Einflüsse der Qualität des visuellen Inputs auf die Leseleistung bei LRS

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Michael Evers Einflüsse der Qualität des visuellen Inputs auf die Leseleistung bei LRS Erste Staatsexamensarbeit 1999 föpäd. net

Hinweise zum Urheber- und Nutzungsrecht Das Urheberrecht am vorliegenden Texten liegt allein beim Autor bzw. bei der Autorin. Der Nutzer bzw. die Nutzerin dürfen die vorliegende Veröffentlichung für den privaten Gebrauch nutzen. Dies schließt eine wissenschaftliche Recherche ein. Für das Zitieren sind die entsprechenden Regelungen zu beachten (sieh unten). Der Nutzer bzw. die Nutzerin des vorliegenden Textes erkennen das Urheberrecht des Autoren bzw. der Autorin an. Vervielfältigung und Verbreitung der vorliegenden Veröffentlichungen bedarf der Genehmigung des Autors bzw. der Autorin. Hinweise zum Zitieren von Online-Dokumenten Die Veröffentlichungen auf den Seiten von föpäd.net sind ebenso wie Texte in Druckmedien zitierfähig. In der Quellenangabe müssen folgende Informationen enthalten sein: Name der Autorin bzw. des Autors, Titel (und eventuell Untertitel) Internet-Adresse (URL), Abrufdatum. Beim Zitieren von Texten, die auf den Seiten von föpäd.net veröffentlicht sind, geben Sie bitte die Internet-Adresse (URL) der pdf-datei des von Ihnen zitierten Dokuments an. Quellenangabe für diese Veröffentlichung: Evers, Michael: Einflüsse der Qualität des visuellen Inputs auf die Leseleistung bei LRS. Online im Internet: URL: http:///volltexte/evers/lrs.pdf.

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Einleitung...1 1. Lese-Rechtschreibschwäche...4 1.1 Zum Begriff...5 1.2 Symptomatik...10 1.2.1 Das Störungsbild des Lesens...10 1.2.2 Das Störungsbild der Rechtschreibung...11 1.3 Begleitsymptome...12 1.4 Ursachen...14 1.4.1 Konstitutionelle Dispositionen...14 1.4.2 Psychosoziale Einflüsse und defizitärer Unterrichtung als erklärende Variable...16 1.4.3 Neuropsychologische Erklärungsansätze...17 1.4.4 Teilleistungsschwäche...21 1.5 Zusammenfassung...23 2. Die visuelle Sensorik...24 2.1 Abgrenzung zur visuellen Wahrnehmung...24 2.2 Anatomie der visuellen Sensorik...24 2.3 Teilprozesse der visuellen Sensorik...26 2.3.1 Visus (Sehschärfe)...26 2.3.2 Akkommodation...27 2.3.3 Beidäugiges (binokulares) Sehen...28 3. Monokulare Fehlsichtigkeiten...30 3.1 Myopie (Kurzsichtigkeit)...30 3.2 Hyperopie (Übersichtigkeit)...30 3.3 Astigmatismus (Hornhautverkrümmung)...31 3.4 Die juvenile Hypoakkommodation...31 4. Winkelfehlsichtigkeit...33 4.1 Ursache...33 4.2 Symptome...34 4.3 Auswirkungen der Behandlung von binokularen Fehlsichtigkeiten auf die Lese-Rechtschreibschwäche...36 4.4 Kritik...38 4.5 Zusammenfassung...39

Inhaltsverzeichnis 5. Das Meares-Irlen-Syndrom...40 5.1 Zur Begriffsgeschichte...40 5.2 Begriffserläuterung...40 5.3 Erscheinungsbild...41 5.3.1 Lichtempfindlichkeit...41 5.3.2 Ungenügende bzw. unzureichende Hintergrundakkommodation...42 5.3.3 Schlechte Druckauflösung...44 5.3.4 Eingeschränkte Erkennensspanne...47 5.3.5 Geringe Aufmerksamkeitsdauer...48 5.3.6 Begleitsymptome...48 5.4 Auswirkungen auf das Lesen (vgl. IRLEN 1997, S. 85ff)...49 5.5 Auswirkungen auf das Schreiben (vgl. IRLEN 1997, S. 159ff)...52 5.6 Zusammenfassung...53 6. Die Irlen-Methode...54 6.1 Vorgeschichte...54 6.2 Die Anwendung der Irlen-Methode...56 6.2.1 Screening auf Meares-Irlen-Syndrom...57 6.2.2 Einige Hinweise zur praktischen Umsetzung der Methode...61 6.3 Die Colorimeter-Methode...65 6.4 Die Rolle der Eltern...66 7. Die Wirkungsweise der Irlen-Methode bzw. der Farbfilter...68 7.1 Die Entdeckung der Kanäle der visuellen Sensorik...68 7.1.1 Die tonischen Kanäle...69 7.1.2 Die phasischen Kanäle...69 7.2 Die Aufgabe der tonischen und phasischen Kanäle beim Lesen...69 7.3 Ein Defizit der phasischen Kanäle als Ursache von Lesestörungen...71 7.4 Die Wirkung von Farbe auf die phasischen Kanäle...73 7.5 Weiterführende Überlegungen...73 7.6 Zusammenfassung und Bewertung...74 8. Empirische Studien zur Irlen-Methode...75 9. Abschließende Diskussion...86 Literatur...91 Internet-Quellen...96

Einleitung 1 Man muss ja wohl Respekt vor jedem haben der DIENSTAG buchstabieren kann, auch wenn er es nicht richtig buchstabiert. (MILNE 1998) Einleitung Weltweit gibt es zahlreiche Kinder und Erwachsene, die Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und (Recht-) Schreibens haben. Zu ihnen zählen und zählten Winston Churchill, Thomas A. Edinson, Albert Einstein, Hans Christian Andersen, Harry Belafonte, Cher u.v.a. (vgl. DAVIS 1998, S. 22f). Ein Mensch mit einer Lese-Rechtschreibschwäche ist also nicht zwangsläufig dumm, er hat zunächst nur isolierte Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb. Durch den hohen Stellenwert des Lesens und Schreibens in Schule und Gesellschaft, kann jedoch aus der isolierten Schwäche eine allgemeine Beeinträchtigung oder sogar eine Behinderung entstehen. Dabei spielen nicht nur die Schwierigkeiten im Bereich der Schriftsprache eine Rolle, sondern ebenso die vielfältigen und oft nicht zu unterschätzenden Begleitsymptome. Obwohl dieses Syndrom bereits seit einem Jahrhundert beschrieben und erforscht wird, kann über dessen Ursachen im Einzelfall nicht viel gesagt werden. Die Forschung hat bis heute zwar einige mögliche Ursachen isoliert, die jedoch immer nur bei einer Gruppe von betroffenen Kindern und nicht bei allen beobachtet werden konnten. Es liegen also zahlreiche Ursachenhypothesen vor, deren Zusammenwirken beim Entstehen einer Lese-Rechtschreibschwäche offen ist. Das schließt mit ein, daß nicht beurteilt werden kann, inwieweit die Vielzahl von möglichen bedingenden Faktoren bei jedem einzelnen vorliegen und zusammenwirken. Aufgrund des heutigen Wissensstandes ist also eher anzunehmen, daß die Lese- Rechtschreibschwäche durch verschiedene Ursachen entstehen kann. Folglich kann es die eine Therapiemethode nicht geben, die allen lese-rechtschreibschwachen Kinder gezielt helfen kann. Dieses hat in der Vergangenheit dazu geführt, daß vielfältige Methoden zur Förderung der betroffenen Kinder ausprobiert wurden, von denen längst nicht alle den versprochenen Erfolg gebracht haben. So blieb z.b. der Förderunterricht in der Schule bei vielen erfolglos. Überdies fühlten sich viele Kinder durch die zusätzlichen Förderstunden eher bestraft, als daß sie diese als hilfreich empfunden hätten. Bei den Therapie- und Förderangeboten, die neben der Schule existieren, ver-

Einleitung 2 hält es sich meist nicht anders. Wenn sie überhaupt Erfolg haben, dann meist nur durch eine intensive Betreuung über einen langen Zeitraum. Das bedeutet für die betroffenen Kinder, daß sie neben dem erhöhten Zeitaufwand für die Hausaufgaben einen Teil ihrer Freizeit einsetzten müssen, um zusätzliche Angebote wahrnehmen zu können. Wenn zudem die Kinder selbst trotz der Förderung keine Fortschritte sehen und folglich die Maßnahmen nicht als Hilfe empfinden, ist ihre Motivation unter Umständen nicht groß, ein möglicher Erfolg erscheint dann zweifelhaft. Darüber hinaus gab und gibt es Therapiemethoden, die eine schnelle Hilfe versprechen. Meist kann auf Einzelfälle verwiesen werden, bei denen die Methode schnelle Erfolge zeigte. Viele betroffene Kinder und Eltern, die daraufhin Hoffnungen auf eine Hilfe auch in ihrem Fall setzten, wurden enttäuscht. Wiederholen sich die Erfahrungen, dann kommen vermutlich nicht wenige zu der Überzeugung, daß es für sie oder ihre Kinder keine Hilfe gibt und daß sie sich mit ihrem Schicksal abfinden müssen. Wie der Titel Einflüsse der Qualität des visuellen Inputs auf die Leseleistung bei LRS bereits andeutet, wird im folgenden auf einen Zusammenhang zwischen der Lese- Rechtschreibschwäche (LRS) und der Qualität des Sehens aufmerksam gemacht. Es wird gezeigt, daß verschiedene Sehprobleme und -störungen, auch wenn sie noch so unbedeutend erscheinen mögen, die Qualität des visuellen Inputs negativ beeinflussen oder anders gesagt, das Erkennen einer Textseite und damit das Lesen erheblich erschweren können. Thematisiert werden also Störungen der visuellen Sensorik, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Syndrom der Lese-Rechtschreibschwäche stehen können. Zuvor wird, jedoch nur kurz, die Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) behandelt, die einigen noch unter der Bezeichnung Legasthenie bekannt ist. Warum der Begriff Lese-Rechtschreibschwäche eingeführt wurde, wie sie sich äußert und welche Überlegungen es zu ihren Ursachen gibt, wird zumindest in Ansätzen dargelegt. Zur Annäherung an das eigentliche Thema wird zunächst die visuelle Sensorik näher zu betrachten sein, d.h. wichtige Aspekte ihres anatomischen Aufbaus und einige für ihre Funktion wichtige Teilprozesse werden vorgestellt. Anschließend soll sich kurz den monokularen Fehlsichtigkeiten gewidmet werden. Zu diesen Störungen des Sehens gehört u.a. die jedem wohl gut bekannte Kurzsichtigkeit. Ein erster Schwerpunkt wird dann auf der sogenannten Winkelfehlsichtigkeit liegen, einer Störung des beidäugigen Sehens. Ihre Ursache und typische Symptome werden ebenso thematisiert, wie eine mögliche Behandlung. Einige Erfahrungen mit der Korrektion dieser Fehlsichtigkeit bei lese-rechtschreibschwachen Kindern schließen diesen Teil ab.

Einleitung 3 Eine weitere Störung der visuellen Sensorik ist das Meares-Irlen-Syndrom, auf dem in dieser Arbeit ein weiterer Schwerpunkt liegt. Nach der Betrachtung der Symptome wird die Irlen-Methode vorgestellt, eine einfache aber wirkungsvolle Behandlungsmethode des Meares-Irlen-Syndroms. Daran anschließend soll sich den möglichen Ursachen des Syndroms und damit verbunden der Wirkungsweise der Irlen-Methode gewidmet werden. Abschließend werden einige empirische Studien dargestellt, die sich näher mit der Überprüfung des Erfolgs der Irlen-Methode befaßt haben.

Lese-Rechtschreibschwäche 4 1. Lese-Rechtschreibschwäche Unter dem Begriff der Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) werden Schwierigkeiten bei dem Erlernen der Schriftsprache, also dem Erlernen von Lesen und (Recht-) Schreiben zusammengefaßt. Dabei ist die LRS ein heterogenes Syndrom, d.h. es können mehrere Symptome (vgl. Kapitel 1.2) bei einem Kind beobachtet werden, die in ihrer Zusammenstellung und in ihrem Ausmaß sehr verschieden sein können. Der Syndromcharakter der LRS schließt jedoch nicht nur die unterschiedlichen Schwierigkeiten beim Lesen und (Recht-) Schreiben ein, sondern auch die oft nicht zu unterschätzenden sekundären Begleitsymptome (vgl. Kapitel 1.3), die sich z.b. aus den immer wieder erlebten Mißerfolgen in der Schule entwickeln können. Bei der Lese-Rechtschreibschwäche handelt es sich zudem um ein Syndrom mit einer Polyätiologie. Es gibt nicht die eine Ursache für LRS, sondern eine ganze Reihe verschiedener. Auch bei der Betrachtung des einzelnen Kindes läßt sich nicht immer nur eine Ursache erkennen. Beim Entstehen einer LRS kommen meist mehrere ungünstige Bedingungsfaktoren zusammen (vgl. Kapitel 1.4). Lese-Rechtschreibschwäche ist nicht nur ein deutsches Problem. Sie kommt in allen Ländern der Erde fast gleich häufig vor. In Ländern mit einer eher lautgetreuen Schriftsprache ist sie jedoch etwas seltener anzutreffen. Im deutschen Sprachraum ist sie also etwas seltener zu finden als im anglo-amerikanischen. Dieser Unterschied ist allerdings statistisch nicht bedeutsam (vgl. ROSENKÖTTER 1998, S. 11f). Bevor im folgenden näher auf die Definition, Symptome und Ursachen der LRS eingegangen wird, sollen zunächst angeborene und erworbene Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben unterschieden werden. Diese Unterscheidung erscheint notwendig, weil sich die weiteren Überlegungen auf die sogenannte angeborene LRS beziehen. Der Hauptunterschied dieser beiden Formen liegt in dem Zeitpunkt des Erwerbs der Störungen. Bei der erworbenen Lese-Schreib-Störung handelt es sich um den (teilweisen) Verlust der Lese- (Alexie) und (Recht-)Schreibfähigkeiten (Agraphie) nach bereits abgeschlossenem Schriftspracherwerb. Ursache der Alexie bzw. der Agraphie ist eine Hirnverletzung (z.b. in Folge eines Schlaganfalls oder eines Unfalls), die erst nach Abschluß des Lese- bzw. Schreiblernprozesses eingetreten ist. In der Regel sind von diesen Störungen also Erwachsene betroffen.

Lese-Rechtschreibschwäche 5 Bei der angeborenen Störung ist bereits der Erwerb des Lesens und Schreibens gestört. In diesem Fall bestehen die Ursachen schon vor Beginn des Schriftspracherwerbs. Im Allgemeinen wird in solchen Fällen von einer Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) oder von einer Legasthenie gesprochen, von der in der Regel Kinder betroffen sind, die gerade das Lesen und (Recht-) Schreiben erlernen. Genau diese Erwerbsstörung der schriftsprachlichen Fähigkeiten soll im folgenden näher betrachtet werden. 1.1 Zum Begriff Das Syndrom der Lese-Rechtschreibschwäche wurde erstmals Ende des letzten Jahrhunderts von den Medizinern MORGAN und HINCHELWOOD beschrieben. Die erste Monographie zu diesem Thema mit dem Titel Die Leseschwäche und Rechenschwäche der Schulkinder im Lichte des Experiments wurde 1916 von RANSCHBURG veröffentlicht (vgl. SCHENK-DANZIGER 1991, S.19). Er führte auch den Begriff der Legasthenie ein. Dieser Begriff ist eine Wortschöpfung aus dem griechischen Wortstamm leg für lesen und dem griechischen Wort asthenia, das Schwäche bedeutet. Wörtlich übersetzt heißt Legasthenie also Leseschwäche (vgl. DUMMER- SMOCH 1994, S. 12). Bemerkenswert ist, daß RANSCHBURG bei seiner Beschreibung der Legasthenie kein Intelligenzkriterium anlegte. Dies tat jedoch Maria LINDER, die den Begriff der Legasthenie mit dem Kriterium der normalen bzw. überdurchschnittlichen Intelligenz verknüpfte. Erwähnenswert erscheint dies, da die Definition von LINDER für die Begriffsentwicklung und die Erforschung des Syndroms in Deutschland lange Zeit ausschlaggebend war (vgl. SCHEERER-NEUMANN 1989, S. 18). Unter Legasthenie verstehen wir demnach eine spezielle und aus dem Rahmen der üblichen Leistungen fallende Schwäche im Erlernen des Lesens (und indirekt auch des selbständigen orthographischen Schreibens) bei sonst intakter oder (im Verhältnis zur Lesefähigkeit) relativ guter Intelligenz. [Der Verfasser: Ausgeschlossen werden dabei jene Arten von LRS, die] durch gewöhnlichen Schwachsinn, durch manifeste Gesichts- und Gehörstörungen oder sonstige körperliche Behinderungen erklärlich sind, oder aber durch mangelnde Übung infolge von Krankheit, Fehlen von Schule, Sprach- und Schulwechsel oder durch ungewöhnliche Schulumstände [ ] oder durch schlechte Schulmethoden oder offensichtlich gestörte Lehrer- Schüler-Beziehungen hervorgerufen werden. Wenn wir dementsprechend von einer Legasthenie sprechen, so verstehen wir, daß ein Kind unter bei uns landläufig normalen Schulverhältnissen, trotz allen Bemühungen der Erwachsenen, und nicht erklärlich durch Debilität, das Lesen (und Schreiben) nicht oder nur mit größter Mühe erlernen kann, während in den anderen Fächern keine entsprechenden Schwierigkeiten bestehen (LINDER zit. n. SCHEERER-NEUMANN 1989, S. 18).

Lese-Rechtschreibschwäche 6 LINDERs Definition umfaßt jedoch nicht alle Kinder mit LRS. Aufgrund der von ihr vorgenommenen Ausschlußkriterien, fielen all die Kinder aus dem Raster, die auch in anderen Fächern Schwierigkeiten hatten. Ferner schloß sie auch diejenigen aus, bei denen offensichtlich negative Umwelteinflüsse als Ursache vorlagen. In der Praxis erwiesen sich aber gerade die zuletzt genannten Ausschlußkriterien als nicht brauchbar, da bei der Diagnostik nicht mit letzter Sicherheit festgestellt werden konnte, ob bei einem Kind die Kriterien vorlagen. Aus diesem Grund wurde bei allen weiteren Definitionen auf die Ausschlußkriterien verzichtet. Entsprechend wurde die Legasthenie z.b. wie folgt definiert, als eine partielle Lernstörung bzw. ein Rückstand im Lesen und in der Rechtschreibung, der im Mißverhältnis steht zu der relativ guten Allgemeinbegabung und zu den mindestens durchschnittlichen Leistungen in den andern Schulfächern (VALTIN zit. n. SCHEERER-NEUMANN 1989, S. 18). In der Folgezeit wurden daraufhin Diagnosekriterien festgelegt, die dazu führten, daß man immer dann von einer Legasthenie sprach, wenn das betroffene Kind einen Prozentrang von weniger als 15 in einem Lese- und/oder Rechtschreibtest erlangt hatte, aber eine mindestens durchschnittliche Intelligenz aufweisen konnte, d.h. das mindestens ein IQ-Wert von 90 (bei Berücksichtigung des Standardmeßfehlers von 85) in einem Intelligenztest erreicht wurde (vgl. SCHEERER-NEUMANN 1989, S. 18). Diese Diagnosekriterien sind jedoch nicht unproblematisch, da sie je nach verwendetem Intelligenztest und Lese- bzw. Rechtschreibtest unterschiedliche Gruppen von legasthenen Kindern beschreiben. Was schließlich die Vergleichbarkeit von Befunden aus empirischen Studien einschränkt, nicht jedoch deren Wert (vgl. ANGERMAIER 1982, S. 210). In diesem Sinne war die Legasthenie ein diagnostisches Konstrukt, eine Hilfe für die Praxis, um bestimmte Symptome zu ordnen und Entscheidungen für die Intervention zu finden. Darüber hinaus hatte der Begriff auch eine erklärende Funktion. Ein Kind versagte im Lesen und Schreiben, weil es Legastheniker war. Aus heutiger Sicht ist jedoch das Intelligenzkriterium nicht mehr haltbar (vgl. DUMMER- SMOCH 1994, S. 11), weshalb der Begriff Legasthenie in der neueren Fachliteratur kaum noch Verwendung findet. In der Regel spricht man heute von Lese-Rechtschreibschwäche (LRS). Gelegentlich werden in deutschsprachigen Veröffentlichungen die Begriffe Lese-Rechtschreibstörung und Schreibleseschwäche synonym gebraucht (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 9).

Lese-Rechtschreibschwäche 7 Eine für das heutige Verständnis der LRS wichtige Definition ist die der WHO, wie sie in der ICD-10 1 veröffentlicht ist. Dort ist ihr unter F81 umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten ein eigener Punkt F81.0 die Lese- und Rechtschreibstörung gewidmet. Das Hauptmerkmal ist eine umschriebene und bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen, vorzulesen und Leistungen für welche Lesefähigkeit nötig ist, können sämtlich betroffen sein. Bei umschriebenen Lesestörungen sind Rechtschreibstörungen häufig und persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn einige Fortschritte im Lesen gemacht werden. Umschriebene Entwicklungsstörungen des Lesens gehen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache voraus. Während der Schulzeit sind begleitende Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig (DIMDI 2 1994, S. 356). Als Synonyme werden Entwicklungsdyslexie, umschriebene Lesestörung und Leserückstand angegeben. Als von der Lese- und Rechtschreibstörung zu unterscheidende Störungsbilder werden die Alexie/Dyslexie (R48.0 ohne nähere Abgaben) und die Lesestörung infolge emotionaler Störung (F93) genannt. Des weiteren wird im gleichen Kapitel unter F 81.1 die isolierte Rechtschreibstörung unterschieden (vgl. DIMDI 1994). Für die Forschung, speziell in der Neurologie bzw. Psychiatrie sowie in der Neuropsychologie ist jedoch die Definition nach MAS (Multiaxiales Klassifikationsschema für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters) richtungsweisend. Die umschriebene Lese-Rechtschreib-Schwäche ist eine Störung, deren Hauptmerkmal eine ausgeprägte Beeinträchtigung der Entwicklung der Lese- und Rechtschreibfähigkeit ist, die nicht durch eine allgemeine intellektuelle Behinderung oder inadäquate schulische Betreuung erklärt werden kann (REMSCHMIDT zit. n. ROSENKÖTTER 1997, S. 10). Es wird in dieser Definition zwar nicht mehr von Legasthenie gesprochen, dennoch hat sich in dem hier gebrauchten Begriff der umschriebenen Lese-Rechtschreibschwäche das Intelligenzkriterium gehalten. Deutlich wird das in der Formulierung die nicht durch eine allgemeine intellektuelle Behinderung [ ] erklärt werden kann. 1 2 Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, 10. Revision (in Deutschland herausgegeben vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information) DIMDI = Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information

Lese-Rechtschreibschwäche 8 Grundlegend für diese Definition, die sich im übrigen auf die ICD-10 beruft, ist die Annahme, daß bei Lese-Rechtschreibschwäche biologische Ursachen vorliegen. Diese beeinträchtigen bzw. verzögern die Entwicklung von Funktionen, die mit der Reifung des zentralen Nervensystems verbunden sind. Zum störungsfreien Lernen des Lesens müssen aber genau diese Funktionen bis zum Einschulungsalter intakt sein. Einschränkungen bzw. Beeinträchtigungen dieser zentral-nervösen Funktionen können dabei lange vor der Geburt angelegt sein (genetisch bedingt sein) oder sie entstehen im zeitlichen Umfeld der Geburt, z.b. durch Sauerstoffmangel. Das Elternhaus, genauer gesagt, die sprachliche Anregung und die Erziehung durch die Eltern, haben dabei lediglich zusätzliche Bedeutung (vgl. BVL 3 o.j., S. 5; FIRNHABER 1994, S.26). Kinder, die vom Syndrom der LRS betroffen sind, fallen in der Regel durch ihre Probleme in der Schule auf. Da sich die bisher vorgestellten Definitionen nicht auf diese schulischen Schwierigkeiten der Kinder beziehen, sind sie für die alltägliche schulische Praxis auch nicht von großer Bedeutung. Sie sind keine Hilfe beim Erkennen und Verstehen der Problematik durch bzw. für die Schule. Daher seien an dieser Stelle zwei weitere Definitionen genannt, die vor allem für die Schule praktikabel sind bzw. die schulischen Probleme der betroffenen Kinder berücksichtigen. Als erstes sind die Empfehlungen der KMK (Kultusministerkonferenz) vom 30. Juni 1978 4 zu nennen. Diese Empfehlungen gelten für Schüler, die besondere Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben haben (zit. n. DUMMER-SMOCH 1994, S. 116). Unter 3.2 besondere Fördermaßnahmen wird die Schülergruppe genauer beschrieben, für die solche Fördermaßnahmen angeboten werden sollen, d.h. die als leserechtschreibschwach angesehen werden (sollen). Besondere Födermaßnahmen sollen für Schüler vorgesehen werden, die die Ziele des Lese- und/oder Rechtschreibunterrichts der Jahrgangsstufe 2 noch nicht erreicht haben, sowie für Schüler der Jahrgangsstufe 3 und 4, deren Leistungen im Lesen und/oder Rechtschreiben über einen Zeitraum von mindestens drei Monaten hinweg schlechter als ausreichend bewertet werden (KMK zit. n. DUMMER-SMOCH 1994, S. 118). Eine zweite für die Schule relevante Definition stammt von Lisa DUMMER-SMOCH, die lange Zeit Vorsitzende des Bundesverbandes Legasthenie e.v. (BVL) war. 3 4 BVL = Bundesverband Legasthenie e.v. Der gesamte Wortlaut der KMK-Empfehlungen kann bei DUMMER-Smoch (1994) nachgelesen werden.

Lese-Rechtschreibschwäche 9 Spezifische oder umschriebene Lese-Rechtschreib-Schwächen (Legasthenien) sind die in der Schule auffallenden Erscheinungsbilder partiellen Lernversagens im Lesen und/oder Rechtschreiben bei nicht beeinträchtigten intellektuellen Lernvoraussetzungen und - zunächst - besseren Schulleistungen in anderen Bereichen. Durch fortgesetzte Entmutigung kann die Legasthenie das Erscheinungsbild allgemeinen Schulversagens annehmen. Zugrunde liegen diesen Erscheinungsbildern jeweils unterschiedliche Kombinationen von Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung, Motorik und der sensorischen Integration (Zusammenspiel verschiedener Wahrnehmungsbereiche). So ergeben sich unterschiedliche Schweregrade und Schwerpunkte der Lernschwierigkeiten des einzelnen Kindes. Die Teilleistungsschwächen erschweren insbesondere die Unterscheidung von Buchstabenformen (visuelle Detailerfassung) und/oder die Unterscheidung ähnlicher Sprachlaute (auditive Diskrimination). Die Teilleistungsschwächen gehen ursächlich auf Erbfaktoren oder auf Hirnreifungsverzögerungen durch Infekte oder andere Risiken zurück, die vor, während oder nach der Geburt aufgetreten sind, bzw. auf das Zusammenwirken beider Ursachen (zit. n. BVL o.j., S. 5f). Diese Definition ist insofern für die Schule gehaltvoll, als daß sie zunächst sagt, welche Personengruppe als lese-rechtschreibschwach gilt, nämlich jene, die ein partielles Lernversagen im Lesen und/oder Rechtschreiben zeigt. Ferner gibt sie erste Hinweise zu möglichen Ursachen und impliziert damit auch bereits erste Ansätze für Interventionen bzw. Fördermaßnahmen. Zusammenfassend sei für die weiteren Ausführungen darauf hingewiesen, daß der Begriff Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) auf alle Kinder angewendet wird, die Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und des (Recht-) Schreibens haben. Demgegenüber werden nur die Kinder als Legastheniker bezeichnet, die eine intelligenzdiskrepante Lese-Rechtschreibschwäche aufweisen. Folglich wird der Begriff der Legasthenie oder der umschriebenen Lese-Rechtschreibschwäche nur auf die Gruppe von Kindern angewendet, die bei normaler oder überdurchschnittlicher Intelligenz die Symptome einer LRS zeigen. Diese Unterscheidung 5 erscheint notwendig, damit Forschungsergebnisse, die im weiteren Verlauf dargestellt werden, richtig verstanden werden, in dem Sinne, daß deutlich wird, für welche Gruppe von lese-rechtschreibschwachen Kindern ihre Aussagen Gültigkeit haben. 5 Leider wird diese Unterscheidung von einigen Autoren nicht immer exakt vorgenommen, so benutzen sie den Begriff der LRS und der Legasthenie synonym. Bei der Darstellung ihrer Aussagen bzw. Studien im Rahmen dieser Arbeit werden die Begriffe in der hier aufgezeigten Differenzierung angewendet, d.h. es wird, wenn nötig, eine Übersetzung vorgenommen.

Lese-Rechtschreibschwäche 10 1.2 Symptomatik Historisch gesehen blieben die Versuche über die Beschreibung einer charakteristischen Fehlertypologie zu differenzierten LRS-Mustern zu gelangen weitestgehend erfolglos. Sie führten meist nur zu einer Zuordnung zum eher visuell oder eher auditiv betroffenen Kind. Dennoch haben sich einige Autoren darum bemüht, eine an den Symptomen orientierte Einteilung vorzunehmen. Ein Beispiel dafür ist die Unterscheidung der Linguistik- Dyslexie und der Perzeptual-Dyslexie nach BAKKER. Unter dem Bild der Linguistik- Dyslexie werden betroffene Menschen gefaßt, die schnell und mit vielen Fehlern lesen. Perzeptual-Dyslexie wird durch langsames fragmentierendes, aber relativ sauberes Lesen charakterisiert (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 14). In den heutigen Beiträgen zur LRS-Diskussion wird immer häufiger davon ausgegangen, daß es keine charakteristische Fehlertypologie gibt. Die Meinung geht dahin, daß lese-rechtschreibschwache Kinder dieselben Fehler machen wie schriftsprachlich unauffällige Kinder, nur mit einer größeren Häufung (vgl. ANGERMAIER 1982, S. 209; ROSENKÖTTER 1997, S. 14). Im folgenden soll eine Übersicht über Fehlergruppen gegeben werden, die bei lese-rechtschreibschwachen Kindern relativ häufig zu beobachten sind. (vgl. BECKER 1977; WARNKE 1995). Ob dabei von LRS-typischen Fehlern gesprochen werden kann oder ob sie von allen Kindern gemacht werden, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden. 1.2.1 Das Störungsbild des Lesens Zu Beginn des Lese-Lernprozesses kann sich eine (drohende) LRS in der Schwierigkeit äußern, a) das Alphabet aufzusagen, b) Buchstaben korrekt zu benennen, c) Laute trotz normaler Hörfähigkeit auditiv zu unterscheiden und d) Laute den entsprechenden Buchstaben zuzuordnen. Beim lauten Lesen in einem späteren Leselernstadium können dann folgende Schwierigkeiten zutage treten (vgl. WARNKE 1995, S. 289): a) Auslassen, Ersetzen oder Hinzufügen von Worten oder Wortteilen, b) niedrige Lesegeschwindigkeit, c) Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der Zeile im Text, ungenaues Phrasieren und d) Vertauschen von Wörtern im Satz oder von Buchstaben in Wörtern.

Lese-Rechtschreibschwäche 11 Defizite im Leseverständnis zeigen sich in: e) einer Unfähigkeit, Gelesenes wiederzugeben, f) einer Unfähigkeit, aus Gelesenem Schlüsse zu ziehen oder Zusammenhänge zu sehen und g) in der Verwendung von allgemeinem Hintergrundwissen anstelle von Informationen aus einem Text beim Beantworten von Fragen zu diesem. Auch nach einem Hinweis auf einen Lesefehler ist es schwerer betroffenen Kindern zuweilen nicht möglich, ihren Fehler zu erkennen und zu korrigieren. Einmal richtig gelesene Worte können bei ihrem nächsten Erscheinen falsch und unter Umständen in anderen Zusammenhängen dann wieder richtig gelesen werden. Dieses Phänomen spricht dafür, daß gelesene Worte nicht korrekt wiedererkannt bzw. nicht korrekt gelesen werden können. Diese Störungen des Lesens sind häufig mit Rechtschreibstörungen verknüpft. 1.2.2 Das Störungsbild der Rechtschreibung Die Rechtschreibfehler, die ein Kind macht, sind abhängig von seinem schulischen Entwicklungsstand. Eine für die LRS charakteristische Fehlertypologie läßt sich jedoch nicht erkennen. Es lassen sich lediglich in der deutschen Sprache immer wieder folgende Rechtschreibfehler beobachten (vgl. WARNKE 1995, S. 290): a) Reversion: Verdrehungen von Buchstaben in einem Wort, wie b-d, p-q, u-n (z.b. Kunstbünger statt Kunstdünger ); b) Reihenfolge oder Sukzessionsfehler: Umstellungen von Buchstaben in einem Wort (z.b. Mraburg statt Marburg ); c) Auslassungen: ein Buchstabe wird ausgelassen (z.b. Hrbron statt Herborn ); d) Einfügungen: falsche, nicht gehörte oder nicht selbst artikulierte Laute werden eingefügt (z.b. Weichlar statt Wetzlar oder Biedenkoft statt Biedenkopf ); e) Regelfehler und andere: z.b. Dehnungsfehler, Vertauschungen von d-t, g-k oder n-m (z.b. Walt statt Wald, Rein statt Rhein ); f) Fehlerinkonstanz: ein und dasselbe Wort wird möglicherweise auch nach jahrelanger Übung auf ein und derselben Seite unterschiedlich falsch geschrieben. Diese Fehler können auch bei Kindern beobachtet werden, die sich die Worte korrekt artikuliert vorsprechen können und sich das Wort Buchstabe für Buchstabe korrekt (lautierend) selbst diktieren können.

Lese-Rechtschreibschwäche 12 1.3 Begleitsymptome Beim Vorliegen einer LRS sind folgende primäre Begleitsymptome relativ häufig, aber nicht in jedem Fall zu beobachten (vgl. WARNKE 1991, S. 14): a) expressive und/oder rezeptive Sprachentwicklungsstörungen, b) umschriebene Rechenstörungen (Dyskalkulie), c) entwicklungsbezogene Störungen der Koordination, d) Störungen der Sprachwahrnehmung, wie etwa der Lautdiskrimination, e) bei bis zu 10% der legasthenen Kinder Schwächen in der visuellen Wahrnehmung. Herausragende sekundäre Begleitsymptome stehen in einem engen Zusammenhang mit der schulischen Situation der Kinder. Speziell Lese- und Rechtschreibfähigkeiten haben einen hohen Stellenwert in der Schule, nicht nur im Deutsch- bzw. Fremdsprachenunterricht. Auch in vielen anderen Fächern müssen sich die Schüler Wissen erlesen. Darüber hinaus müssen sie auch Tests und Klassenarbeiten schreiben, bei denen die Aufgabenstellung gelesen und verstanden sowie Wissen in den Antworten entsprechend verschriftlicht werden muß. Schüler mit einer LRS haben gerade damit Schwierigkeiten. Was häufig dazu führt, daß sie auch in nicht-sprachlichen Fächern, wie z.b. in den naturwissenschaftlichen, nicht ihrem tatsächlichen Leistungsvermögen entsprechend beurteilt werden. Diese Schüler werden dann aufgrund ihrer umschriebenen bzw. isolierten Schwäche im schriftsprachlichen Bereich häufig und allzuleicht für dumm gehalten (vgl. DuMMER-SMOCH 1994, S. 13f). Als Folge aus der Diskrepanz zwischen besserem Lernvermögen und der LRS sowie des langsamen Fortkommens im Erlernen des Lesens und Schreibens trotz guter, umfangreicher Förderung ergeben sich häufig Schullaufbahnprobleme. Das betroffene Kind paßt aufgrund der ständigen Überforderung im Lesen und Schreiben gegenüber der teilweisen Unterforderung in anderen Leistungsbereichen nicht ins Schulsystem (vgl. DUMMER-SMOCH 1994, S. 14). Die häufigen und anhaltenden Mißerfolge stellen eine große psychische Belastung dar. Diese kann durch den erhöhten Zeitaufwand im schulischen Lernen bzw. bei den Hausaufgaben, den Mangel an Anerkennung und die Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls verstärkt werden und stellt dann einen hohen Risikofaktor für die Entstehung von psychischen und psychiatrischen Erkrankungen dar. Ferner wirkt die partielle Lernstörung des Kindes auch auf Familie zurück, d.h. relativ häufig kommt es in der Folge zu Familienkonflikten. Speziell das Verhältnis zu dem Elternteil, der für den schulischen Erfolg verantwortlich gemacht wird, meist die Mutter, ist sehr gespannt. Dabei ist zu beobachten, daß gerade bei Kindern aus sozial instabilen Familien die LRS einen zusätzlichen Streßfaktor darstellt (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 14).

Lese-Rechtschreibschwäche 13 Eine detaillierte Auflistung von sekundären Begleitsymptomen ist bei NIEBERGALL (1987) zu finden. Wobei kritisch angemerkt werden muß, daß keine kausalen Zusammenhänge aufgezeigt werden. Aus der Zusammenstellung geht nicht hervor, welche Symptome Folge der LRS sind und welche bereits vor ihr bestanden haben und somit als ursächlich oder zumindest bedingende, fördernde Faktoren in Betracht kommen (vgl. WARNKE 1991, S. 14f; ANGERMAIER 1982, S. 212). Die einzelnen Symptome wurden von WARNKE (1991) zu folgenden fünf Obergruppen zusammengefaßt: a) Störungen im Lern-Leistungsverhalten: in der Regel mangelnde, nur selten übermäßige Leistungshaltung; b) emotionale Störungen: Angst und Verstimmungen, besonders schulische Versagensängste und reaktive Depression; c) hyperaktive Symptomatik: Bewegungsunruhe und Konzentrationsschwäche; d) psychosomatische Symptome: häufig Kopf- und Bauchschmerzen sowie Übelkeitsgefühle im funktionellen Zusammenhang mit Schulleistungsanforderungen (Symptomgruppe I) und seltener Asthma, Neurodermitis usw. (Symptomgruppe II); e) Störungen im Sozialverhalten: schulische Disziplinschwierigkeiten Kontakstörungen, Gereiztheit, Aggressivität, Hausaufgabenkonflikte, Dissozialität. (vgl. WARNKE 1991, S. 15)

Lese-Rechtschreibschwäche 14 1.4 Ursachen Den weiteren Überlegungen sei ein Zitat des englischen Philosophen SPENCER vorangestellt: Die Urteile des Menschen durchlaufen drei Phasen: (1) Einstimmigkeit der Unwissenden, (2) Nichtübereinstimmung der Fragenden, (3) Übereinstimmung der Wissenden (zit. n. SCHENK-DANZIGER 1991, S. 37). Die Ursachenforschung zur Lese-Rechtschreibschwäche befindet sich derzeit in der zweiten Phase, d.h. es werden sehr viele verschiedene Ursachen für die Entstehung einer LRS diskutiert. 1.4.1 Konstitutionelle Dispositionen Als konstitutionelle Dispositionen, die Lese-Rechtschreibschwäche verursachen könnten, werden genetische Veranlagungen und vor dem Erlernen der Schriftsprache erworbene prä-, peri- und postnatale Hirnfunktionsstörungen angenommen. Die spezifisch genetische Disposition oder/und erworbene hirnorganische Veränderungen, die die Teilleistungsschwäche begründen, werden in Interaktion mit genetisch bestimmtem kognitivem Potential, Alter und Entwicklungsstand sowie Lernanreiz, Übung, anderen Milieueinflüssen und der Art der Aufgabenstellung (z.b. alphabetische Schrift) als umschriebene Rechtschreibschwäche manifestiert (WARNKE 1990, S. 9) (vgl. Abbildung 1). Spezifisch genetische Belastung oder/und erworbene hirnorganische Veränderung Verknüpfungsmodus unklar begründen Teilleistungsschwäche in Relation zu - genetisch limitiertem kognitivem Potential - Lernanreiz und Übung Verknüpfungsmodus unklar - Alter bzw. Entwicklungsstand Abbildung 1: Konstitutionelle Dispositionen und LRS (WARNKE 1990, S. 10)

Lese-Rechtschreibschwäche 15 Für eine genetische Vorbelastung bzw. für eine genetische Komponente spricht die familiäre Häufung von Lese-Rechtschreibschwäche. ROSENKÖTTER (1997) spricht von 60% aller Kinder mit LRS, bei denen mindestens ein naher Verwandter eine Schreibleseschwäche aufweist. Ein weiterer Hinweis sind die Konkordanzwerte aus der Zwillingsforschung. So fand beispielsweise HERMANN bei 11 Eineiigen-Zwillingspaaren eine Konkordanz von 100% bei Zweieiigen-Zwillingspaaren lag sie bei 33% (vgl. WARNKE 1990, S. 10). Für eine genetische Disposition spricht ferner, daß Jungen sechs- bis achtmal häufiger betroffen sind als Mädchen (vgl. ROSENKÖTTER, S. 14). 1983 fanden SMITH u.a. Anhaltspunkte für ein legastheniespezifisches Gen auf Chromosom 15 (vgl. WARNKE 1990, S. 10). Daneben wird auch eine Verbindung zum Chromosom 6 vermutet (vgl. [3] 6 ). Ferner scheint eine Abweichung in der Anzahl der Chromosomen, speziell der Geschlechtschromosomen, ein erhöhtes Risiko für die Entstehung einer LRS darzustellen, was besonders für Jungen mit XXY-Chromosomensatz zutrifft (vgl. KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA 1995, S. 283). In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß bei lese-rechtschreibschwachen Kindern überproportional häufig allergische Erkrankungen und Erkrankungen des Immunsystems zu finden sind 7. GALABURDA sieht darin einen Hinweis auf einen immunologischen Teilmechanismus in der Genese der Lese-Rechtschreibschwäche. Bisher konnte dafür aber noch kein Genlokus auf den Chromosomen von Legasthenikern determiniert werden. Daher wird zur Zeit eher von einer hormonellen oder stoffwechselbedingten intrauterinen Entstehung ausgegangen (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 11). Für die Annahme einer minimalen cerebralen Dysfunktion (MCD) 8 als Ursache für Lese-Rechtschreibschwäche spricht die häufige Verknüpfung von LRS mit anderen cerebralen Dysfunktionen (vgl. WARNKE 1990, S. 11). RUTTER und YULE kamen zu dem Ergebnis, daß minderbegabte, lernschwache Kinder mit einer LRS deutlich mehr neuropsychologische Auffälligkeiten aufweisen als Kinder mit intelligenzdiskrepanter spezifischer Lese- und Rechtschreibschwäche (vgl. WARNKE 1990, S 11). DENCKLA schlug deshalb vor, folgende zwei Formen zu unterscheiden (ebd.): f) Dyslexia plus, Lese-Rechtschreibschwäche mit Zusatzsymptomen (wie z.b. Hyperkinetik und andere neurologische Symptomen), und g) Dyslexia pure, Lese-Rechtschreibschwäche ohne Zusatzsymptome. 6 7 8 Diese Form des Quellenverweises ist für alle Internet-Quellen gewählt worden. Diese sind unter entsprechender Nummer am Ende des Literaturverzeichnisses zu finden. Lese-Rechtschreibschwache Kinder fallen auch wegen häufiger Schulversäumnisse auf, die nicht selten krankheitsbedingt sind (vgl. ANGERMAIER 1982, S. 209). Das Konzept der MCD ist durch das der Teilleistungsschwäche abgelöst (vgl. Kapitel 1.4.4)

Lese-Rechtschreibschwäche 16 Ein Zusammenhang zwischen LRS und MCD ist aber nicht für alle Kinder nachweisbar. Der Anteil von Kindern, bei denen eine perinatale 9 Hirnschädigung von Bedeutung ist, wird auf 12% geschätzt. Offensichtlich besteht also ein solcher Zusammenhang, wie er sich im Einzelfall konkret äußert, ist jedoch noch nicht geklärt (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 11). 1.4.2 Psychosoziale Einflüsse und defizitärer Unterrichtung als erklärende Variable Häufig kommen Kinder mit LRS aus sozio-ökonomisch schlecht gestellten Familien und/oder aus Familien mit geringem sprachlichen Anregungsgrad (vgl. ANGERMAIER 1981, S. 209). Bei einer vollständigen kinder- und jugendpsychiatrischen Inanspruchnahmepopulation konnte REMSCHMIDT (1987) jedoch keinen Zusammenhang zwischen Legasthenie und sozialer Schicht ermitteln. LRS kam über alle (Herkunfts-) Schichten gleich verteilt vor. Was den Schluß zuläßt, daß bei Sicherung einer normalen und adäquaten Beschulung und beim Ausschluß relevanter psychosozialer Hindernisse eine Anzahl Kinder mit LRS verbleibt, bei denen sich die LRS unabhängig von schichtspezifischen Faktoren entwickelt. Ob das soziale Umfeld des Kindes eine ursächliche Funktion beim Entstehen einer LRS hat, kann aus diesen Ergebnissen nicht endgültig geklärt werden. Auf jeden Fall scheint es aber beim Vorhandensein einer Anlage verstärkend zu wirken. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß in der ICD-10 der WHO soziokulturelle Komponenten zur Ätiologie der LRS nicht ausgeschlossen werden. Eine erhebliche Diskrepanz in der Quote von Kindern mit LRS stellten KLICPERA und GASTEIGER-KLICPERA (1995) in unterschiedlichen Klassen einer Schule fest. Bei einer genaueren Betrachtung ergaben sich Zusammenhänge zwischen der Quote von Schülern mit LRS und dem Stil des Deutschlehrers. Es scheint also unbestritten, daß schlechter schriftsprachlicher Unterricht beim Vorhandensein einer Prädisposition zum Auftreten des Syndroms der LRS beiträgt. Ferner scheint ebenfalls festzustehen, daß sich bei Kindern eine Lese-Rechtschreibschwäche entwickeln kann, die einen normalen oder sogar ungewöhnlich guten schriftsprachlichen Unterricht genossen haben und die auch mit einer therapeutischen Förderung keine normale Lese- und Rechtschreibfähigkeit erlangen (vgl. KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA 1995, S. 296ff; ANGERMAIER 1981, S. 211; FIRNHABER 1994, S. 25f). Im Wechselverhältnis Schule und Elternhaus ist bei LRS-Kindern zu beobachten, daß entweder jegliche Hausaufgabenunterstützung entfällt oder im Gegenteil stundenlag 9 Die perinatale Phase umfaßt den Zeitraum von kurz vor bis zum siebten Tag nach der Geburt.

Lese-Rechtschreibschwäche 17 geübt wird. Die Eltern lese-rechtschreibschwacher Kinder haben offensichtlich ein Problem, das Leistungsverhalten und die Leistungsprobleme ihrer Kinder zu steuern (vgl. ANGERMAIER 1982, S. 212). Dieser Fakt spielt in der Genese der LRS sicherlich keine ursächliche Rolle, sondern wird eher die sekundären Begleitsymptome verstärken. 1.4.3 Neuropsychologische Erklärungsansätze Schriftsprache ist eine komplexe Leistung, die z.b. eine intakte Lernfähigkeit, ausreichende Sinnesfunktionen sowie eine ausreichende Integration sprachlicher, visueller, auditiver und motorischer Funktionen voraussetzt. Neuropsychologische Erklärungshypothesen setzten genau bei diesen zentral-nervösen Funktionen an. Sie konzentrieren sich auf Dysfunktionen in der zentral-nervösen Verarbeitung von Schriftsprache bzw. schriftsprachlicher Informationen. Dabei soll keinesfalls das Vorhandensein einer Hirnschädigung postuliert werden. Vielmehr geht es darum, das Wissen um die Entwicklung zentral-nervöser Funktionen und um die Organisation des Zentralnervensystems dazu zu benutzen, den Beitrag dieser konstitutionellen Faktoren bei der Entstehung der individuellen Schwierigkeiten der Kinder zu klären (vgl. WARNKE 1990, S. 12). Offen bleibt dabei die Frage, worin die ursächliche Dysfunktion genau besteht. Denkbar wäre eine nachweisbare strukturelle bzw. funktionelle Störung des zentralen Nervensystems, eine zentralnervöse Funktionsstörung für die sich aber kein strukturelles Korrelat finden läßt, eine verlangsamte oder andersartige Reifung von zentralnervösen Funktionen oder schließlich eine individuelle Variation zentral-nervöser Funktionen (WARNKE 1990, S. 12). Bei der Entwicklung zentral-nervöser Funktionen und ihrer strukturellen Architektur ist neuronale Aktivität mitbestimmend, die wiederum genetisch bedingt oder durch Umwelteinflüsse determiniert sein kann. Diese übergeordneten Überlegungen fächern sich in vielfältige neuropsychologische Ansätze auf, die im folgenden kurz charakterisiert werden sollen. (1) Abnorme anatomische Entwicklung der Hirnregionen, die für den Erwerb von Schriftsprache als ausschlaggebend angesehen wird, bzw. der intra- und interhemisphärischen Verbindungen (vgl. WARNKE 1990, S. 13). Diese Hypothese wird von neueren anatomischen Befunden gestützt. GALABURDA fand bei seinen Untersuchungen an acht Gehirnen früh verstorbener legasthener Personen eine entwicklungsbedingte, minimale Anomalie in der Hirnrinde und in einigen tieferliegenden Strukturen des Gehirns (vgl. DUMMER-SMOCH 1995, S. 4; ROSENKÖTTER 1997, S. 80). (2) Gestörter Aufbau funktioneller Hemisphärendominanz von an sich lateralisierter Hirnfunktionen bzw. eine abnorme Entwicklung der Lateralisierung schriftsprachlicher Informationsverarbeitung.

Lese-Rechtschreibschwäche 18 In den bereits unter (1) genannten Untersuchungen fand GALABURDA bei allen Gehirnen eine Symmetrie der beiden Schläfenlappen (Planum Temporale). Bei 80% aller Menschen haben jedoch Teile des linken Schläfenlappens, die zu den Sprachregionen zählen, ein größeres Volumen als diejenigen der entsprechenden rechten Seite (vgl. DUMMER-SMOCH 1995, S. 4; ROSENKÖTTER 1997, S. 81). Diese Aufhebung der physiologischen Hirnasymmetrie bei Legasthenikern konnte später in computer- und kernspintomographischen Studien bestätigt werden (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 81). Auch Messungen der Durchblutung bzw. der neuronalen Aktivität in Gehirnen legasthener Personen bei sprachlichen Aufgaben kamen zu ähnlichen Ergebnissen (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 80 ff). Die in diesem Zusammenhang auch diskutierte Häufung von Linkshändigkeit in der Gruppe der lese-rechtschreibschwachen Kinder ist mittlerweile widerlegt (vgl. ROSENKÖTTER 1997, S. 11; ANGERMAIER 1982, S. 210). (3) Dysfunktion intra- und interhemisphärischer Informationsverarbeitung Bei Kindern mit LRS lassen sich häufig intermodale Assoziationsschwierigkeiten beobachten, d.h. sie zeigen Schwächen bei der Verknüpfung von verbal auditiven und visuellen Informationen. Aus dieser Beobachtung läßt sich ableiten, daß eine Dysfunktion der intra- und interhemisphärischen Informationsverarbeitung bei der Entstehung einer LRS beteiligt sein könnte. Postuliert wird dementsprechend ein Defizit in der Integration visueller und sprachlicher Informationen. Elektrophysiologische Studien zeigen ferner, daß LRS-Kinder eine andere kortikale Verarbeitung von Funktionen des Lesens und Schreibens aufweisen, als schriftsprachlich normal entwickelte Kinder. Deutlich wird dies vor allem bei topographischen Darstellungen von Hirnfunktion während schriftsprachlicher Aufgabenstellungen (vgl. WARNKE 1990, S. 14). (4) Störungen der Aufmerksamkeit Die Grundlage dieser Hypothese ergibt sich aus der Beobachtung, daß viele Kinder mit LRS im Unterricht unkonzentriert erscheinen. Lesen und (Recht-) Schreiben verlangt jedoch selektive Aufmerksamkeit, d.h. aus einem komplexen Reizgefüge muß zum richtigen Zeitpunkt auf einen relevanten Reiz zweckmäßig reagiert werden. Für eine Beeinträchtigung der selektiven Aufmerksamkeit, jedoch nicht der Daueraufmerksamkeit, bei LRS-Kindern konnte u.a. WARNKE (1990) einen signifikanten Hinweis finden. Die im Unterricht zu beobachtenden Aufmerksamkeitsschwierigkeiten von leserechtschreibschwachen Kindern sind jedoch differenziert zu betrachten. Sie müssen nicht unbedingt an der Verursachung einer LRS beteiligt sein, sondern

Lese-Rechtschreibschwäche 19 können auch Folge derselben sein. Die ausgewählten Aufgaben bzw. Lesetexte stellen für diese Kinder oft eine Überforderung dar, weshalb sie dazu neigen diese vorzeitig abzubrechen oder nur flüchtig bzw. oberflächlich zu bearbeiten, da sie die Aufgabenstellung nicht wirklich verstanden haben (vgl. ANGERMAIER, 1982, S. 212; KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA 1995, S. 273f). (5) Dysfunktionen der sequenziellen Reizverarbeitung Schreiben ist die Fähigkeit eine akustisch-sprachliche und zeitlich geordnete Reihenfolge in eine visuelle und räumliche zu transformieren. Genau dabei haben aber einige Kinder mit LRS Schwierigkeiten; sie können die Phoneme nicht in die richtige Folge von Buchstaben übersetzten. Aufgrund dieser Beobachtung wird eine Dysfunktion im Kodieren längerer sequentieller Einheiten als bedeutsam für die Entstehung einer LRS angenommen. Diese Hypothese wird zum einen durch die von GRAICHEN untersuchte Bedeutung von hierarchisch-sequentiellen Regulationen für die Genese von Teilleistungsschwächen gestützt (vgl. WARNKE 1990, S. 14). Zum anderen konnte GANTZER zeigen, daß dieses Defizit bei Aufgaben, bei denen das genaue Einhalten einer Reihenfolge verlangt wird, um so deutlicher zutage tritt, je ähnlicher das dabei verwendete Material der Schriftsprache ist (vgl. WARNKE 1995, S. 307). (6) Dysfunktionen von Gedächtnisleistungen In einer Reihe von Studien konnte gezeigt werden, daß lese-rechtschreibschwache Kinder eine geringere Kapazität des Arbeitsgedächtnisses aufweisen. Da dieses für das Leseverständnis von großer Bedeutung ist, wird hierin eine Ursache von Leseschwierigkeiten gesehen (vgl. KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA 1995, S. 257). Bei einigen Kindern mit LRS können ferner Wortfindungsstörungen beobachtet werden. Was darauf hinweist, daß für die Schriftsprachentwicklung bestimmte Gedächtnisleistungen nötig sind, deren Funktion bei lese-rechtschreibschwachen Kindern gestört sein kann. Ferner wurden bei betroffenen Kindern ungenügende Gedächtnisstrategien beobachtet, wie etwa zu geringer Zeitaufwand für das Memorieren schriftsprachlicher Informationen sowie ungenügende Wiederholungsstrategien (vgl. WARNKE 1990, S. 14). (7) Dysfunktionen der sprachlichen Informationsverarbeitung Die Hypothese einer gestörten sprachlichen Informationsverarbeitung steht derzeit im Mittelpunkt neuropsychologischer Erklärungsansätze. Die Annahme ergibt sich aus der Tatsache, daß sich eine Subgruppe lese-rechtschreibschwacher Kinder herausarbeiten läßt, die neben der LRS auch Sprachentwicklungsauffälligkeiten zeigen. Dabei können in dieser Subgruppe vor allem Defizite in der Syntax, bei der

Lese-Rechtschreibschwäche 20 Wortfindung, bei der Lautdiskrimination und im verbalen Gedächtnis beobachtet werden. SPREEN zeigte aber auf, daß es auch lese-rechtschreibschwache Kinder gibt, die ausgezeichnete sprachliche Fähigkeiten besitzen. Und auch BERKHAN, der den Zusammenhang von Dyslalie und LRS untersuchte, beobachtete die Unabhängigkeit einer Rechtschreibschwäche von expressiven Sprach- und Sprechstörungen (vgl. WARNKE 1990, S. 15). Klinische Befunde wie z.b. von ANGERMAIER belegen zweifellos, daß LRS und Sprachentwicklungsstörungen häufig gemeinsam auftreten. Gleichzeitig gibt es aber einen erheblichen Prozentsatz von lese-rechtschreibschwachen Kindern, die keine manifestierte Sprach- und/oder Sprechstörung aufweisen. Es wäre also denkbar, daß die Sprachstörung nicht Ursache der LRS ist, sondern daß beide Symptome auf eine gemeinsame Ursache zurückzuführen sind. Diese könnte in einer Dysfunktion der Verarbeitung sprachlicher Informationen liegen. (8) Beeinträchtigung phonologischer Funktionen Eine zur Zeit ebenfalls viel diskutierte Hypothese ist die der phonologischen Verarbeitungsschwäche. Sie stellt den direkten Bezug zu den Verarbeitungstheorien des Lesens und Schreibens dar. Aufgrund der Beobachtung, daß die Rekodierung der Grapheme in Phoneme beim Lesen und umgekehrt der Phoneme in Grapheme beim Schreiben eine Funktion ist, die scheinbar dem Großteil der leserechtschreibschwachen Kinder Schwierigkeiten bereitet, wäre eine allgemeine Beeinträchtigung phonologischer Funktionen als Ursache der LRS denkbar. Folglich würde es diesen Kindern schwerfallen, Einsicht in den Phonemaufbau der Sprache zu gewinnen, was wiederum zu Schwierigkeiten bei der Analyse von Phonemfolgen führen würde. Die phonologische Verarbeitungsschwäche kann dabei auf verschiedenen Ebenen verursacht sein, in Betracht kommen die Ebene der auditiven Analyse und Diskriminierung, des phonologischen Zwischenspeichers oder der Umwandlung phonologischer Informationen in Artikulationsprogramme (vgl. KLICPERA/GASTEIGER-KLICPERA 1995, S. 247ff). (9) Dysfunktionen des optischen Apparates Als mögliche Ursache von LRS werden auch Störungen der Sehschärfe und des beidäugigen Sehens, Interferenzen der retinalen Reizverarbeitung sowie Anomalien der Augenbewegungen in Betracht gezogen. BISCALDI (1996) konnte in ihren Untersuchungen zu Augenbewegungen beim Lesen zeigen, daß eine Subgruppe von Legasthenikern beschrieben werden kann, die sich durch unregelmäßige Blicksprünge (Sakkaden) beim Abtasten des Textes von normalen Lesern unterscheidet. Diese Gruppe weist also Besonderheiten bei