Welt-Suizid-Präventionstag 2013 Was ist psychisch gesund? Was ist psychisch krank? Dr.med. Thomas Maier, Chefarzt St. Gallische Kantonale Psychiatrische Dienste Sektor Nord
Zwei Fallbeispiele 2
Frau L., 32 Frau L. stammt aus einem asiatischen Land, sie ist seit 4 Jahren mit einem Schweizer verheiratet und lebt seit 2 Jahren in der Schweiz. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes wird sie gereizt, schlaflos, missgelaunt, müde, erschöpft. Sie kann den Haushalt nicht mehr ordentlich machen, vernachlässigt die Kinder. Frau L. spricht neben ihrer Muttersprache Englisch kaum Deutsch. Sie hat ausser ihrem Mann keine weiteren Bezugspersonen in der Schweiz. Täglich telefoniert sie mit Ihrer Mutter in ihrem Heimatland. Wegen ihrer Vernachlässigung der Kinder und des Haushalts gibt es Streit mit dem Mann. Beim Hausarzt kommt es zur Eskalation des Streits, Frau L. droht, aus dem Fenster zu springen. Der Hausarzt weist Frau L. per FU in die Klinik ein. 3
Herr P., 19 Der junge Mann lebt im Haus der Eltern, beides Akademiker, er hat eine jüngere Schwester. Wegen ungenügender Leistungen ist er vor einem Jahr aus dem Gymnasium geflogen. Seitdem macht er nicht viel, sitzt meist zu Hause und macht Online- Computerspiele. Er hat ausser zwei Kollegen keine Sozialkontakte, kann keine Ziele für sein Leben nennen. Wegen seiner Ziel- und Beschäftigungslosigkeit kommt es immer wieder zu heftigen Spannungen und Konflikten mit dem Eltern, vor allem mit dem Vater. Dieser ist ein vielbeschäftigter Anwalt, der ausserdem intensiv Sport betreibt. Als Herr P. 7 Jahre alt war, verstarb seine 2 Jahre ältere Schwester an einer Krankheit. Die Mutter trägt seitdem Trauer, das Zimmer der Schwester wird unverändert belassen. Über die verstorbene Schwester wird nicht gesprochen. Die Familie meldet Herr P. beim Psychiater an. 4
Was ist psychisch krank? Psychische Symptome sind subjektiv. Sie können nur durch die Schilderung der Person erschlossen werden. Die Wertigkeit einzelner Symptome muss immer im Kontext der realen Lebenssituation eines Menschen beurteilt werden: - Besteht eine objektive Beeinträchtigung des persönlichen, sozialen, beruflichen Funktionierens? - Besteht ein Leidensdruck? - Was ist das Erklärungsmodell des Patienten? 5
Was ist psychisch krank? Symptome sind keine Krankheit. Gesund sein bedeutet nicht, keine Beschwerden oder Symptome zu haben. Gesund und krank sind keine absoluten Kategorien, die trennscharf unterschieden werden können. (Das gilt auch für körperliche Krankheiten.) Aus der Sicht des Patienten ist das subjektive Leiden entscheidend. Leiden und Krankheit sind verschiedene Dinge. Das subjektive Krankheitsmodell des Patienten kann erheblich abweichen vom Krankheitsmodell der Fachpersonen. 6
Was ist psychisch krank? Krankheiten sind nicht nur aus der subjektiven Perspektive des Patienten relativ. Auch die medizinisch-wissenschaftlichen Definitionen von Krankheiten sind abhängig von kulturellen, historischen, sozialen und ökonomischen Faktoren. Sie basieren auf Konventionen in der medizinischen Fachwelt und verändern sich im Lauf der Zeit. Beispiele: Hypertonie, Adipositas, Suchterkrankungen, Schmerzstörungen, Neurasthenie, Depression, posttraumatische Belastungsstörung, Homosexualität Krankheit (und Gesundheit) ist eine soziale Konstruktion. 7
Konsequenzen Gesundheit und Krankheit sind weniger objektive Gegebenheiten, sondern eher subjektive Haltungen und Verhaltensweisen (Copingstile). Das subjektive Leiden an Krankheiten wird nicht nur durch das Vorhandensein von objektiven Symptomen hervorgerufen, sondern ebenso durch die veränderte soziale Rolle. Die Krankenrolle kann eine Entlastung für ein Individuum bedeuten, oft ist sie aber auch mit Ausgrenzung und Stigma verbunden. Die Behandlung von Krankheiten (vor allem von chronischen Krankheiten) muss immer auch die Arbeit an den subjektiven Haltungen und Einstellungen beinhalten. 8
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