersemester 2005/06

Verordnung zur Bestimmung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung für das Jahr 2012 (Beitragssatzverordnung BSV 2012)

Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ( Hartz

UMFRAGE II. QUARTAL 2014

Rententafelgarantie. Langlebigkeit: Fluch oder Segen?

Presse-Information

allensbacher berichte

Solidaritätszuschlag abschaffen schrittweise und gerecht

Internetnutzung nach Nutzungsart (Teil 1) 1)

Das große ElterngeldPlus 1x1. Alles über das ElterngeldPlus. Wer kann ElterngeldPlus beantragen? ElterngeldPlus verstehen ein paar einleitende Fakten

Regionale und qualifikationsspezifische Auswirkungen des Mindestlohns Folgenabschätzung und Korrekturbedarf

Renten: Beitragssatzentwicklung nach der Riesterreform

Vermögensbildung: Sparen und Wertsteigerung bei Immobilien liegen vorn

Steuerklassen und Steuerfreibeträge nach Erbschaftssteuer- und Schenkungssteuergesetz

Tarifrunde 2015 Beschäftigung im Handel

Ohne Fehler geht es nicht Doch wie viele Fehler sind erlaubt?

Bundesversicherungsamt

Umweltbewusstseinsstudie 2014 Fact Sheet

NÜRNBERGER Grenzgängerrente Steuerbegünstigte Versorgung von Grenzgängern Deutschland - Schweiz

Seite 1 AXA Lebensversicherung AG. Ihr Geschenk vom Staat Konjunkturpaket II und Bürgerentlastungsgesetz

KfW-Förderreport 2015 Auswertung Kurzfassung

Grundlagen der Volkswirtschaftslehre Übungsblatt 12

Stabilisierung der Finanzierungsbasis und umfassender Wettbewerb in einem integrierten Krankenversicherungssystem

Informationsblatt zur Berechnung der Entlastung nach 10 des Stromsteuergesetzes und 55 des Energiesteuergesetzes

60,7 46,5 38,2 36,3. 18,1 *deflationiert mit USA-Lebenshaltungskostenindex

1. Kennlinien. 2. Stabilisierung der Emitterschaltung. Schaltungstechnik 2 Übung 4

geben. Die Wahrscheinlichkeit von 100% ist hier demnach nur der Gehen wir einmal davon aus, dass die von uns angenommenen

Aktuelle Beitragsbemessungsgrenzen und Beitragssätze in der Sozialversicherung

Bundesgesetz über die Arbeit (ArG) Auswirkungen des Arbeitsgesetzes für die Assistenzärztinnen/-ärzte ab 1. Januar 2005

Transkript:

Das Problem der kalten Progression: Umfang und ökonomische Auswirkungen in Deutschland Prof. Dr. Clemens Fuest Universität zu Köln Basis: C. Fuest und A. Peichl (2007): Kalte Progression in Deutschland: Eine empirische Analyse, Diskussionspapier, Universität zu Köln. Vortrag im Rahmen der Politikwerkstatt des IfW Haushaltskonsolidierung und Einkommensteuersenkung: Ein Widerspruch? am 4. Dezember 2007 in Berlin. 1

1. Was ist kalte Progression (Degression)? Beispiele 2. Mehrbelastungen durch die kalte Progression in Deutschland 2005-2009 (Szenario) 3. Auswirkungen der kalten Progression auf Beschäftigung und gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt 4. Maßnahmen zum Ausgleich der kalten Progression 5. Schlussfolgerungen 2

1. Was ist kalte Progression (Degression)? Beispiele 3

Entstehung der kalten Progression Nominale Einkommen steigen z.b. durch Inflation Einkommensteuer ist progressiv, Freibeträge und Progressionszonen sind nominal definiert Nominale Steuerzahlungen steigen stärker als Einkommen Reale Steuerlast nimmt zu Kalte Progression tritt auch bei Transfers auf Aber: kalte Degression ist auch möglich (z.b. Steueranteil in SV-Beiträgen wg. Beitragsbemessungsgrenze) Auch reales Wachstum führt zu kalter Progression (Durchschnittsteuersatz steigt) 4

Beispiel 1 Grundfreibetrag 10000 Euro 10-20 Tsd Euro 20 Prozent Steuersatz 20-40 Tsd Euro 30 Prozent > 40 Tsd Euro 40 Prozent Bruttoeinkommen steigt inflationsbedingt von 50 Tsd Euro und 55 Tsd Euro 5

Beispiel 1 Brutto Netto (inkl. Transfer) Steuerzahlung Proportional Kalte Progression 50.000 38.000 12.000 12.000 55.000 41.000 14.000 13.200 800 6

Beispiel 2 Wie Beispiel 1 mit folgenden Ergänzungen 2000 Euro Transfer (z.b. Kindergeld) SV-Beiträge 20% bis 30.000 Euro Beitragsbemessungsgrenze 7

Beispiel 2 Brutto Netto Steuerzahlung SV-Beiträge Transfer Abgaben- Transfer-Saldo Kalte Progression 50.000 34.000 12.000 6.000 2.000 16.000 55.000 37.000 14.000 6.000 2.000 18.000 400 8

2. Mehrbelastungen durch die kalte Progression in Deutschland 2005-2009 (Szenario) 9

Vorgehensweise (Basisszenario): Nominale Einkommen (bei geg. Arbeitsangebot) steigen vier Jahre lang um 2% pro Jahr (2005-2009), insgesamt 8,24 % Einkommensteuersystem (Freibeträge und Tarif) bleibt unverändert Nominale Transfers werden konstant gehalten Beitragssätze der Sozialversicherung und Bemessungsgrenzen werden nominal konstant gehalten 10

Vorgehensweise (Fortsetzung): Berechnung der Veränderung der Einkommensteuerzahlungen (Mikrosimulationsmodell FiFoSim, Inflationsszenario) Vergleich mit einem Szenario, in dem die Steuerzahlungen proportional zum Einkommen wachsen (Proportionalszenario) 11

Ergebnisse im Aggregat: (Szenario 2% jährliches Wachstum des nominalen Einkommens 2005-2009) Die kalte Progression in der Einkommensteuer beläuft sich auf 14,8 Mrd. Euro Die kalte Degression bei den SV-Beiträgen beläuft sich auf 2 Mrd. Euro (Achtung: in der Realität werden anders als im Szenario Beitragsbemessungsgrenzen angepasst) Die kalte Progression bei den Transfers beläuft sich auf 7,5 Mrd. Euro 12

Verteilung über Einkommensdezile (Äquivalenzgewichtung) 13

Entwicklung der nominalen verfügbaren Einkommen im Basisszenario 10 8 Prozent 6 4 2 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Inflation Einkommensdezile 14

Entwicklung der nominalen verfügbaren Einkommen bei proportionaler Anpassung der EStschuld ohne Transferanpassung 10 8 Prozent 6 4 2 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Inflation Einkommensdezile 15

Belastung durch kalte Progression in der Einkommensteuer in Prozent der verfügbaren Einkommen 2 Prozent 1,5 1 0,5 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einkommensdezile 16

Belastung durch kalte Progression in der Einkommensteuer in Euro pro Jahr (ohne KP bei Transfers) Euro 600 500 400 300 200 100 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einkommensdezile 17

Belastung durch kalte Progression in der Einkommensteuer in Euro pro Jahr (mit KP bei Transfers) Euro 600 500 400 300 200 100 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einkommensdezile 18

3. Auswirkungen der kalten Progression auf Beschäftigung und gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt 19

Beschäftigungseffekte der kalten Progression: Kalte Progression in der Einkommensteuer reduziert die Beschäftigung (aber: EK-Effekte) Kalte Progression bei den Transfers steigert die Beschäftigung 20

Szenario 1: Kalte Progression nur bei Einkommensteuer (Vergleich zwischen Basisszenario und Szenario mit proportionaler Steuerlast, aber nominal konstanten Transfers): Beschäftigungsverlust 310.000 Arbeitsplätze (Vollzeitäquivalente) Wohlfahrtsverlust 3,7 Mrd. Euro (Veränderung der Zusatzlast des Steuersystems, 25% des zusätzlichen Steueraufkommens) 21

Szenario 2: Kalte Progression nur bei Transfers (Vergleich zwischen Basisszenario und Basisszenario mit Transferanpassung um 8,24 %): Beschäftigungsgewinn durch Verzicht auf Transferanpassung 50.000 Arbeitsplätze (Vollzeitäquivalente) 22

4. Maßnahmen zum Ausgleich der kalten Progression 23

Senkung des Solidaritätszuschlags : Fiskalische Effekte: ca 10 Mrd Euro Entlastung (KP wird zu gut zwei Dritteln ausgeglichen) Beschäftigungsverlust sinkt auf 170.000 Arbeitsplätze (Vollzeitäquivalente) (um 50%) Solidaritätszuschlag konzentriert Entlastung bei hohen Einkommen, Arbeitsangebotselastizität ist bei niedrigen Einkommen höher 24

Belastung durch kalte Progression in der Einkommensteuer bei Kompensation durch Soli- Abschaffung in Euro pro Jahr (ohne KP bei Transfers) Euro 200 100 0-100 -200-300 -400 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einkommensdezile 25

Konzentration der kompensierenden Beschäftigungseffekte in hohen Einkommensbereichen: Beschäftigungsverluste durch kalte Progression vor und nach Abschaffung des Solidaritätszuschlags Vollzeitäquivalente 50000 45000 40000 35000 30000 25000 20000 15000 10000 5000 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einkommensdezil vor Soli-Abschaffung nach Soli-Abschaffung 26

Indexierung der Progressionszonen: ähnliche Effekte 27

Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung um 12 Mrd. Euro: Beschäftigungszuwachs um 60.000 Stellen Beschäftigungsgewinne Basisszenario plus SV- Senkung um 12 Mrd. Euro 30000 Vollzeitäquivalente 20000 10000 0-10000 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einkommensdezil 28

5. Schlussfolgerungen 29

Kalte Progression hat massive Auswirkungen auf die Steuerlast Bei zwei Prozent Inflation pro Jahr entspricht die zusätzliche Einkommensteuerbelastung durch inflationsbedingte kalte Progression in Deutschland fiskalisch 2 Umsatzsteuerpunkten (ca 15 Mrd. Euro) Auch Transfers sind von Kalter Progression betroffen 30

Kalte Progression kann durch Steuersatzsenkungen oder eine Indexierung der Progressionszonen ausgeglichen werden Abschaffung des Solidaritätszuschlags würde die hohen Einkommensbezieher überkompensieren, die negativen Beschäftigungswirkungen der Progression würden nur teilweise ausgeglichen 31

Ein Ausgleich durch Senkung der SV-Beiträge hat bessere Beschäftigungswirkungen, hat aber massive Umverteilungswirkungen zu Lasten der nicht SV-pflichtig Beschäftigten 32