Kathrin Schellhaus. Hrsg. von Dipl. Volkswirt Prof. Dr. Inse Cornelssen



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Übersetzung 1. Abgeschlossen am 29. September 2009 In Kraft getreten durch Notenaustausch am 15. Juni 2012

Transkript:

Fachhochschule Hannover Fachbereich Wirtschaft Kathrin Schellhaus Untersuchung zur Interdependenz von Kultur und Wirtschaft am Beispiel der calvinistischen Ethik und ihrem Einfluss auf das multilaterale Welthandelssystem der WTO Hrsg. von Dipl. Volkswirt Prof. Dr. Inse Cornelssen Arbeitspapier Nr. 81/03 des Fachbereichs Wirtschaft der FH-Hannover ISSN Nr. 1436-1035 (print) ISSN Nr. 1436-1507 (internet)

Vorwort der Herausgeberin Dieses Arbeitspapier entstand als Diplomarbeit aus dem Kontext des VWL-Blockseminars Interdependenz von Kultur und Wirtschaft im Sommer 2003. Die Initialfrage war während des Seminars aufgekommen: Könnte das vielerorts zu beobachtende heftige Aufbegehren gegen die WTO auch etwas damit zu tun haben, dass die Wirtschaftsethik, die den Regelungen zu Grunde liegt, vom Calvinismus geprägt ist, der US-amerikanisches Denken latent beeinflusst und nicht unbedingt kompatibel mit den Wirtschaftsethiken anderer christlicher Konfessionen und erstrecht anderer Religionen ist? Könnte es sein, dass die USA, die federführend an Konzeptionierung und Formulierung der WTO-Vereinbarungen beteiligt sind, - durchaus unbewusst hier eine Art Kulturdominanz praktizieren und damit allen anderen Mitgliedsländern der WTO ihre kulturellen Grundvorstellungen überstülpen? Diesem Fragenkomplex ging Kathrin Schellhaus daraufhin in bemerkenswerter Weise nach. Das Ergebnis ihrer Recherche wird in diesem Arbeitspapier der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Korrekte Zitierungen aus der Studie sind bei genauer Angabe der Quelle ohne gesonderte Erlaubnis der Autorin bzw. Herausgeberin gestattet. Inse Cornelssen II

Inhaltsverzeichnis Tabellenverzeichnis Abbildungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis III VI VII VIII Einleitung 1 1. DAS SYSTEM UND DIE FUNKTIONSWEISE DER WTO 3 1.1. Die Uruguay-Runde von 1994 4 1.2. Die neue Welthandelsordnung 5 1.3. Die Ziele und die Politik der WTO 8 1.4. Die Ministerkonferenzen 9 1.4.1. Die Konferenzen von Singapur und Genf 9 1.4.2. Das Scheitern der dritten Konferenz in Seattle 10 1.5. Die gemeinsamen Vertragsinhalte 11 1.5.1. Die Meistbegünstigung 12 1.5.2. Das Inländerprinzip 13 1.5.3. Das Prinzip der Reziprozität 13 1.6. Die multilateralen Abkommen 14 1.6.1. Das GATT-Abkommen 15 1.6.1.1. Das Entstehen des GATT 16 1.6.1.2. Die Liberalisierung des Warenhandels 17 1.6.1.3. Die protektionistische Wende 18 1.6.2. Das Dienstleistungsabkommen GATS 19 III

1.6.2.1. Der Verlauf der Verhandlungen 20 1.6.2.2. Der grenzüberschreitende Personenverkehr 21 1.6.2.3. Die Auswirkungen des GATS 22 1.6.3. Das TRIPS-Abkommen 23 1.6.3.1. Die Entstehungsgeschichte 24 1.6.3.2. Die Argumente für und wider TRIPS 25 1.7. Das MAI-Abkommen 26 1.7.1. Die Bedeutung der Auslandsdirektinvestitionen 27 1.7.2. Die Kritik am MAI 29 1.8. Das Verfahren zur Streitbeilegung (DSU) 30 1.8.1. Die Organe 31 1.8.2. Die Kritik an der Streitbeilegung 32 2. DIE CALVINISTISCHE ETHIK ALS MOTIVATION FÜR 34 ÖKONOMISCHES HANDELN 2.1. Die Grundzüge des Calvinismus 35 2.1.1. Die Person Johannes Calvin 35 2.1.2. Die Prädestinationslehre 38 2.1.3. Die Verbreitung des Calvinismus 40 2.2. Der Einfluss des Calvinismus auf die Entstehung des modernen Kapitalismus 41 2.2.1. Die calvinistische Wirtschafts- und Sozialethik 42 2.2.2. Die Protestantismus-Kapitalismus-These Max Webers 43 2.3. Der US-amerikanische Puritanismus 45 2.3.1. Das Verhältnis von Religion und Staat 47 IV

2.3.2. Der amerikanische Neokonservatismus 50 2.3.3. Der amerikanische Unilateralismus 51 2.4. Die dominierende Wirtschaftsnation 52 2.4.1. Die verschuldete Wirtschaftsmacht 54 2.4.2. Die Bedeutung des Agrarhandels 55 2.4.3. Die Bedeutung des Dienstleistungsverkehrs 57 2.4.4. Handelspolitik als politisches Druckmittel 58 3. DER CALVINISTISCHE EINFLUSS IN DER WTO 60 3.1. Die internationale Handelsliberalisierung durch das GATT 61 3.2. Die Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen 63 3.3. Der Schutz des geistigen Eigentums 65 3.4. Das Verhältnis zu den Entwicklungsländern 66 3.4.1. Die protektionistische Agrarpolitik 66 3.4.2. Der Streit um die Generika 67 3.4.3. Der Patentschutz für Pflanzenwirkstoffe 70 3.5. Die transatlantischen Handelskonflikte 71 3.5.1. Der Streit um hormonbehandeltes Rindfleisch 71 3.5.2. Der Konflikt um die Zulassung von gentechnisch veränderten Organismen 73 Schlussbetrachtung 75 English Abstract 77 Schrifttumsverzeichnis 79 V

Tabellenverzeichnis Seite Tab. 1: Mitgliedsbeiträge zum WTO-Haushalt 2003 7 Quelle: WTO Annual Report 2003 http://www.wto.org/english/res_e/booksp_/anrep03_e.pdf Abfrage vom 14.08.2003. Tab. 2: Handelskonflikte in der WTO 33 Quelle: Homepage der WTO http://www.wto.org/a-zlist/disputes/disputes_chronologically Abfrage vom 01.08.2003. VI

Abbildungsverzeichnis Seite Abb. 1: Kumulierte ADI in den OECD-Staaten 1993-2002 28 Quelle: Cumulative FDI flows in OECD countries 1993-2002 http://www.oecd.org/dataoecd/52/11/2958722.pdf Abfrage vom 01.06.2003. Abb. 2: Religionsanhänger in den USA 47 Quelle: http://www.adherents.com/relusa.html Abfrage vom 01.05.2003 VII

Abkürzungsverzeichnis ADI Auslandsdirektinvestitionen CHF Schweizer Franken DNA desoxyribonucleic acid DSB Dispute Settlement Body DSU Dispute Settlement Understanding GATS Agreement on Trade in Services GATT General Agreement on Tariffs and Trade IBRD International Bank for Reconstruction and Development IMF International Monetary Fund ITO International Trade Organization MAI Multilateral Agreement on Investment OECD Organization for Economic Cooperation and Development TRIPS Agreement on Trade Related Aspects of Intellectual Property Rights WTO World Trade Organization VIII

Einleitung Einleitung Seit den lautstarken Protesten der Globalisierungsgegner in Seattle steht die Handelspolitik der WTO (World Trade Organization; Welthandelsorganisation) im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Als Nachfolgeorganisation des GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) bildet die WTO die organisatorische Basis für ein globales Handelssystem, das nicht mehr allein auf Regeln für den grenzüberschreitenden Warenverkehr beschränkt ist. Es umfasst zusätzlich Dienstleistungen, Patente sowie Direktinvestitionen und hat Auswirkungen auf nahezu alle nationalen Politikbereiche, die für den internationalen Wettbewerb von Bedeutung sind. Die Ziele der WTO sind die Überwachung der Handelspolitik der Mitgliedsländer, die Liberalisierung des Welthandels und die Lösung von Handelskonflikten durch ein einheitliches Streitbeilegungsverfahren. Die Globalisierung der Güter- und Kapitalströme sowie die Liberalisierung des Welthandels bergen Chancen und Risiken für die Menschen und den Erhalt der Umwelt. Während die Befürworter der WTO nur in einem freien Warenhandel den Garant für einen weltweiten Wohlstand sehen, widersprechen die WTO-Gegner dieser neoliberalen Theorie. Tatsächlich wächst seit Jahrzehnten der Abstand zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern mit der Folge, dass heute bereits über eine Milliarde Menschen von weniger als einem Dollar am Tag leben muss. 1 Ziel einer multilateralen Handelspolitik sollte es daher sein, allen Ländern Wohlfahrtsgewinne zu ermöglichen und diese bei der Bewältigung sozialer und ökologischer Probleme zu unterstützen. Aufgrund ihrer ökonomischen und politischen Bedeutung gehören die USA zu den dominierenden Akteuren in der WTO. Bereits die Gründung des GATT basierte auf den Vorschlägen der USA im Rahmen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. 1 Vgl. o.v.: U.N. Development Programme, Human Development Report 2003, http://www.undp.org/hdr2003/pdf/hdr03_hdi.pdf Abfrage vom 15.08.2003. 1

Einleitung Insbesondere die den WTO-Abkommen zugrunde liegenden Prinzipien waren bereits Bestandteile amerikanischer Handelsgesetze. Die USA sind zudem der größte Beitragszahler in der WTO. Mit 24,5 Millionen CHF finanzieren sie 15,9 Prozent des gesamten WTO-Haushaltes in 2003. 2 Ihre dominierende Position nutzen die USA, um das Prinzip des Freihandels und des ungehinderten Kapitalflusses im Rahmen der WTO durchzusetzen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem kulturellen Verständnis, das der amerikanischen Wirtschaftspolitik zugrunde liegt. Dieses Wertesystem wurde vom Puritanismus geprägt, dessen Anhänger streng calvinistisch gesinnte Protestanten waren. Hierbei nehmen insbesondere die bürgerlichen Freiheitsrechte zusammen mit der protestantischen Selbstverantwortung und dem calvinistischen Arbeitsethos eine zentrale Stellung ein. Zunächst wird das System und die Funktionsweise der WTO sowie die Entstehungsgeschichte der einzelnen Abkommen dargestellt. Im zweiten Teil wird dann der Einfluss der calvinistische Ethik auf die Entwicklung des modernen Kapitalismus in den USA untersucht. Gegenstand des dritten Abschnitts sind die Auswirkungen der calvinistischen Tradition auf das Handelssystem der WTO. Anhand der amerikanischen Vormachtstellung innerhalb des multilateralen Welthandelssystems sowie bestehender transatlantischer Handelskonflikte und dem Verhalten den Entwicklungsländern gegenüber soll die Interdependenz von calvinistischer Ethik und US-Wirtschaftspolitik herausgearbeitet werden. 2 Vgl. o.v.: WTO Annual Report 2003, http://www.wto.org/english/res_e/booksp_e/anrep03 e.pdf, Abfrage vom 14.08.2003. 2

Das System und die Funktionsweise der WTO 1. Das System und die Funktionsweise der WTO Mit Gründung der WTO am 01. Januar 1995 wurde der zweite Versuch unternommen, eine universelle internationale Organisation des Welthandels ins Leben zu rufen. Bereits 1947 sollte im Rahmen der Verhandlungen über das allgemeine Zoll- und Handelsabkommen GATT eine internationale Handelsorganisation (International Trade Organization, ITO) gegründet werden. Diese scheiterte jedoch an verfassungsrechtlichen und innenpolitischen Unstimmigkeiten in den USA. Während die amerikanische Exekutive zu den Initiatoren dieser supranationalen Organisation gehörte, stieß das Vorhaben bei der US-Wirtschaft und ihren Vertretern im Parlament auf Ablehnung. Sie befürchteten mögliche Eingriffe in die eigene wirtschaftspolitische Souveränität. Damit war das Schicksal der ITO besiegelt. 3 Vom gesamten Vertragswerk blieb lediglich das als Teilabkommen vorgesehene GATT übrig, das in den folgenden Jahrzehnten weiter ausgebaut wurde und ein Bestandteil der heutigen WTO ist. Mit dem Scheitern der ITO avancierte das GATT zum einzigen multilateralen Handelsabkommen, wenn auch mit deutlich geringerem Regelungsumfang als die geplante ITO und kaum vorhandener institutionellorganisatorischer Basis. 4 Zur gegenseitigen Verbesserung der Marktzugangsbedingungen fanden im Rahmen des GATT acht multilaterale Handelsrunden statt, in deren Verlauf sich die Teilnehmerländer zu Zollsenkungen im Bereich der Güterund Rohstoffmärkte verpflichteten. Doch infolge eines sich verändernden weltwirtschaftlichen Umfeldes geriet das GATT in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend in Bedrängnis. Drastische Rohölpreiserhöhungen während der Energiekrisen von 1973/74 und 1979/80, gravierende Zahlungsbilanz- und Verschuldungsprobleme sowie eine Rezession mit 3 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 15. 4 Vgl. Hauser, Heinz; Schanz, Kai-Uwe: Das neue GATT, 1995, S. 8 f. 3

Das System und die Funktionsweise der WTO ansteigender Arbeitslosigkeit hatten den Anhängern einer protektionistischen Politik Auftrieb verliehen. Damit war es immer schwieriger geworden, auf multilateraler Ebene weitere Liberalisierungsmaßnahmen zu vereinbaren. 5 Vor diesem Hintergrund kam kurz nach Abschluss der siebten GATT- Runde (sog. Tokio-Runde 1973 79) der Wunsch nach neuen GATT- Verhandlungen auf. Zum Teil ging die Initiative von Industrievertretern aus, die an einer Erweiterung ihrer Absatzmärkte interessiert waren, zum Teil von verschiedenen Regierungen, die so von innenpolitischen Problemen ablenken wollten. 6 1.1. Die Uruguay-Runde von 1994 Auf Initiative der USA begann im September 1986 in Punta del Este (Uruguay) die achte Welthandelsrunde des GATT. Folgende Verhandlungsziele wurden u.a. im Vorfeld festgelegt: die weitere Erleichterung des Marktzugangs durch den Abbau insbesondere von Spitzenzöllen, die Stärkung der bestehenden Welthandelsregeln zur Eindämmung wettbewerbsverfälschender Verhaltensweisen (z.b. staatliche Subventionen) und diskriminierender Praktiken (z.b. bei der Vergabe öffentlicher Aufträge), die Disziplinierung bislang nicht erfasster Formen des nicht-tarifären Protektionismus 7, 5 Vgl. Hauser, Heinz; Schanz, Kai-Uwe: Das neue GATT, 1995, S. 45. 6 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 67. 7 Als nicht-tarifäre Handelshemmnisse werden protektionistische Maßnahmen zur Lenkung von Außenhandelsströmen bezeichnet, die anstelle oder zur Ergänzung der Zollpolitik (tarifäre Handelshemmnisse) eingesetzt werden (z.b. staatliche Subventionen oder Bevorzugung inländischer Produzenten). 4

Das System und die Funktionsweise der WTO die Aufnahme von Dienstleistungen, geistigen Eigentumsrechten in das GATT-Regelwerk und die verstärkte Einbindung der Entwicklungs- und Schwellenländer in das Welthandelssystem. 8 Die vorgegebene Verhandlungszeit von vier Jahren drohte zunächst ohne erfolgreiches Ergebnis zu verstreichen. Besonders im Agrarbereich bestanden Differenzen zwischen den USA und der Europäischen Gemeinschaft. Die EG trat für die Beibehaltung des Außenschutzes der Landwirtschaft ein und verlangte, die direkten Einkommensbeihilfen für Landwirte als nicht handelsschädlich einzustufen. Die USA wiederum drängten auf die Öffnung des europäischen Agrarmarktes. 9 Nach siebenjährigen zähen Verhandlungen wurde die Uruguay-Runde schließlich am 15. Dezember 1993 zu einem Abschluss gebracht. Es war den teilnehmenden Staaten gelungen, mit der WTO eine neue internationale Handelsorganisation ins Leben zu rufen. 1.2. Die neue Welthandelsordnung Am 01. Januar 1995 ist die WTO-Rechtsordnung in Kraft getreten. Gleichzeitig nahm die WTO als neue internationale Organisation völkerrechtswirksam ihre Arbeit auf. Als Dachorganisation umfasst die WTO den GATT-Vertrag, das Abkommen über den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen (Agreement on Trade in Services, GATS) und das Abkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums, einschließlich des Handels mit Nachahmungen und Fälschungen (Agreement on Trade-Related Aspects 8 Vgl. Hauser, Heinz; Schanz, Kai-Uwe: Das neue GATT, 1995, S. 51 f. 9 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 75. 5

Das System und die Funktionsweise der WTO of Intellectual Property Rights, including Trade in Counterfeit Goods, TRIPS). Zur Erfüllung ihrer Aufgaben wurden der WTO verschiedene Organe zugeordnet. Zu ihnen gehören die Ministerkonferenz, der Allgemeine Rat, das Sekretariat und der Generaldirektor, die Räte des GATT, des GATS und des TRIPS sowie weitere Ausschüsse und Arbeitsgruppen. 10 Zum ersten hauptamtlichen Generaldirektor der WTO wurde am 01. Mai 1995 der ehemalige italienische Handelsminister Renato Ruggiero ernannt. Nach dem Ablauf seiner vierjährigen Amtszeit am 30. April 1999 konnte sich die Organisation erst nach wochenlangen Verhandlungen auf eine Lösung im Konflikt um die Neubesetzung des Generaldirektorpostens verständigen. Zum 01. September 1999 übernahm der von den USA favorisierte ehemalige neuseeländische Premierminister Mike Moore die Leitung der WTO. Nach der Hälfte der einmalig auf sechs Jahre verlängerten Amtszeit sollte er von dem thailändischen Handelsminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Dr. Supachai Panitchpakdi abgelöst werden. Für diesen hatten sich vor allem zahlreiche afrikanische, asiatische, aber auch europäische Staaten eingesetzt. Am 01. September 2002 übernahm Supachai Panitchpakdi vereinbarungsgemäß den Posten des Generaldirektors der WTO. 11 Der Hauptsitz der WTO befindet sich im schweizerischen Genf. Sie hat derzeit 146 Mitglieder 12, und mit weiteren dreißig Staaten, darunter Russland und Saudi-Arabien, werden zur Zeit Verhandlungen über einen WTO-Beitritt geführt. 13 10 Vgl. o.v.: Übereinkommen zur Errichtung der WTO, 1994, Art. IV und Art. VI. 11 Vgl. o.v.: Microsoft Encarta Online-Enzyklopädie 2002: Welthandelsorganisation, http://encarta.msn.de, Abfrage vom 16.07.2003. 12 Vgl. o.v.: Homepage der WTO, http://www.wto.org/what is the wto, Abfrage vom 30.05.2003. 13 Vgl. o.v.: Homepage der WTO, http://www.wto.org/a-z list/members list, Abfrage vom 30.05.2003. 6

Das System und die Funktionsweise der WTO Der WTO-Haushalt wird durch Beiträge der Mitgliedsländer erbracht, wobei die Höhe der Zahlungen nach deren Handelsanteilen bestimmt wird. In 2003 sind die USA mit 24,5 Millionen CHF der größte Beitragszahler gefolgt von Deutschland und Großbritannien mit 13,7 Millionen CHF bzw. 8,8 Millionen CHF. Tabelle 1: Mitgliedsbeiträge zum WTO-Haushalt 2003 14 Land Anteil am Gesamtbudget Absolut in CHF in % USA 24.452.662,00 15,9% Deutschland 13.718.960,00 8,9% Großbritannien 8.800.436,00 5,7% Frankreich 8.108.336,00 5,3% Kanada 6.067.410,00 3,9% China 4.852.390,00 3,2% Belgien 4.107.998,00 2,7% Spanien 3.740.416,00 2,4% Taiwan 3.123.678,00 2,0% Singapur 3.034.474,00 2,0% Sonstige 80.006.760,00 48,0% Gesamt: 153.800.000,00 100,0% 14 Vgl. o.v.: WTO Annual Report 2003, http://www.wto.org/english/res_e/booksp_/anrep03_e.pdf, Abfrage vom 14.08.2003. 7

Das System und die Funktionsweise der WTO 1.3. Die Ziele und die Politik der WTO Im Übereinkommen zur Errichtung der WTO werden die Ziele der neuen Organisation dargestellt. Die Präambel enthält einen Katalog von Vorgaben, die einerseits handelspolitischer Art sind, andererseits auf den Umweltschutz und die Bevorzugung der wirtschaftlich schwächeren Staaten ausgerichtet sind. Die wirtschaftlichen Aspekte entstammen noch dem ursprünglichen GATT-Vertrag. Die Erwähnung der Umwelt und die Förderung der Entwicklungsländer sind neu hinzugekommen. 15 Beide Aspekte werden jedoch im weiteren Vertragstext nicht näher konkretisiert. Zu Beginn steht eine Absichtserklärung, dass die Ziele auf die Erhöhung des Lebensstandards, auf die Sicherung der Vollbeschäftigung und eines hohen und ständig steigenden Umfangs des Realeinkommens und der wirksamen Nachfrage sowie auf die Ausweitung der Produktion und des Handels mit Waren und Dienstleistungen auszurichten sind. 16 Zur Erreichung dieser Ziele verfolgt die WTO die Liberalisierung des Welthandels. Zölle und andere Handelsschranken sollen abgebaut und die Diskriminierung in den internationalen Handelsbeziehungen beseitigt werden. 17 Die WTO dient als Forum für Verhandlungen zwischen ihren Mitgliedern und gewährleistet die Umsetzung der multilateralen Handelsabkommen. Weiterhin bemüht sie sich um die Lösung von Handelskonflikten, überprüft nationale Handelspolitiken und arbeitet mit den anderen internationalen Organisationen des Welthandels zusammen (u.a. dem Internationalen Währungsfonds, IMF und der Internationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, IBRD). 18 15 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 156. 16 Vgl. o.v.: Präambel des Übereinkommens zur Errichtung der WTO, 15. April 1994. 17 Vgl. ibid. 18 Vgl. o.v.: Übereinkommen zur Errichtung der WTO, 1994, Art. III (1) (5). 8

Das System und die Funktionsweise der WTO 1.4. Die Ministerkonferenzen Die im Rahmen des GATT durchgeführten Handelsrunden finden im WTO-Übereinkommen ihre Entsprechung in der Ministerkonferenz, die sich aus Vertretern aller Mitglieder zusammensetzt und mindestens einmal alle zwei Jahre zusammen treten soll. 19 Vom Inkrafttreten der WTO bis zur ersten Ministerkonferenz in Singapur vom 09. bis 13. Dezember 1996 waren die Mitglieder zunächst darum bemüht, die neue WTO-Ordnung anzuwenden sowie den mit der Uruguay-Runde ausgelösten Marktöffnungs- und Liberalisierungsprozess kontinuierlich fortzuführen. Seit Gründung der WTO haben vier Konferenzen stattgefunden, die fünfte wird zur Zeit vorbereitet und soll vom 10. bis 14. September 2003 im mexikanischen Cancún abgehalten werden. Bereits im Vorfeld der ersten WTO-Konferenz zeichnete sich eine starke Opposition seitens der Entwicklungsländer, der Umweltschutzorganisationen und verschiedener Nichtregierungsorganisationen gegen die Industrieländer und die WTO ab. Seitdem werden die Ministerkonferenzen von Straßendemonstrationen und weltweiten Protesten begleitet, die sich während der dritten Ministerkonferenz 1999 in Seattle zur globalen Anti-WTO-Bewegung entwickelten. 20 1.4.1. Die Konferenzen von Singapur und Genf Als wichtige Verhandlungsergebnisse der Zusammenkunft in Singapur sind die Übereinkünfte zur Liberalisierung von Telekommunikation und Finanzdienstleistungen zu nennen. Zusätzlich wurde vereinbart, Zölle für Waren der Informationstechnologie aufzuheben. Auch wurde hier erstmals 19 Vgl. o.v.: Übereinkommen zur Errichtung der WTO, 1994, Art. IV (1). 20 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 689. 9

Das System und die Funktionsweise der WTO festgelegt, dass zukünftig die Bereiche Handel und Investitionen, Handel und Wettbewerb sowie die öffentliche Beschaffung in der WTO zu behandeln sind. Der Schutz und die Liberalisierung von ausländischen Investitionen war damals deshalb aktuell, da 1995 die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Aushandlung des Multilateralen Investitionsabkommens (Multilateral Agreement on Investment, MAI) beschlossen hatte (hierzu vgl. Kapitel 1.7.). 21 Die zweite Ministerkonferenz fand in Genf vom 18. bis 20. Mai 1998 statt. Sie diente weniger neuen Liberalisierungen als vielmehr den Feierlichkeiten des fünfzigjährigen Bestehens der Welthandelsordnung GATT/WTO. Zusätzlich einigten sich die Teilnehmer, gegen Ende 1999 in den USA eine dritte WTO-Ministerkonferenz durchzuführen. 22 1.4.2. Das Scheitern der dritten Konferenz in Seattle Die Ministerkonferenz in Seattle wurde von massiven Demonstrationen begleitet, deren unausweichliche Folge das Scheitern der Verhandlungen bedeutete. Doch auch die unversöhnlichen Verhandlungspositionen, die sich schon im Vorfeld zwischen den Industriestaaten und den Entwicklungsländern abzeichneten, führten zum Abbruch der Konferenz. Erstmals traten die Entwicklungsländer koordiniert und mit klaren Forderungen auf. Sie wollten zunächst die noch offenen Punkte der Uruguay-Runde geklärt haben, bevor eine neue Liberalisierungsrunde begonnen würde. Die Industrieländer stimmten weder dem von den Entwicklungsländern geforderten schnelleren Abbau von Handelsschranken für Textilien noch dem Abbau von Agrarsubventionen zu. Doch 21 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 688. 22 Vgl. ibid., S. 690. 10

Das System und die Funktionsweise der WTO anstelle sich den Industrieländern erneut zu fügen, beharrten die Drittweltstaaten auf ihren Forderungen. Ein weiterer Interessenskonflikt bestand zwischen der EU und den USA. Als größter Agrarexporteur der Welt verlangten die USA von ihren Handelspartnern eine weitere Agrarmarktöffnung, den Abbau von Agrarsubventionen und eine Reduktion von Agrarimportabgaben. Der geforderte Abbau der Exportsubventionen richtete sich hauptsächlich gegen die EU, die sich weigerte, den Agrarschutz aufzugeben. In Seattle wurden die WTO-Mitgliedsstaaten erstmalig damit konfrontiert, dass sie nicht mehr unabhängig den Welthandel regeln konnten. Die lautstarken Proteste und das selbstbewusste Auftreten der Entwicklungsländer hatten den Delegierten verdeutlicht, dass sie im Fokus der globalen Aufmerksamkeit standen. 23 1.5. Die gemeinsamen Vertragsinhalte Die in der Uruguay-Runde ausgehandelten Vereinbarungen der WTO lassen sich in multilaterale und plurilaterale Abkommen unterteilen. Zu den multilateralen Abkommen zählen das Abkommen zur Schaffung der WTO, das GATT, das GATS und das TRIPS. Sie sind für alle WTO-Mitglieder verbindlich. Die plurilateralen Abkommen über den Handel mit zivilen Luftfahrzeugen und über das öffentliche Beschaffungswesen verpflichten nur die an diesen teilnehmenden Staaten. 24 Zudem ist die Teilnahme an den plurilateralen Abkommen nicht an die Mitgliedschaft in der WTO gebunden. 23 Vgl. Attac (Hg.): Die geheimen Spielregeln des Welthandels, 2003, S. 47. 24 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 154. 11

Das System und die Funktionsweise der WTO Weiterhin existieren gemeinsame Abkommensinhalte, die in der Präambel der WTO genannt werden. Zu ihnen gehören u.a. die Prinzipien der Meistbegünstigung und der Inländergleichbehandlung (Inländerprinzip) sowie der Grundsatz der Reziprozität. 25 1.5.1. Die Meistbegünstigung Das Prinzip der Meistbegünstigung ist ein Kernelement der Welthandelsordnung. Es bezieht sich auf die zwischen den WTO-Mitgliedern vertraglich vereinbarten Verhaltensnormen zur gegenseitigen handelspolitischen Gleichstellung bzw. der Nichtdiskriminierung der WTO-Partner. Die im Text des WTO-Vertrages verwendete Formulierung ist jedoch nicht einheitlich. Mal ist von einer nicht weniger günstigen Behandlung, an anderer Stelle von einer Nichtdiskriminierung und unverzüglichen und bedingungslosen Gewährung der Vorteile und Begünstigungen die Rede. 26 Über die Vorschläge der USA zur Gründung der ITO gelangte die Idee der Meistbegünstigung in das GATT-Abkommen von 1947. Dieses in den Artikeln des GATT, GATS und TRIPS festgehaltene Prinzip verpflichtet die WTO-Mitglieder, alle Vorteile, die sie im Handel mit Gütern und Dienstleistungen oder im Zusammenhang mit handelsbezogenen Aspekten des geistigen Eigentums einem anderen Handelspartner (unabhängig, ob dieser ein WTO-Mitglied ist oder nicht) gewähren, auch allen anderen WTO-Vertragsstaaten zuzugestehen. Somit ist sichergestellt, dass WTO-Mitglieder gegenüber Anbietern aus Drittmärkten nicht schlechter gestellt sind. 27 25 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 154. 26 Vgl. ibid., S. 159. 27 Vgl. ibid., S. 160. 12

Das System und die Funktionsweise der WTO 1.5.2. Das Inländerprinzip Um den Handeltreibenden Transparenz und Sicherheit garantieren zu können, verbietet die WTO ihren Mitgliedern, ausländische Waren und Dienstleistungen sowie deren Anbieter ungünstiger zu behandeln als einheimische Waren, Dienstleistungen und ihre Anbieter. Diese Gleichstellungspflicht wird als Inländerprinzip bezeichnet. Es ist eine konsequente Ergänzung zum Meistbegünstigungsprinzip. Während dieses zur Nichtdiskriminierung zwischen den ausländischen Vertragspartnern verpflichtet, dient das Inländerprinzip der Nichtdiskriminierung zwischen dem In- und Ausland. 28 Auch das Inländerprinzip war bereits Bestandteil des GATT-Abkommens. Erste Erwähnung findet dieser Grundsatz in den US-Proposals for Expansion of World Trade and Employment von 1945. Hiermit forderten die USA ihre Handelspartner dazu auf, die Importgüter steuerlich nicht schlechter zu behandeln als die inländischen Waren. Genau wie das Meistbegünstigungsprinzip auch, war das Inländerprinzip im US-Entwurf zur Gründung der ITO enthalten und wurde so im Rahmen des GATT berücksichtigt. 29 1.5.3. Das Prinzip der Reziprozität Das dritte Kernelement der multilateralen Welthandelsordnung ist das Prinzip der Reziprozität. Es beinhaltet die Aufforderung zu gegenseitig ausgewogenen Verhandlungen, zu gleichgewichtigen Konzessionen und zur Wahrung gemeinsamer Interessen. Wie ein roter Faden durchzieht dieses Prinzip das WTO-Vertragswerk. Einerseits bildet es ein 28 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 182 f. 29 Vgl. ibid., S. 183. 13

Das System und die Funktionsweise der WTO ungeschriebenes Grundelement der WTO-Vereinbarungen. Indem alle Vertragsparteien die gleichen Rechte und Pflichten eingehen, tragen sie zu einem wechselseitigen Ausgleich der damit verbundenen Vor- und Nachteile und zu einer für die Partnerstaaten gleichgewichtigen Welthandelsordnung bei. Andererseits enthalten viele Bestimmungen der WTO konkret die Aufforderung, die Verhandlungen nach dem Prinzip der Reziprozität zu führen. 30 Von der Idee der Reziprozität ist schon 1934 in dem nach dem amerikanischen Staatssekretär Cordell Hull benannten Reciprocal Trade Agreements Act (sog. Hull Programm) die Rede. Dieses Handelsgesetz, welches bereits die wesentlichen Elemente des späteren GATT beinhaltete, markierte die Neuausrichtung der amerikanischen Außenhandelspolitik nach den verheerenden Folgen der Weltwirtschaftskrise von 1929. Hulls Anliegen war es, die Handelsschranken im In- und Ausland abzubauen, um den Exporthandel der USA zu fördern. 31 1.6. Die multilateralen Abkommen Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichneten die GATT- Vertragspartner schließlich am 15. April 1994 die Schlussakte der Uruguay-Runde. Neben dem Übereinkommen zur Errichtung der WTO gehören die multilateralen Abkommen zu den wichtigsten Ergebnissen dieser bislang längsten Handelsrunde. Zu ihnen zählen das GATT, das GATS und das TRIPS. 30 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 200 f. 31 Vgl. Senti, Richard: GATT System der Welthandelsordnung, 1986, S. 4 f. 14

Das System und die Funktionsweise der WTO 1.6.1. Das GATT-Abkommen Das GATT wurde 1947 als Handelsvertrag zum Abbau der Zoll- und Handelsschranken im internationalen Wirtschaftsverkehr abgeschlossen. Zentraler Bestandteil war die Bildung eines internationalen Forums zur Ausweitung des multilateralen Handels. Außerdem war es für die Schlichtung und Beilegung internationaler Handelsauseinandersetzungen zuständig. Ursprünglich war das GATT bis zur Gründung der ITO als Provisorium vorgesehen. 32 Zu den handelspolitischen Zielen gehörte die Erhöhung des internationalen Warenaustausches, durch welche der Lebensstandard in den Mitgliedsstaaten gehoben, das Wirtschaftswachstum beschleunigt und die Beschäftigungssituation verbessert werden sollte. Die Umsetzung dieses Zieles erfolgte im Rahmen mehrerer Zollkonferenzen. 33 Mit Gründung der WTO hat das GATT eine inhaltliche Erweiterung und eine formale Neuausrichtung erfahren. Während sich das GATT auf den internationalen Handel mit Gütern beschränkte, erfasst die WTO auch den Dienstleistungshandel und die handelsrelevanten Aspekte der geistigen Eigentumsrechte. Zusätzlich wurde eine internationale Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit geschaffen, in welche das GATT-Abkommen eingebunden wurde. 32 Vgl. o.v.: Microsoft Encarta Online-Enzyklopädie 2002: GATT, http://encarta.msn.de, Abfrage vom 30.05.2003. 33 Vgl. ibid. 15

Das System und die Funktionsweise der WTO 1.6.1.1. Das Entstehen des GATT Die demokratische Regierung der USA vertrat in den 1940er Jahren die Auffassung, dass das Fehlen eines offenen Welthandelssystems in den 1930er Jahren die Hauptursache der ausbrechenden Feindseligkeiten gewesen sei. Durch die international betriebene Schutzzollpolitik war der weltweite Handel erheblich geschwächt worden und hatte demzufolge die Weltwirtschaftskrise noch zusätzlich verschärft. Aus diesem Grund schlugen die USA zur Sicherung des Weltfriedens ein freiheitliches Außenhandelssystem vor. Auch sollte dieses eine Anbindung der westlichen Staaten an den Kommunismus verhindern. Neben diesem ideologischen Ziel hatte das Eintreten der Amerikaner für eine multilaterale Lösung der Handelsprobleme noch einen weiteren Grund. Die bisher mit anderen Staaten unter Anwendung der Meistbegünstigungsklausel abgeschlossenen bilateralen Handelsabkommen hatten vielen Drittstaaten freien Zugang zum amerikanischen Markt gewährt, ohne dass Gegenleistungen für die USA erfolgt waren. Ein multilaterales Abkommen hätte für die USA den Vorteil gehabt, auch Länder, mit denen keine bilateralen Vereinbarungen bestanden, zu entsprechenden Zollreduktionen zu verpflichten. 34 Im Rahmen der Atlantik-Charta von 1941 hatten sich die Alliierten auf die Grundzüge der politischen und wirtschaftlichen Nachkriegsordnung verständigt. U.a. wurde eine frühzeitige Eindämmung aufkommender protektionistischer Anzeichen beschlossen. Diese Zielsetzung fand ihre Konkretisierung in der Gründung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank 1944 im amerikanischen Bretton Woods. Auch die ITO war als dritter institutioneller Pfeiler der Weltwirtschaftsordnung der Nachkriegszeit vorgesehen. In diese war das GATT als Teilabkommen eingebettet. Mit dem Scheitern der ITO blieb lediglich das GATT übrig, das von 1947 bis zur Gründung der WTO den internationalen Handel regelte. 35 34 Vgl. Senti, Richard: GATT System der Welthandelsordnung, 1986, S. 4 ff. 35 Vgl. Hauser, Heinz; Schanz, Kai-Uwe: Das neue GATT, 1995, S. 7 f. 16

Das System und die Funktionsweise der WTO 1.6.1.2. Die Liberalisierung des Warenhandels Zunächst konnten im Rahmen der sieben GATT-Welthandelsrunden die Einfuhrzölle auf industrielle Güter von anfangs 35 Prozent im Jahre 1947 auf weniger als fünf Prozent nach der Tokio-Runde im Jahre 1979 drastisch reduziert werden. 36 Dies galt jedoch nur für die Industrieländer. In den Entwicklungs- und Schwellenländern hatte man unter Berufung auf die Schutzbedürftigkeit der im Aufbau befindlichen heimischen Industrien keine nennenswerten Abbauschritte unternommen. 37 Dennoch zählen die durchgeführten Zollsenkungen zu den Erfolgen des GATT. Das anfänglich gute Funktionieren des GATT-Systems basiert zum einen auf dem wirtschaftspolitisch dynamischen Klima jener Zeit. Eine wichtige Rolle spielte der Übergang zu marktwirtschaftlichen Ordnungen bei den beiden Kriegsverlierern Deutschland und Japan. Hierbei wirkte sich die Bereitschaft der USA aus, zur Eindämmung des Kommunismus den aufstrebenden Wirtschaften ihren Platz zu lassen, damit diese den weltweiten Liberalisierungsprozess beschleunigen sollten. Eine Haltung, welche die USA gegenüber der EU heute allerdings nicht mehr einnehmen. Andererseits bildete das GATT zu dieser Zeit den normativen und institutionellen Rahmen für den Abschluss von multilateralen Verträgen, die zur Verringerung der Zölle führten. Vor allem die USA bedienten sich des GATT als der wichtigsten weltwirtschaftlichen Einrichtung. 38 36 Vgl. Beise, Marc: Grauzonen im Welthandel, 1998, S. 50. 37 Vgl. ibid., S. 42 f. 38 Vgl. ibid., S. 50. 17

Das System und die Funktionsweise der WTO 1.6.1.3. Die protektionistische Wende Seit Ende der 1970er Jahre zeichnete sich im GATT ein zunehmender protektionistischer Trend aufgrund der Konjunktureinbrüche im Verlauf der Ölpreisschocks ab. Hierbei hatten die sog. nicht-tarifären Handelshemmnisse in Form von z.b. Exportsubventionen und Einfuhrkontingenten die Zölle als klassisches protektionistisches Instrument abgelöst. Auch die systematischen Lücken im GATT-System insbesondere die fehlende Einbeziehung der für die internationalen Handelsbeziehungen immer wichtiger werdenden Dienstleistungen und geistigen Eigentumsrechte wurden gezielt für protektionistische Maßnahmen genutzt. 39 Darüber hinaus hatte sich in den 1970er Jahren eine grundlegend veränderte Weltwirtschaftsstruktur entwickelt. Mit der EG und Asien waren mächtige Wirtschaftsblöcke entstanden, die mit den USA um die ökonomische Führungsrolle konkurrierten. Als die US-Volkswirtschaft im Verhältnis zur Weltwirtschaft schrumpfte, ging Amerika zu einer protektionistischen Handelspolitik über. In der Überzeugung, dass die strukturelle Krise auf unfaire Handelspraktiken der anderen Staaten zurückzuführen sei, wurden zunehmend bilaterale Abkommen geschlossen. Die multilateralen Versuche über das GATT den Welthandel in jenen Bereichen zu liberalisieren, die den USA vorteilhaft erschienen, traten daher immer mehr in den Hintergrund. 40 Im Rahmen der siebten Handelsrunde sollte eine Lösung für diese Probleme herbeigeführt werden. Die hier vereinbarten Neuregelungen wurden jedoch nur von einem Teil der GATT-Vertragsparteien verbindlich akzeptiert. 41 Neben der Ohnmacht gegenüber den protektionistischen Maßnahmen gehörten auch die Schwerfälligkeit und Ineffizienz des multilateralen Streitschlichtungsverfahrens zu den ungelösten Problemen des GATT- Welthandelssystems. Da die siebte Handelsrunde zu keinem zufrieden- 39 Vgl. Beise, Marc: Grauzonen im Welthandel, 1998, S. 51. 40 Vgl. ibid., S. 52. 41 Vgl. ibid., S. 45 f. 18

Das System und die Funktionsweise der WTO stellenden Ergebnis geführt hatte, wurde von zahlreichen Staaten eine neue Verhandlungsrunde gefordert, die schließlich 1986 in Uruguay begann und mit der Modifizierung des GATT und der Gründung der WTO zu Ende geführt wurde. 42 1.6.2. Das Dienstleistungsabkommen GATS Die geringe Bedeutung des Dienstleistungshandels sowie die Schwierigkeit seiner statistischen Erfassung sind die Ursachen, warum in den ersten GATT-Verhandlungen der Nachkriegszeit die Dienstleistungen keine Berücksichtigung fanden. Doch ihre zunehmende Bedeutung in den folgenden Jahrzehnten entfachte eine Diskussion zur Schaffung einer internationalen Dienstleistungsordnung. 43 Im Rahmen der Uruguay-Runde wurde dann erstmals seit Bestehen des GATT multilateral über Dienstleistungen verhandelt. Ergebnis ist das Allgemeine Dienstleistungsabkommen GATS zur Liberalisierung des internationalen Dienstleistungshandels. Zusätzlich kamen die Mitgliedsstaaten in der Uruguay-Runde überein, bezüglich der Entwicklung des GATS weiterzuverhandeln, um die Liberalisierung von Dienstleistungen progressiv voranzubringen. 44 Anfang 2000 sind im Rahmen der WTO Neuverhandlungen über das GATS begonnen worden, die bis Ende 2004 abgeschlossen sein sollen. 42 Vgl. Hauser, Heinz; Schanz, Kai-Uwe: Das neue GATT, 1995, S. 47 f. 43 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 564. 44 Vgl. Allgemeines Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen, 1994, Art. XIX(1). 19

Das System und die Funktionsweise der WTO 1.6.2.1. Der Verlauf der Verhandlungen Die Entwicklung der Vertragsausarbeitung war hierbei vor allem von den Interessensgegensätzen zwischen den Industriestaaten auf der einen und den Entwicklungsländern auf der anderen Seite geprägt. Als Wortführer der Industriestaaten waren die USA die treibende Kraft für die Liberalisierung der internationalen Dienstleistungen. Sie erwarteten durch die Beseitigung von Beschränkungen des internationalen Kapitalflusses und durch verbesserte Möglichkeiten für Auslandsniederlassungen, neue Märkte erschließen zu können. Während die Industriestaaten also auf der Grundlage eines multilateralen Rahmenvertrages wirtschaftliche Vorteile zu erzielen hofften, wurden seitens der Entwicklungsländer Bedenken geäußert. Sie fürchteten aufgrund ihrer technologischen Unterlegenheit die übermächtige Konkurrenz der Industriestaaten. Um den Aufbau eines eigenständigen heimischen Dienstleistungshandels zu forcieren, bevorzugten viele Entwicklungsländer deshalb die Abschottung der eigenen Märkte. Außerdem hatten sie bereits im Rahmen des GATT negative Erfahrungen mit dem handelspolitischen Verhalten der Industriestaaten gemacht. Diese hatten entgegen der von ihnen propagierten Liberalisierungsverpflichtungen u.a. im Bereich des Textil- und Stahlhandels zu protektionistischen Maßnahmen gegriffen, nachdem die Entwicklungsländer aufgrund geringerer Produktionskosten Wettbewerbsvorteile erlangt hatten. Zudem sahen die weniger entwickelten Staaten ihre nationale Souveränität in wirtschaftlicher und handelspolitischer Hinsicht durch transnationale Konzerne, welche die Dienstleistungssektoren dominierten, gefährdet. 45 45 Vgl. Koehler, Matthias: Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), 1999, S. 70 f. 20

Das System und die Funktionsweise der WTO Infolge der ablehnenden Haltung der Entwicklungsländer drohten die USA mit der Aufkündigung sämtlicher GATT-Verpflichtungen und dem Aufbau von regionalen und bilateralen Handelsbeziehungen, falls der internationale Dienstleistungshandel nicht in das GATT einbezogen würde. 46 1.6.2.2. Der grenzüberschreitende Personenverkehr Den konfliktreichsten Gegenstand der GATS-Verhandlungen bildete der grenzüberschreitende Personenverkehr. Dieser gehörte zu den wenigen wirtschaftlichen Vorteilen, über welche die Entwicklungsländer gegenüber den technologisch dominierenden Industriestaaten im Dienstleistungsbereich verfügten. Durch das große Arbeitskräftepotenzial und das wesentlich geringere Lohnniveau hofften die wirtschaftlich unterentwickelten Länder, eigene Arbeitskräfte auf den Dienstleistungsmärkten der Industriestaaten einsetzen zu können. 47 Die Industrieländer hatten diesbezüglich eine gänzlich andere Auffassung. Das Problem der Dauerarbeitslosigkeit hatte hier zu einem Überangebot an Arbeitskräften geführt. Außerdem befürchteten sie durch eine Öffnung der Arbeitsmärkte den Zustrom an Einwanderern, die aufgrund der sozialpolitischen Situation auch in den klassischen Einwanderungsländern Kanada und den USA unerwünscht waren. 48 Um eine Lösung in dem Konflikt herbeizuführen, wurden sowohl von den Industriestaaten als auch den Entwicklungsländern Kompromissvorschläge erarbeitet. Der GATS-Entwurf der USA sah eine zeitlich begrenzte Einreise von Dienstleistungserbringern vor. Dabei beschränkte 46 Vgl. Koehler, Matthias: Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), 1999, S. 71 f. 47 Vgl. ibid., S. 181 f. 48 Vgl. ibid., S. 182 f. 21

Das System und die Funktionsweise der WTO sich der Vorschlag lediglich auf geschäftsleitende Führungskräfte, um die Einreise und eine damit verbundene Einwanderung gering qualifizierter Arbeiter zu verhindern. 49 Die Begrenzung auf qualifizierte Arbeitskräfte wurde von den Entwicklungsländern kritisiert. Daher legten diese ein Gegenkonzept vor, das den grenzüberschreitenden Personenverkehr für das gesamte Dienstleistungspersonal forderte. Da keine Einigung erzielt werden konnte, wurde über dieses Thema nicht weiter verhandelt, um den Abschluss der Uruguay-Runde nicht zu gefährden. Der später verabschiedete Vertragsanhang des GATS zum Personenverkehr kam den Vorschlägen der Entwicklungsländer weitgehend entgegen. 50 1.6.2.3. Die Auswirkungen des GATS Als Vorteile für eine Liberalisierung des Dienstleistungshandels werden seitens der GATS-Befürworter eine steigende Beschäftigung und Armutsreduktion genannt. Auch sollen die Preise für Dienstleistungen durch eine Marktöffnung für den Verbraucher günstiger werden. Ein größerer Markt ermöglicht zudem eine schnellere Innovationsfähigkeit und transferiert neue Technologien in die Entwicklungsländer. Gegen die GATS-Verhandlungen regt sich weltweiter Widerstand. Angeführt von globalisierungskritischen Nichtregierungsorganisationen, wie z.b. Attac 51, weisen diese auf die Probleme einer fortschreitenden Liberalisierung im Bereich der öffentlichen Dienste und wichtiger Infrastrukturleistungen hin. Sie befürchten, dass die Privatisierungen zu 49 Vgl. Koehler, Matthias: Das Allgemeine Übereinkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), 1999, S. 184 ff. 50 Vgl. ibid., S. 186 ff. 51 Attac = Abkürzung für frz. Association pour une taxation des transactions financières pour l aide aux citoyens, Vereinigung zur Besteuerung von Finanztransaktionen zum Wohle der Bürger: internationales Netzwerk von Globalisierungskritikern. 22

Das System und die Funktionsweise der WTO Qualitätseinbußen, Preissteigerungen, erschwertem Zugang für Arme und steigender Arbeitslosigkeit durch Rationalisierung führen. Zu den besonders sensiblen Bereichen werden hierbei die Wasserversorgung und der Bildungsbereich gezählt. 52 1.6.3. Das TRIPS-Abkommen Das TRIPS-Abkommen, welches gemeinsam mit dem WTO-Vertrag, dem GATT und dem GATS beschlossen worden ist, behandelt die handelspolitischen Aspekte geistiger Eigentumsrechte. Es verpflichtet die Mitgliedsstaaten der WTO zur Harmonisierung ihrer Instrumente zum Schutz geistigen Eigentums und zur Ausdehnung dieses Schutzes auf Innovationen auf sämtlichen Gebieten der Technik. 53 Mit dem TRIPS soll demzufolge ein globales Patentrecht durchgesetzt werden. Der Begriff des geistigen Eigentums umfasst hierbei folgende Bereiche: das Urheberrecht (z.b. literarische Arbeiten, Computersoftware), Marken (d.h. Zeichen, die dazu dienen, die eigenen Waren und Dienstleistungen vom Wettbewerber zu unterscheiden), geografische Bezeichnungen, die eine Ware als aus einem bestimmten Land oder einer bestimmten Region identifizieren, den Schutz gewerblicher Muster, Patente, integrierte Schaltkreise (Waren, die in ihrer End- oder Zwischenform ein Element mit einer elektronischen Funktion beinhalten) sowie 52 Vgl. Fritz, Thomas: Was ist das GATS?, http://www.attac.de/gats/wasistdasgats.pdf, Abfrage vom 01.07.2003. 53 Vgl. Seiler, Achim: Die Bestimmungen des WTO-TRIPS-Abkommens und die Optionen zur Umsetzung des Art. 27.3 (b), http://www.attac.de/archiv/studie_zu_trips.pdf, Abfrage vom 01.06.2003. 23

Das System und die Funktionsweise der WTO den Schutz nicht offengelegter Informationen (z.b. die Geheimhaltung von Testdaten pharmazeutischer Produkte). 54 Nicht in allen WTO-Mitgliedsstaaten ist das TRIPS gleichzeitig in Kraft getreten. Während es für die Industrieländer seit dem 01. Januar 1996 rechtskräftig ist, erhielten die Entwicklungsländer einen Aufschub bis 2001. In den am wenigsten entwickelten Staaten tritt das TRIPS erst ab 2016 in Kraft, weil diese bislang nur ein unzureichendes Patentrecht besitzen. Der Aufschub soll ihnen den Zugang zu neuen Ideen und Technologien vereinfachen und damit einhergehend den strukturellen Aufbau des jeweiligen Staates fördern, denn die meisten Patentinhaber in diesen Ländern sind Unternehmen aus den Industriestaaten. Daher stößt das TRIPS in den Entwicklungsländern auf eine starke Kritik. 55 1.6.3.1. Die Entstehungsgeschichte Trotz bestehender internationaler Vereinbarungen traten seit der Nachkriegszeit immer häufiger Verletzungen der Schutzrechte im Bereich des geistigen Eigentums auf. Insbesondere Japan galt als das Land der Kopierer. U.a. wurden auch China, Taiwan und Thailand der Piraterie bei Musikaufnahmen und Software beschuldigt. Die bestehende Rechtsunsicherheit veranlasste die USA, einen Kodex über den Schutz geistigen Eigentums auszuarbeiten. Dieser Vorschlag fand jedoch im Rahmen der siebten GATT-Runde bei den anderen Delegationen keine Zustimmung. Während der Uruguay-Runde wurde der Schutz des geistigen Eigentums erneut aufgegriffen. 54 Vgl. Attac (Hg.): Die geheimen Spielregeln des Welthandels, 2003, S. 92 f. 55 Vgl. o.v.: Das TRIPS-Abkommen der WTO, www.attac.de/osnabrueck/material/trips/rtf, Abfrage vom 26.07.2003. 24

Das System und die Funktionsweise der WTO Ziel dieser Verhandlungen war es, im Rahmen der neuen Welthandelsorganisation ein unabhängiges Schutzsystem für das geistige Eigentum zu implementieren. 56 Während die USA zusammen mit den Industriestaaten ein allgemeines Schutzabkommen erarbeiten wollten, waren die Entwicklungsländer der Auffassung, dass lediglich der Handel mit Produktfälschungen zukünftig unterbunden werden sollte. Sie betrachteten die Harmonisierung der Standards auf ihrer Entwicklungsstufe als nicht angemessen. Der von den USA vorgelegte Vertragsentwurf enthielt Bestimmungen über die Eigentumsrechte, die Durchsetzung der Patent-, Marken- und Urheberrechte, die Streitschlichtung und das Ergreifen von Gegenmaßnahmen. Aufgrund der kritischen Haltung der Entwicklungsländer konnte keine Einigung erzielt werden. 57 Zum Ende der Uruguay-Runde einigten sich die Verhandlungsdelegierten doch noch auf die Regelung der geistigen Eigentumsrechte in Form eines Abkommens. Auf Druck der USA, gegen Staaten, die diesen Schutz nicht beachten, unilaterale Sanktionen wegen unfairer Handelspraktiken anzuwenden, stimmten die Entwicklungsländer dem TRIPS schließlich zu. 58 1.6.3.2. Die Argumente für und wider TRIPS Gemäß Art. 7 des TRIPS-Abkommens soll der Schutz geistigen Eigentums zur Förderung von Innovationen sowie zur Weitergabe und Verbreitung von Technologie zum beiderseitigen Vorteil von Produzent und Nutzer beitragen. Tatsächlich verhindern die globalen Patente, deren 56 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise der Welthandelsordnung, 2000, S. 608. 57 Vgl. ibid., S. 610. 58 Vgl. ibid., S. 611. 25

Das System und die Funktionsweise der WTO Schutzfristen länger als ihre jeweiligen Innovationszyklen sind, einen Innovationswettbewerb. Die Durchsetzung des TRIPS ist also negativ für den Fortschritt und fördert ihn in keiner Weise. 59 Die Industriestaaten rechtfertigen ihr Schutzbedürfnis mit den von ihnen getätigten Investitionen. Ohne den Schutz des geistigen Eigentums durch Patente und Marken wären sie der willkürlichen Nachahmung ausgeliefert. Die Folge wäre eine Reduzierung der Forschung und Entwicklung, die sich negativ auf die Innovation und das weltwirtschaftliche Wachstum auswirken würde. Doch Patente und lange Patentfristen erschweren beispielsweise eine kostengünstige Versorgung der Bevölkerung mit Medikamenten sowie den Technologietransfer zwischen technologisch fortgeschrittenen und wirtschaftlich schwächeren Ländern. Dies ist auch der Grund, weshalb vor Inkrafttreten des TRIPS viele Entwicklungsländer keinen Patentschutz für Pharmazeutika kannten und nur unter Druck seitens der USA bereit waren, dem TRIPS zuzustimmen. 60 1.7. Das MAI-Abkommen Bereits im Verlauf der Uruguay-Runde versuchten die USA, Regeln des NAFTA-Abkommens 61 auch in der WTO zu integrieren. Hierdurch sollten Investoren mehr Schutz und Rechte, insbesondere aber eine Klagemöglichkeit gegenüber Regierungen erhalten. Auch die EU- Kommission setzte sich für die Behandlung ausländischer Investitionen in der WTO ein. Doch eine Umsetzung dieser Vorschläge scheiterte bisher am Widerstand der Mehrheit der übrigen Staaten. Deshalb wurde seit 1995 in Geheimverhandlungen innerhalb der OECD über den Abschluss 59 Vgl. Attac (Hg.): Die geheimen Spielregeln des Welthandels, 2003, S. 94. 60 Vgl. Senti, Richard: WTO System und Funktionsweise, 2000, S. 653 f. 61 NAFTA = North American Free Trade Association: das nordamerikanische Freihandelsabkommen zwischen Kanada, den USA und Mexiko von 1994. Die Erweiterung der NAFTA zu einer Freihandelszone aller amerikanischen Staaten bis auf Kuba (Free Trade Area of the Americas, FTAA) soll bis 2005 realisiert werden. 26

Das System und die Funktionsweise der WTO eines multilateralen Investitionsabkommens (MAI) beraten. Die OECD war als Verhandlungsrahmen gewählt worden, da die Industrieländer das Zustandekommen des MAI beschleunigen wollten und daher die Gespräche ohne die Entwicklungsländer, die nicht zu den OECD- Mitgliedsstaaten zählen, stattfinden sollten. Ziel des MAI war es, weltweit hohe Standards im Hinblick auf die Liberalisierung der Investitionsbedingungen, den Schutz von Investitionen und eine effektive Streitschlichtung durchzusetzen. Als 1997 ein Exemplar des Vertragsentwurfes an die Öffentlichkeit gelangt war, entstand eine globale Protestbewegung gegen das MAI. Aufgrund dieser lautstarken Kritik erklärte Frankreich im Oktober 1998 seinen Austritt aus den Verhandlungen, so dass die OECD schließlich die Gespräche über das MAI für beendet erklärte. 62 Nach dem Scheitern des MAI auf der Ebene der OECD hoffen seine Befürworter, ein multilaterales Investitionsabkommen innerhalb der WTO erfolgreicher umsetzen zu können. Die endgültige Entscheidung über die Wiederaufnahme der Verhandlungen soll im September 2003 auf der WTO-Ministerkonferenz in Cancún getroffen werden. 1.7.1. Die Bedeutung der Auslandsdirektinvestitionen Seit Mitte der 1980er Jahre haben die Auslandsdirektinvestitionen (ADI; engl. foreign direct investment, FDI) stark zugenommen. Zu diesen werden diejenigen Transaktionen gezählt, durch welche ein Unternehmen im Ausland eine Filiale gründet oder die Kontrolle über mindestens zehn Prozent des Gesellschaftskapitals einer ausländischen Firma erwirbt. 63 Da das Gros der ADI aus den wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten 62 Vgl. Attac (Hg.): Die geheimen Spielregeln des Welthandels, 2003, S. 129 f. 63 Vgl. Le Monde diplomatique (Hg.): Atlas der Globalisierung, 2003, S. 26. 27