Wilhelm Diltheys empirische Philosophie und der rezente Methodenstreit in der analytischen Philosophie

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Transkript:

Wilhelm Diltheys empirische Philosophie und der rezente Methodenstreit in der analytischen Philosophie Christian Damböck Institut Wiener Kreis Universität Wien

Inhalt Vorbemerkung Von Kant bis Lotze Neukantianismus Der Terminus deutscher Empirismus Diltheys empirische Philosophie Für einen minimalen Kantianismus unter empirischen Vorzeichen 11.01.2011 WPK Tübingen 2

Vorbemerkung

Vorbemerkung Dilthey statt Hegel Die klassische analytische Philosophie geht im wesentlichen rein deduktiv vor, sagt also nichts über die wissenschaftliche Begriffsbildung aus Kant und Hegel erklären Begriffsbildung a priori, im Rahmen einer transzendentalen oder reinen Logik. Dieser Ansatz scheint durch die moderne Wissenschaftsphilosophie überwunden (Induktionskritik) Es existiert aber eine Tradition in der deutschen Philosophie, die, die Fehler von Kant und Hegel erkennend, eine empirische Theorie der Begriffsbildung entwickelt hat Im Zentrum dieser Tradition steht Dilthey 11.01.2011 WPK Tübingen 4

Von Kant bis Lotze

Von Kant bis Lotze Kants kopernikanische Wende Rationalismus: das begriffliche Wesen der Gegenstände ist deren verborgene Struktur die sich der Intuition erschließt Empirismus: Begriffe sind bloße kausale Folgen sinnlicher Wahrnehmungen Kant: Begriffe sind nichts das wir in den Gegenständen bereits vorfinden, sie sind ein Produkt des spontanen Denkens 11.01.2011 WPK Tübingen 6

Von Kant bis Lotze Kants Apriori der Begriffe Begriffe sind Voraussetzungen der Erfahrung und insofern a priori (transzendental). Aber sie sind, für Kant, AUCH: (1) strikt ahistorisch bestimmt, also zu jeder Zeit und an jedem Ort dieselben (2) gänzlich erfahrungsunabhängig zu bestimmen 11.01.2011 WPK Tübingen 7

Von Kant bis Lotze Die Philosophie nach Kant hat im wesentlichen (1) verworfen und (2) beibehalten. Das gilt für Hegel und andere deutsche Idealisten, aber es gilt auch für die Neukantianer der südwestdeutschen und der Marburger Schule (incl. Cassirer) ABER Dilthey: sowohl (1) als auch (2) ist zu verwerfen, und dennoch ist der Standpunkt der kopernikanischen Wende beizubehalten 11.01.2011 WPK Tübingen 8

Von Kant bis Lotze Kant und Hegel scheitern Für Kant sind Begriffe ahistorisch: aber die Wissenschaft hat eine Geschichte, zu unterschiedlichen Zeiten gelten unterschiedliche Begriffe Für Hegel sind Begriffe zwar historisch, aber die reine Logik führt zu anderen (besseren) Begriffen wie die Wissenschaft (umso schlimmer für die Tatsachen) 11.01.2011 WPK Tübingen 9

Von Kant bis Lotze Revisionismen I: Empirismus Mills Logik erkennt die Notwendigkeit einer eigenständigen Betrachtung geistiger Gegenstände im Rahmen der moral sciences Aber diese geistigen Gegenstände werden in einer Assoziationspsychologie (im Stil von Hume und James Mill) auf sinnliche Wahrnehmungen reduziert Damit verlässt Mill den Standpunkt der kopernikanischen Wende, da für Kant die Begriffe nichts sind das in der Erfahrung bereits enthalten ist. 11.01.2011 WPK Tübingen 10

Von Kant bis Lotze Revisionismen II: (Neo)Rationalismus Lotzes Metaphysik basiert auf einem methodologisch minimalistischen Rationalismus Die Philosophie entwirft ein Bild unserer geistigen Welt, das voll auf den Fundus metaphysischer Begriffe zurückgreift Die Wissenschaften erzwingen ständig eine Revision dieses Bildes und damit eine Verbesserung Vgl.: analytische Metaphysik 11.01.2011 WPK Tübingen 11

Von Kant bis Lotze Nutzlos ist jede Anstrengung, der klaren Erkenntnis der Wissenschaft zu widerstreben und ein Bild festhalten zu wollen, von dem uns doch das heimliche Bewußtsein verfolgt, daß es ein gebrechlicher Traum sei; gleich übel berathen aber ist die Verzweiflung, die das aufgibt, was bei allem Wechsel seiner Formen doch der unerschütterliche Zielpunkt menschlicher Bildung sein muß. Gestehen wir vielmehr zu, daß jene höhere Auffassung der Dinge, deren wir uns bald rühmen, bald gänzlich unfähig fühlen, in ihrem dunklen Drange sich des rechten Weges wohl bewußt ist, und daß jede beachtete Einrede der Wissenschaft nur eine der täuschenden Beleuchtungen zerstreut, welche die wechselnden Standpunkte unserer veränderlichen Erfahrung auf das beständig gleiche Ziel unserer Sehnsucht werfen. (Lotze 1876, XIII) 11.01.2011 WPK Tübingen 12

Neukantianismus

Neukantianismus Gemeinsamkeit: Strikte Trennung zwischen Empirie und Logik Die Geschichte thematisiert nur das Einmalige an der Erfahrung (Marburg: Grundlage der Induktion, SW deutsch: Kluft zwischen naturw. Begriffen und Normen) Begriffe kommen hingegen in einer strikt formalen Weise (durch Induktion) zustande, soziologische, psychologische und historische Faktoren können dabei keine Rolle spielen! 11.01.2011 WPK Tübingen 23

Der Terminus deutscher Empirismus

Der Terminus deutscher Empirismus Der Begriff Unter deutschem Empirismus möchte ich eine philosophische Einstellung verstehen, die versucht Philosophie in einem mehr oder weniger empirischen Sinn aufzufassen und dabei dennoch die philosophische Grundlage nicht zu verlassen, die in Kants kopernikanischer Wende geschaffen wurde. Diese Haltung scheint typisch für die Nachidealistische Epoche der deutschen Philosophie (1831 1871, mit Ausläufern bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts) 11.01.2011 WPK Tübingen 25

Der Terminus deutscher Empirismus Drei Generationen von d.e. (1) Jakob Friedrich Fries (1773 1843, Promotion: 1801) und Johann Friedrich Herbart (1776 1841, Promotion: 1802). (2) Eduard Beneke (1798 1854, Promotion: 1820), Gustav Theodor Fechner (1801 1887, Promotion: 1823) und Adolf Trendelenburg (1802 1872, Promotion: 1826) (3) Heymann Steinthal (1823 1899, Promotion: 1850), Moritz Lazarus (1824 1903, Promotion: 1850), Friedrich Ueberweg (1826 1871, Promotion: 1850), Friedrich Albert Lange (1828 1875, Promotion: 1851), Jürgen Bona Meyer (1829 1897, Promotion: 1854) und Wilhelm Dilthey (1833 1911, Promotion: 1864). 11.01.2011 WPK Tübingen 26

Der Terminus deutscher Empirismus Mögliche Missverständnisse Nicht alle deutschen Philosophen nach 1831 waren deutsche Empiristen (und nicht alle deutschen Empiristen waren deutsch) Die Materialisten und Empiriokritizisten sind keine deutschen Empiristen deutsch nicht nationalistisch sondern mit Bezug auf den Terminus deutscher Idealismus. (Von einem nationalen Standpunkt gesehen ist der deutsche Empirismus bemerkenswert undeutsch.) Keine zusammenhängende Schule (trotz der Integrationsfiguren Herbart und Trendelenburg), eher eine typische philosophische Einstellung. Dilthey ist der wichtigste Vertreter dieser Tradition, aber man findet bei anderen zweifellos zahlreiche Aspekte die man bei D. nicht findet. 11.01.2011 WPK Tübingen 27

Diltheys empirische Philosophie

Diltheys empirische Philosophie Diltheys Einleitung in die Geisteswissenschaften Diltheys Beiträge zum deutschen Empirismus fallen im Wesentlichen in die Epoche seiner Arbeit an der Einleitung in die Geisteswissenschaften Erster Band: 1883; Vorarbeiten und Manuskripte zum zweiten Band aus der Zeit von 1860 1894 ( Gesammelte Schriften Bd. XVIII XII) Nach 1894 entfernt sich Dilthey zusehends von der Tradition des deutschen Empirismus, stattdessen: Hermeneutik, starke Abgrenzung von den NW 11.01.2011 WPK Tübingen 29

Diltheys empirische Philosophie Motto der Einleitung die bisherige Erkenntnistheorie, die empiristische wie die Kants [hat] die Erfahrung und die Erkenntnis aus einem dem bloßen Vorstellen angehörigen Tatbestand erklärt. In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruieren, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. (I, XVIII) 11.01.2011 WPK Tübingen 30

Diltheys empirische Philosophie Eine Kritik der historischen Vernunft An die Stelle von Kants Kritik der reinen Vernunft tritt bei Dilthey eine Kritik der historischen Vernunft Das ist nicht bloß, wie von Rudolf Makkreel behauptet, eine Fortführung der Kritik der Urteilskraft zu einer Kritik des historischen Bewusstseins Vielmehr wird Kants apriorischer Standpunkt aus der KdrV durch einen empirischen Standpunkt ersetzt. 11.01.2011 WPK Tübingen 33

Diltheys empirische Philosophie Verhältnis zu den Naturwissenschaften Die Struktur und innere Logik der naturwissenschaftlichen Begriffe zu erschließen ist Sache der Einzelwissenschaften Für diese erscheinen die Axiome und Begriffe der NW als Annahmen a priori Die Philosophie fügt hier aber keine eigene transzendentale, reine oder formale Logik hinzu sondern sie wendet, in ihrer Analyse, die Begriffe der Naturwissenschaften ins Empirische und analysiert sie mit den Methoden der Soziologie, der Psychologie und der Geschichtswissenschaften: 11.01.2011 WPK Tübingen 34

Diltheys empirische Philosophie Was also vom Standpunkt der einzelnen Wissenschaften als eine Wahrheit letzter Instanz, als ein Axiom erscheint, das ist, als mit Evidenz ausgestattet, für diese umfassende Erfahrungswissenschaft [nämlich die Philosophie, C. D.] eine Tatsche des Bewußtseins, welche in den Zusammenhang der Zergliederung des Bewußtseins tritt und vielleicht in diesem Zusammenhang Aufklärung empfängt, ja vielleicht in ihm noch eine weitere psychologische Zerlegung erfährt. Betrachte ich ein Axiom, sofern es anderen Sätzen, die von ihm abgeleitet sind, seine Evidenz mitteilt [ ], dann bildet dieses Axiom mir eine Wahrheit letzter Instanz; dies ist der Standpunkt auf welchem die Einzelwissenschaften ihre Axiome zugrunde legen und aus ihnen ihre Systeme entwickeln. Betrachte ich aber diese Evidenz in demjenigen Zusammenhang, in welchem sie ursprünglich gegeben sind, in dem Zusammenhang der Tatsachen des Bewußtseins, dann trete ich auf den Standpunkt der allgemeinen Erfahrungswissenschaft, deren Objekt der Zusammenhang der Tatsachen des Bewußtseins ist. (XIX, 82) 11.01.2011 WPK Tübingen 35

Ein minimaler Kantianismus unter empirischen Vorzeichen

Ein minimaler Kantianismus unter empirischen Vorzeichen Formale Logik plus Geisteswissenschaften Die Formel lautet: formale Logik plus Geisteswissenschaften Begriffe können formal rational rekonstruiert werden, mit den Mitteln der formalen Logik Dies ist der innerwissenschaftliche Gesichtspunkt des Begriffs Aber die Rechtfertigung einer bestimmten begrifflichen Struktur kann nur im Rahmen der geisteswissenschaftlichen Analyse erfolgen 11.01.2011 WPK Tübingen 39

Ein minimaler Kantianismus unter empirischen Vorzeichen Der dritte Weg Dies ist ein dritter Weg, neben dem klassischen Naturalismus und den unterschiedlichen a priorischen Spielarten eines Kantianismus Weil nicht nur die ahistorische Natur des Begriffs (Kant 1) sondern auch die Idee einer Rechtfertigung a priori (Kant 2) aufgegeben wird, nicht aber die Idee dass Begriffe eigenständige geistige Entitäten sind (kopernikanische Wende) handelt es sich um einen minimalen Kantianismus unter empirischen Vorzeichen Diese Konzeption ist abzugrenzen von: 11.01.2011 WPK Tübingen 40

Ein minimaler Kantianismus unter empirischen Vorzeichen Kuhns Wissenschaftsgeschichte als Spielart des (Neo )Kantianismus Hier dient die Geschichte einzig und allein der Rekonstruktion von äußeren empirischen Umständen der wissenschaftlichen Konzeptualisierungen Man kann auch von einem weak program der Wissenssoziologie sprechen, in dem externe Faktoren nur dort thematisiert werden wo die normalwissenschaftliche Rationalität aufhört VORTEIL: die innerwissenschaftliche Rationalität bleibt unangetastet NACHTEIL: wissenschaftliche Begriffsbildung liegt außerhalb des historischen Untersuchungsrahmens 11.01.2011 WPK Tübingen 41

Ein minimaler Kantianismus unter empirischen Vorzeichen Das strong program als positivistischer Zugang Hier wird die gesamte wissenschaftliche Begriffsbildung auf der Ebene der Geisteswissenschaften erklärt. David Bloor: strong program der Wissenssoziologie Bloor: völlig kausal daher positivistisch VORTEIL: wissenschaftliche Begriffsbildung wird, anders als im log. Emp. und bei Kuhn, erklärt NACHTEIL: die wissenschaftliche Begriffsbildung wird von den formalen begrifflichen Strukturen gänzlich abgekoppelt 11.01.2011 WPK Tübingen 42

Ein minimaler Kantianismus unter empirischen Vorzeichen Analytische Metaphysik als methodologischer Minimalismus Begriffsbildung wird überhaupt nicht erklärt. Es wird einzig und alleine versucht die abstrakten Hintergründe der Wissenschaften zu beschreiben, möglicher Weise, aber nicht zwangsläufig mithilfe der formalen Logik VORTEIL: kein normativer Eingriff in die Praxis der Wissenschaften, keine methodologische Einengung NACHTEIL: es gibt letztlich keinerlei Erklärungsanspruch, weder was die Logik der Wissenschaften noch was die Begriffsbildung angeht 11.01.2011 WPK Tübingen 43

Ein minimaler Kantianismus unter empirischen Vorzeichen Post analytischer neo Hegelianismus (Brandom und McDowell) Begriffsbildung wird auf der Ebene einer an Hegel angelehnten begrifflichen Logik erklärt VORTEIL: keine empirischen Methoden erforderlich NACHTEIL: siehe Vorteil 11.01.2011 WPK Tübingen 44

Ein minimaler Kantianismus unter empirischen Vorzeichen Diltheys dritter Weg und die dritte Welle der Science Studies Ein Zugang im Stil Diltheys hat sowohl die innerwissenschaftliche Komponente (rationale Rekonstruktion, Wissenschaftslogik) als auch den geisteswissenschaftlichen Rahmen (Wissenssoziologie) zu berücksichtigen Vgl. die von Harry Collins proklamierten dritten Welle der Science Studies. VORTEIL: ausgewogen: an den jeweils richtigen Stellen formal a priori bzw. empirisch NACHTEIL:? 11.01.2011 WPK Tübingen 45

Danke für die Aufmerksamkeit 11.01.2011 WPK Tübingen 46