Schwerbehinderte und Kündigungsschutz



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Schwerbehinderte und Kündigungsschutz Mit dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX), das am 1. Juli 2001 in Kraft getreten ist, wurde das zersplitterte Recht zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen sowie das Schwerbehindertenrecht zusammengefasst und weiterentwickelt. Das SGB IX hat den Zweck, die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft für Behinderte und von Behinderung bedrohter Menschen zu fördern und Benachteiligungen zu vermeiden bzw. entgegenzuwirken. Wesentliche Änderungen wurden hierdurch jedoch nicht herbeigeführt. Im Folgenden sollen die Grundsätze und Eckpfeiler des Sonderkündigungsschutzes für Schwerbehinderte und Gleichgestellte beleuchtet werden. 1. Sonderkündigungsschutz für Schwerbehinderte und Gleichgestellte Gem. 85 SGB IX ist die Zustimmung des Integrationsamtes öffentlich-rechtliche Wirksamkeitsvoraussetzung der vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigung. Dieser besondere Kündigungsschutz nach 85 ff. SBG IX erstreckt sich auf alle Personen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen und Schwerbehinderte i. S. v. 2 Abs.2 SGB IX sind. Dies sind alle Arbeitnehmer, die aufgrund eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustandes nicht nur vorübergehend behindert sind, sofern die Behinderung einen Grad von mindestens 50 % erreicht hat. Das Gesetz gilt auch für solche Personen, die einem Schwerbehinderten nach 2 Abs. 3 SGB IX gleichgestellt sind. Die Gleichstellung muss von der Bundesagentur für Arbeit vorgenommen werden und erfasst Personen, die einen Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 30 %, aber unter 50 % haben. Der Kündigungsschutz besteht für den Schwerbehinderten schon dann, wenn die Voraussetzungen im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung objektiv erfüllt sind und die verschiedenen in 90 SGB IX aufgezählten Ausnahmen nicht vorliegen (s. insofern unten unter Ziff. 4.). Die Feststellung des Grades der Behinderung nach 69 Abs.1 AGB IX ist nicht konstitutiv, sondern hat nur deklaratorische Bedeutung, d. h. der Arbeitnehmer erbringt damit den von ihm zu erbringenden Nachweis der Schwerbehinderung. Dies bedeutet, dass nicht nur Personen, deren Schwerbehinderteneigenschaft zum Zeitpunkt der Kündigung schon anerkannt worden ist, sondern auch diejenigen, die vor Zugang der Kündigung einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter beim Integrationsamt nach 68 Abs.1 S.1 SBG IX gestellt haben, dem Sonderkündigungsschutz unterliegen, wenn das zuständige Integrationsamt später den Antrag rückwirkend positiv bescheidet. Entscheidend ist, ob zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung die Schwerbehinderteneigenschaft vorlag, auch wenn sie möglicherweise erst später rechtskräftig anerkannt wird. So können auch Bescheide, die eine Anerkennung verweigern, vor den Sozialgerichten angefochten werden und möglicherweise sehr viel später zu einer rückwirkenden Anerkennung führen. Ein Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter nach Zugang der Kündigung ist nicht geeignet, den Schwerbehindertenschutz herbeizuführen. Dies gilt allerdings dann nicht, wenn zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung der Schwerbehindertenschutz für den Arbeitgeber offensichtlich ist (wie z. B. eine schwere Verletzung mit bleibenden Folgen aufgrund eines Verkehrsunfalls). 1

Die Offenkundigkeit muss sich allerdings nicht nur auf die Behinderung erstrecken, sondern auch auf ihren Grad mit mindestens 50 %. Für Gleichgestellte beginnt der besondere Kündigungsschutz mit dem konstitutiven Verwaltungsakt der Gleichstellung durch die Bundesanstalt für Arbeit. Jedoch wird die Gleichstellung bereits mit dem Tag des Eingangs des Antrages wirksam. Damit kann auch hier eine Kündigung, die zwischen Antragstellung und Gleichstellung ausgesprochen wird, dann unwirksam werden, wenn der Gleichstellungsantrag positiv beschieden wird. Es war in der Praxis nicht selten anzutreffen, dass Anträge auf Anerkennung als Schwerbehinderter oder Gleichstellung von Arbeitnehmern gestellt werden, die von ihrer bevorstehenden Kündigung durch den Betriebsrat erfahren, der nach 102 BetrVG vom Arbeitgeber angehört wird. Dieser Praxis hat das BAG im Jahr 2007 (Urteil vom 01.03.2007, AZ: 2 AZR 217/06) einen Riegel vorgeschoben, indem es entschieden hat, dass auch die Antragstellung auf Anerkennung der Gleichstellung mindestens 3 Wochen vor Eingang der Kündigung erfolgen muss, um den Sonderkündigungsschutz auszulösen. Mit dieser Entscheidung wurde die Regelung in Bezug auf Schwerbehinderte aus 90 Abs. 2a SGB IX, welche auf die 3-Wochenfrist des 69 Abs. 1 Satz 2 i.v.m. 14 Abs. 2 Satz 2 SGB IX zur Antragstellung verweist und wonach der Antrag auf Anerkennung einer Schwerbehinderung mindestens drei Wochen vor Ausspruch der Kündigung gestellt worden sein muss, damit der Sonderkündigungsschutz aus 85 SGB IX Anwendung findet, auf den Antrag auf Gleichstellung übertragen. Die Durchführung eines Präventionsverfahrens nach 84 Abs.1 SGB IX ist keine formale Wirksamkeitsvoraussetzung für den Ausspruch einer Kündigung, mit der Folge, dass eine Kündigung unwirksam wäre, wenn ein Präventionsverfahren vor ihrem Ausspruch noch nicht durchgeführt worden ist. Das gesetzliche Präventionsverfahren ist vielmehr eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes des Kündigungsschutzrechtes, d.h. dass bei Nichtdurchführung die Kündigung u. U. als sozial ungerechtfertigt angesehen werden kann. Ist ein zu kündigender Mitarbeiter schwerbehindert oder gleichgestellt, findet mithin der Sonderkündigungsschutz der 85 ff. SGB IX Anwendung, so beträgt nach 86 SGB IX die Kündigungsfrist für dieses Arbeitsverhältnis mindestens 4 Wochen. 2. Unkenntnis des Arbeitgebers von der Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft Hier gibt es zwei Varianten: a) Der Schwerbehinderte hat die Anerkennung bisher nicht offenbart b) Es läuft lediglich ein Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter 2

Da die 85 ff. SGB IX ohne Rücksicht auf Kenntnis des Arbeitgebers den Sonderkündigungsschutz anerkennen, weiß der Arbeitgeber dann gar nicht, dass er die Zustimmung hätte beantragen müssen. Das BAG hat aus Gründen des Vertrauensschutzes dazu festgehalten, dass der Arbeitnehmer, der sich den Sonderkündigungsschutz erhalten will, nach Zugang der Kündigung innerhalb einer angemessenen Frist, die im Falle der ordentlichen wie auch der außerordentlichen Kündigung regelmäßig drei Wochen ab Kündigungszugang beträgt, gegenüber dem Arbeitgeber seine bereits beantragte Schwerbehinderteneigenschaft bzw. Gleichstellung geltend zu machen hat (Ankündigung der Rechtsprechung des BAG im Urteil vom 12.01.2006, Az.: 2 AZR 539/05). Versäumt er die Frist, kann er sich nicht mehr auf den Sonderkündigungsschutz berufen. Es handelt sich aber nur um eine sog. Regelfrist, die bis auf die o. g. Ausnahme (Offenkundigkeit der Schwerbehinderung) den Arbeitnehmer verpflichtet, im eigenen Interesse entsprechende Mitteilungen an den Arbeitgeber zu machen. Das Arbeitsgericht hat bei Versäumung der Frist die Kündigungsschutzklage ohne Berücksichtigung der 85 ff SGB IX zu prüfen. Allerdings kann in diesem Fall die Schwerbehinderteneigenschaft bei der Prüfung der Sozialwidrigkeit im Rahmen der Interessenabwägung eine Rolle spielen. Eine besondere Formvorschrift für die Geltendmachung des Schwerbehindertenschutzes gibt es nicht, es handelt sich um eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung. Bloße Bemerkungen gegenüber dem betrieblichen Vorgesetzten reichen aber nicht, Adressat muss der Arbeitgeber selbst bzw. deren gesetzliche Vertreter oder Prokuristen, Generalbevollmächtigte oder Personalleiter sein. Es dürfte auch - wie bei der Ausschlussfrist zu 626 BGB - die Kenntnis von Personen ausreichen, bei denen zu erwarten ist, dass sie aufgrund ihrer selbständigen Stellung im Betrieb wie ein rechtsgeschäftlicher Vertreter des Arbeitgebers handeln können. Die Mitteilung des Betriebsrates an den Arbeitgeber im Verfahren nach 102 BetrVG steht der Mitteilung des Arbeitnehmers gleich. Zu empfehlen ist deshalb folgendes: - Weist der Arbeitnehmer innerhalb der Regelausschlussfrist von drei Wochen nach Zugang der Kündigung nach, dass er bereits zum Zeitpunkt des Zugangs Schwerbehinderter oder Gleichgestellter war, indem er einen entsprechenden Ausweis oder einen Bescheid vorlegt, sollte unverzüglich ein Antrag auf Zustimmung zur Kündigung bei dem zuständigen Integrationsamt gestellt werden, da die ausgesprochene Kündigung nichtig ist. Es empfiehlt sich deshalb auch eine Erklärung, aus dieser Kündigung keine Rechte herzuleiten und den Arbeitnehmer zur Arbeit aufzufordern. - Weist der Arbeitnehmer innerhalb der Ausschlussfrist nur darauf hin, dass er vor Zugang der Kündigung einen entsprechenden Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter oder auf Gleichstellung gestellt hat, sollte unverzüglich beim Integrationsamt ebenfalls ein Antrag auf Zustimmung zur Kündigung gestellt werden. Die bereits ausgesprochene Kündigung sollte aber auf keinen Fall zurückgenommen werden, denn es ist ja selbstverständlich auch denkbar, dass der Schwerbehinderten- bzw. Gleichstellungsantrag später zurückgewiesen wird. 3

Nach Erteilung der Zustimmung sollte eine vorsorgliche zweite Kündigung ausgesprochen werden. Das Integrationsamt hat bei ihrer Entscheidung zu unterstellen, dass der Arbeitnehmer Schwerbehinderter ist, sie hat nicht abzuwarten, bis das Verfahren um die Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft oder Gleichstellung beim Integrationsamt oder bei der Agentur für Arbeit abgeschlossen ist, da dies für den Arbeitgeber eine unerträgliche Verzögerung nach sich ziehen würde. Nach Erteilung der Zustimmung sollte eine vorsorgliche zweite Kündigung ausgesprochen werden. 3. Doppelgleisigkeit des Rechtswegs Die 85 ff. SGB IX stellen einen eigenen Unwirksamkeitsgrund dar, der zunächst einmal unabhängig vom KSchG ist. Will sich der Arbeitnehmer die Überprüfung der sozialen Rechtfertigung durch das Arbeitsgericht vorbehalten, ist er gehalten, binnen 3 Wochen nach Zugang der Kündigung beim Arbeitsgericht Kündigungsschutzklage zu erheben. Hat das Integrationsamt die Zustimmung zur Kündigung erteilt, kann der Arbeitnehmer diese mit dem Widerspruch und später mit Rechtsmitteln vor den Verwaltungsgerichten anfechten. Die rechtswirksame Zustimmung des Integrationsamtes ist dann Vorfrage im Kündigungsschutzprozess, denn wenn die Zustimmung zur Kündigung durch das Integrationsamt später vom Schwerbehinderten mit Erfolg angegriffen wird, kommt es auf die soziale Rechtfertigung der Kündigung nicht mehr an, die Kündigung ist dann unheilbar nichtig. Es gibt deshalb für die Beteiligten einen in der Praxis unerfreulichen, da langatmigen doppelgleisigen Rechtsweg. Zum einen um die Frage der Wirksamkeit der Zustimmung bzw. Verweigerung der Zustimmung vor den Verwaltungsgerichten, zum anderen vor den Arbeitsgerichten, soweit es um die arbeitsrechtliche Wirksamkeit der Kündigung geht. Die Arbeitsgerichte sind an die vom Integrationsamt erteilte Zustimmung gebunden, können diese also nicht unter dem Gesichtspunkt des Schutzes nach den 85 ff. SGB IX erneut überprüfen. Die Arbeitsgerichte haben bei einer vorliegenden Zustimmung zur Kündigung, die vom Arbeitnehmer mit Widerspruch oder Klage angegriffen worden ist, die Möglichkeit, das Verfahren entweder bis zur Wirksamkeit der Zustimmung des Integrationsamtes nach 148 ZPO auszusetzen, sie können aber auch zugunsten des Arbeitgebers entscheiden, wenn es nach ihrer Auffassung nur noch um die Zustimmung des Integrationsamtes geht, die Wirksamkeit der Kündigung ansonsten zu bejahen ist und den Arbeitnehmer auf den Weg der Restitutionsklage gem. 580 Nr. 6 ZPO für den Fall verweisen, dass im verwaltungsgerichtlichen Verfahren später doch noch die Unwirksamkeit der Kündigung festgestellt wird. 4. Ausnahmen vom Sonderkündigungsschutz Gegenstand sind ausschließlich Kündigungen des Arbeitgebers, auch Änderungskündigungen. Nicht Gegenstand des Zustimmungserfordernisses sind Befristungen, Aufhebungsverträge, die Anfechtung des Arbeitsvertrages oder auch die Eigenkündigung des Arbeitnehmers. Der Sonderkündigungsschutz besteht nicht für Schwerbehinderte oder Gleichgestellte in den ersten 6 Monaten des Arbeitsverhältnisses, keine Rolle spielt, 4

ob die vertragliche Probezeit bereits abgelaufen ist. Hier sind die ersten 6 Monate also doppelt bedeutsam, nach 6 Monaten tritt sowohl der Kündigungsschutz nach dem KSchG ein als auch der Sonderkündigungsschutz nach 85 ff SGB IX. Entscheidend ist in beiden Fällen der Zugang der Kündigung, nicht das Ende der Kündigungsfrist. Nach 90 Abs.1 Ziff.3 lit. a) SGB IX gilt das Zustimmungserfordernis des Integrationsamtes auch dann nicht, wenn der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung das 58. Lebensjahr vollendet hat, Anspruch auf eine Abfindung, Entschädigung o. ä. Leistungen aufgrund eines Sozialplanes hat und wenn der Arbeitgeber ihm die Kündigungsabsicht rechtzeitig mitgeteilt hat und der Arbeitnehmer der beabsichtigten Kündigung bis zu deren Ausspruch nicht widerspricht. Rechtzeitig ist die Unterrichtung, für die keine Form vorgeschrieben ist, dann, wenn der Arbeitnehmer ausreichend Zeit zur Überlegung hat, ob er der Kündigung vor ihrem Ausspruch widersprechen soll. Die Kommentierung geht von einer Frist von etwa 1 bis 3 Wochen aus. In der Praxis ist von dieser (einverständlichen) Beendigung des Arbeitsverhältnisses abzuraten, da die Arbeitsverwaltung die Verhängung einer Sperrzeit prüfen wird. Besser ist es in solchen Fällen, mit Zustimmung des Integrationsamtes zu kündigen, denn das Integrationsamt wird die Zustimmung regelmäßig erteilen, wenn der Arbeitnehmer einverstanden ist. Der Kündigungsschutz besteht auch dann nicht, wenn zum Zeitpunkt der Kündigung die Schwerbehinderung weder offenkundig war, noch die Feststellung rechtzeitig, d.h. 3 Wochen vor Zugang der Kündigung, beantragt worden ist. Er besteht auch nicht, wenn das Integrationsamt die Feststellung wegen fehlender Mitwirkung in der dafür vorgesehenen Frist nicht treffen konnte. 5. Außerordentliche Kündigung Für die außerordentliche Kündigung gilt noch eine Sonderbestimmung - 91 SGB IX. Danach kann die Zustimmung zur Kündigung innerhalb von 2 Wochen beantragt werden. Maßgebend ist der Eingang des Antrags bei dem Integrationsamt. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Ist die Antragsfrist versäumt, kann der Antrag nur als unzulässig zurückgewiesen werden. Dies kann besonders schwerwiegend sein, wenn der Arbeitnehmer z. B. wegen eines tariflichen Sonderkündigungsschutzes oder als Betriebsratsmitglied nicht ordentlich kündbar ist. Es empfiehlt sich hier sofort nach Zugang des Antrages Kontakt mit den Mitarbeitern des Integrationsamtes aufzunehmen. Insbesondere in Fällen der Verdachtskündigung kann die Prüfung der Einhaltung der 2-Wochenfrist schwierig werden, denn dann ist die Frist gehemmt, während die zur Aufklärung des Sachverhalts nach pflichtgemäßem Ermessen notwendig erscheinenden Maßnahmen laufen. Anders als bei der ordentlichen Kündigung, bei der das Integrationsamt nur innerhalb eines Monats nach Antragstellung entscheiden soll, ist das Integrationsamt hier für ihre Entscheidung an eine 2-wöchige Frist gebunden, die mit dem Tag des Eingangs des Antrags beginnt. Wird innerhalb der Frist eine Entscheidung nicht getroffen, so gilt nach 91 Abs.3 SGB IX die Zustimmung als erteilt. Es reicht eine telefonische oder mündliche Mitteilung, dass dem 5

Antrag stattgegeben worden ist. Dann kann der Arbeitgeber die Kündigung aussprechen. Das BAG hat im Übrigen entschieden, dass es auch noch ausreicht, wenn das Integrationsamt die ablehnende Entscheidung über den Antrag zur fristlosen Kündigung innerhalb der 2-Wochenfrist zur Post gegeben habe. Liegt die Zustimmung vor oder ist die 2-Wochenfrist abgelaufen, hat der Arbeitgeber die Kündigung unverzüglich zu erklären. In der Praxis wird dem Arbeitgeber nichts anderes übrig bleiben, als am Ende der 2 Wochenfrist beim Integrationsamt telefonisch zu klären, ob eine Zustimmung tatsächlich schon erteilt ist oder die Fiktion eingetreten ist, da eine vorher ausgesprochene Kündigung unwirksam ist. Zu empfehlen ist auch, dass spätestens innerhalb der 2-Wochenfrist, die das Integrationsamt zur Entscheidung hat, der Betriebsrat beteiligt worden ist. Ist der Betriebsrat bisher nicht beteiligt worden, reicht es auch aus, wenn er unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung angehört wird und dann unverzüglich nach der Mitteilung durch den Betriebsrat oder Ablauf der Anhörungsfrist die Kündigung ausgesprochen wird. 6. Entscheidung des Integrationsamtes Die Entscheidung des Integrationsamtes erfolgt durch Zusendung eines Bescheides an den Arbeitgeber und den Schwerbehinderten. Auch wenn die zustimmende Entscheidung des Integrationsamtes noch nicht rechtskräftig sein sollte, hat der Widerspruch des Arbeitnehmers keine aufschiebende Wirkung, der Arbeitgeber muss bei der ordentlichen Kündigung spätestens innerhalb von einem Monat nach Zugang der Kündigung, bei der außerordentlichen Kündigung unverzüglich nach Vorliegen bzw. Anhörung des Betriebsrates kündigen. Das Integrationsamt trifft eine Entscheidung nach freiem, pflichtgemäßem Ermessen. Der Schwerbehindertenschutz hat zum Ziel, den Schwerbehinderten vor den besonderen Gefahren, denen er wegen seiner Behinderung auf dem Arbeitsmarkt ausgesetzt ist, zu schützen und sicherzustellen, dass er gegenüber dem gesunden Arbeitnehmer nicht ins Hintertreffen gerät. Das Integrationsamt muss deshalb die verschiedenen Interessen abwägen, es sollen behinderungsbedingte Nachteile ausgeglichen werden, nicht etwa Schwerbehinderte bevorzugt werden. Deshalb treten bei der Abwägung die Belange des schwerbehinderten Arbeitnehmers zurück und sind um so geringer zu bewerten, je weniger ein Zusammenhang zwischen der Behinderung und dem Kündigungsgrund besteht. Es soll keine Überschneidung mit der arbeitsrechtlichen Prüfung stattfinden, deshalb ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die arbeitsrechtliche Wirksamkeit der beabsichtigten Kündigung nicht etwa nach 1 KSchG oder 626 BGB zu prüfen. Das Integrationsamt hat nach 20 SGB X alles zu ermitteln und zu berücksichtigen, was zur Interessenabwägung notwendig ist. Allerdings muss nicht von Amts wegen großer Aufwand betrieben werden, sondern nur solchen Umständen nachgegangen werden, die sich bei vernünftiger Überlegung aufdrängen. In der Praxis bedeutet dies, dass bei einer krankheitsbedingten Kündigung wichtig ist, ob die Kurzerkrankung bzw. lang andauernde Erkrankung auf die für die Schwerbehinderteneigenschaft maßgebliche Behinderung zurückzuführen sind. Dann sind die Hürden für den Arbeitgeber hoch, die Zustimmung ist 6

aber zu erteilen, wenn mit einer sinnvollen Arbeitsleistung des Schwerbehinderten nicht mehr zu rechnen ist, ein Durchschleppen des Schwerbehinderten ist nicht erforderlich. Die Zustimmung ist insbesondere zu erteilen, wenn der Schwerbehinderte, der auf Dauer krankheitsbedingt unfähig ist, die vertraglichen Pflichten zu erfüllen, nicht weiter eingesetzt werden kann, da ein freier und leidensgerechter Arbeitsplatz nicht zur Verfügung steht. Bei einer verhaltensbedingten Kündigung wird geprüft, ob zwischen dem gerügten Verhalten und der Behinderung ein Zusammenhang besteht. Bei betriebsbedingten Kündigungen ist es ermessensfehlerhaft, wenn das Integrationsamt die unternehmerische Entscheidung zum Wegfall des Arbeitsplatzes auf ihre Zweckmäßigkeit hin überprüfen will. Allerdings ist hier selbstverständlich zu prüfen, ob ein freier Arbeitsplatz zur Verfügung steht, der den Schwerbehinderten eine den Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechende Beschäftigung ermöglicht. Hier ist auch auf die besondere Förderungspflicht gegenüber Schwerbehinderten zu verweisen. Kündigt der Arbeitgeber einem schwerbehinderten Arbeitnehmer in Kenntnis von dessen Schwerbehinderteneigenschaft, ohne zuvor die erforderliche Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung einzuholen, so kann der Arbeitnehmer die Unwirksamkeit der Kündigung bis zur Grenze der Verwirkung gerichtlich geltend machen. Nach 4 Satz 4 KSchG beginnt in derartigen Fällen die 3-wöchige Klagefrist gem. 4 Satz 1 KSchG erst ab der Bekanntgabe der Entscheidung der Behörde an den Arbeitnehmer. Hat das Integrationsamt jedoch die Zustimmung erteilt und der Arbeitgeber muss die aus formellen Gründen unwirksame Kündigung zurücknehmen und erneut formell wirksam aussprechen, so kann die bereits erteilte Zustimmung des Integrationsamtes in diesen Fällen nicht verbraucht werden. Sie beseitigt die für schwerbehinderte Menschen bestehende Kündigungssperre für die Dauer eines Monats. In diesem Zeitraum kann der Arbeitgeber bei gleichbleibendem Kündigungssachverhalt auch mehrfach kündigen, ohne eine erneute Zustimmung einholen zu müssen. Das ist wichtig, wenn sich Fehler in die Betriebsratsanhörung einschleichen oder die Unterzeichnung des Kündigungsschreibens formelle Mängel aufweist. 7. Eingeschränktes Ermessen Die Ermessensentscheidung ist nicht frei, sondern nach 89 SGB IX eingeschränkt, wenn Betriebe geschlossen werden und mindestens 3 Monate zwischen dem Tag der Kündigung und dem Tag, bis zu dem Gehalt oder Lohn gezahlt wird, liegen. Deshalb kann es sich in solchen Fällen u. U. auch empfehlen, eine längere als die vertragliche/tarifvertragliche Kündigungsfrist zu wählen. Neben der Stilllegung des Betriebes gilt aber auch die Betriebseinschränkung als maßgeblich. Hier können wieder die Grundsätze der Rechtsprechung zu 111 Satz 3 Nr. 1 BetrVG angenommen werden. Eine wesentliche Betriebseinschränkung liegt deshalb bei einer Verringerung der Belegschaft vor, wenn die Zahlen und Prozentangaben des 17 Abs. 1 KSchG erfüllt werden, ohne dass der dort festgelegte 30-Tages-Zeitraum gilt, es müssen jedoch mindestens 5 % der Belegschaft des Betriebes betroffen sein. Liegt ein eingeschränktes Ermessen vor, muss das Integrationsamt die 7

Zustimmung zur Kündigung erteilen. Die Einschränkung des pflichtgemäßen Ermessens gilt nicht, wenn eine anderweitige Beschäftigung des Schwerbehinderten möglich und für den Arbeitgeber zumutbar ist, z. B. die Beschäftigung in einem anderen Betrieb oder einer anderen Betriebsabteilung möglich ist. 8. Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung: Neben der Anhörung des Betriebsrats ist nach 95 Abs.2 SGB IX die vorherige Anhörung der Schwerbehindertenvertretung Wirksamkeitsvoraussetzung für die Kündigung. 8