APD - Fachtagung vom 12. Juni Das Phänomen Essstörungen

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Transkript:

APD - Fachtagung vom 12. Juni 2008 Das Phänomen Essstörungen Dr. Erika Toman Zentrum für Essstörungen und Adipositas (Übergewicht), Zürich www.essstoerungen-adipositas.ch Erika Toman 2008 1

Anorexia Nervosa Bulimia Nervosa Atypische Esstörungen (EDNOS) Einige Gemeinsamkeiten Viele Unterschiede Erika Toman 2008 Erika Toman, 2005 2

Epidemiologie Lebensprävalenz An der Anorexie erkranken ca.1 % junger Frauen und 0.1 % junger Männer. An der Bulimie erkranken ca. 4-6 % junger Frauen und ca. 0.5-1 % junger Männer. Erika Toman 2008 3

Epidemiologie Einjahres Prävalenz-Raten auf 100 000 junge Frauen Behandlung Anorexia Bulimia nervosa nervosa 0. Gemeinschaft 370 1 500 filter 1: detection of disorder 1. Erstversorger 160 170 filter 2: referral to psychiatrist 2. Psychiatrisch- Psychotherapeut. Behandlung 127 87 Total in mental health care Prozente (von 0. in 2.) 34 % 5,8 % Nach Hans W. Hoek: Epidemiologie, aus:neurobiology in the treatment of eatin disorders; 1998 Erika Toman 2008 Erika Toman, 2005 4

BN AN 1975 1985 1995 2005 Bulik, Erika Toman ELED, 2008 2005 Erika Toman, 2005 5

Risikofaktoren : - Genetik - Persönlichkeit - Soziokulturelle Faktoren: Massenmedien Peergruppe Kultur ( heisse vs. kalte Kulturen) - familiäre Situation - individuelle Lebensgeschichte - Lebensphase (Pubertät und Adoleszenz) Erika Toman 2008 6

Diagnostische Kriterien / Anorexie (ICD10 F50.0, F50.01) 1. Untergewicht, BMI 17,5 oder weniger (BMI = Körpergewicht in Kg / Körperlänge in m im Quadrat) 2. Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch: Vermeidung von hochkalorischen Speisen, Abführmittel, übertriebene körperliche Aktivitäten 3. Körperschema-Störung (Selbstwahrnehmungsstörung) 4. Endokrine Störung (Amenorrhoe / Libido- und Potenzverlust) 5. Bei Beginn der Erkrankung vor der Pubertät ist die Abfolge der pubertären Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt. Nach Remission wird die Pubertätsentwicklung häufig normal abgeschlossen, die Menarche tritt aber verspätet ein. Achtung: Wachstumsstop. Restriktiver Typus (F50.00) Binge-Eating/Purging-Typus (F50.01) Erika Toman 2008 Erika Toman, 2005 7

Diagnostische Kriterien / Bulimie ICD10 (F50.2) Wiederholte Episode von Fressanfällen (binge eating) mit Kontrollverlust 2 Woche / 3 Monate Verschiedene Verhaltensweisen zur Gewichtskontrolle: selbstinduziertes Erbrechen Abführmittelabusus Zeitweiliges Hungern Gebrauch von Diuretika, Schilddrüsenhormonen oder Appetitzüglern bei Diabetikerinnen: Vernachlässigung der Insulinbehandlung Die Selbstbewertung ist übermässig von der Figur und dem Gewicht abhängig Andauernde Beschäftigung mit Essen Krankhafte Furcht davor, dick zu werden, selbstgesetzte Gewichtsgrenze unterhalb des prämorbiden, vom Arzt als optimal oder gesund betrachteten Gewichts Erika Toman 2008 8

Diagnostische Kriterien / Unspezifische Essstörungen ICD10 (F50.1, 50.3, 50.4, 50.9) EDNOS (Eating Disorder not otherweis specified) DSM-IV 307.50 Unvollständige Anorexie oder Bulimie Binge Eating Disorder (BED), meist zusammen mit Übergewicht 2 Woche / 6 Monate Wiederholtes Kauen und Ausspucken grosser Nahrungsmengen, ohne sie herunterzuschlucken Erika Toman 2008 9

Co-Morbidität Anorexie, restriktive Form - Zwangserkrankungen - Phobien, besonders Sozialphobie Anorexie, bulimische Form - Phobie, besonders Sozialphobie - Persönlichkeitsstörungen (oft anankastische, teilweise Borderline Typus u.a.) mit und ohne Selbstverletzungen Erika Toman 2008 10

Co-Morbidität Bulimie (mit Normalgewicht) -Persönlichkeitsstörungen, bes. Borderline Typus, oft mit Selbstverletzungen - Suchterkrankungen - Depression Erika Toman 2008 11

Co-Morbidität Bulimie mit Übergewicht und sonstiger Essstörung mit Übergewicht oder Adipositas - Suchterkrankungen - Depression - Posttraumatische Belastungsstörungen (F43.1) oft als Folge von sexuellem Missbrauch Erika Toman 2008 12

Anorexie: Gängige Antwort des Gegenübers Erstaunen Mitleid Rücksichtsnahme, Schonung Angst Starkes Engagement oder Distanzierung Wut Kampf Ekel Ohnmacht Erschöpfung Erika Toman 2008 13

Anorexie: Botschaft des krankheitsbedingten Verhaltens Ich sterbe fast vor Hunger - aber ich esse nichts! Erika Toman 2008 14

Zentrale Themen Anorexie: Kampf gegen sich selbst gegen andere für Selbstachtung für den eigenen Raum (Grenzen) Erika Toman 2008 15

Behandlung Anorexie Gewichtszunahme Normalisierung des Essverhaltens Erweiterung des psychischen Raumes / Nachreifen Stärkung der Persönlichkeit im sozialen und familiären Rahmen Erika Toman 2008 16

Bulimie: Antwort des Gegenübers Auf mittlere Distanz Keine besondere Aus der Nähe Staunen Ekel und/oder Mitgefühl Unsicherheit Wut Erika Toman 2008 17

Behandler im Dilemma (Bulimie) 1. Patientin will keine Ess-Brechanfälle mehr haben. 2. Patientin will nicht essen, da sie Gewichtszunahme fürchtet oder weitere Gewichtsabnahme anstrebt. Erika Toman 2008 18

Zentrale Themen Bulimie: Scham für das eigene Ungenügen im Leben allgemein für den eigenen Körper für die eigene Bedürftigkeit (Pseudoautonomie) Erika Toman 2008 19

Konkrete Behandlungsziele Rhythmisieren der Nahrungsaufnahme Aufgeben eines unrealistischen Zielgewichts (individuelles Set-Point- Gewicht beachten) Ausdehnen der ess-/brechfreien Phasen Suchen anderer Formen, sich zu beruhigen und versuchen Unruhe zu verstehen Erweiterung des psychischen Raumes - Holding Stärkung der Persönlichkeit im sozialen und familiären Rahmen Erika Toman 2008 20

Behandler / Motivatoren Anorexie: In Kontakt kommen mit dem Teil der Persönlichkeit, der Krankheit ablehnt Bulimie: In Kontakt kommen mit dem Teil der Persönlichkeit, der die Krankheit will und braucht Erika Toman 2008 21

Therapieformen Selbsthilfe-Gruppen Selbsthilfe-Manual Computer unterstützte Selbsthilfe CBT IPT Psychodynamisch orientierte Therapie (mit Arbeit am Symptom) Somatische Behandlung Erika Toman 2008 22

Therapie Indikation / Bulimie ambulant: Keine / wenig Komorbidität Funktionierendes Umfeld Tagesstruktur wird aufrechterhalten Wenig therapeutische Abnützung Symptomatik schwach bis mittel Stationär (Psychiatrie): Komorbidität ausgeprägt Soziale Vereinsamung Tagesstruktur Umkehr Ambulante Therapie wirkt nicht Symptomatik stark ausgeprägt Erika Toman 2008 23

Therapie Indikation / Anorexie ambulant: BMI über 16 Laborwerte i.o. Soziales Umfeld tragend Wenig therapeutische Abnützung Keine / wenig Komorbidität Stationär (Psychiatrie): BMI unter 14.5 / 15 Laborwerte auffällig Komorbidität ausgeprägt Soziales Umfeld störend Ambulante Therapie wirkt nicht Stationär (Somatik): BMI unter 13.5. / 11.5 Erika Toman 2008 24

Outcome Behandlelte Essstörungen haben die bessere Prognose Spezialisierte Einrichtungen haben den besseren Outcome Erika Toman 2008 25

Outcome - Anorexie 32-54% der Betroffenen genesen vollständig 33-22% der Betroffenen zeigen deutliche Verbesserung 34-14% chronischer Verlauf 1-10% Mortalität Nach Steinhausen, The outcome of anorexie nervosa in the 20th century, 2002 Outcome - Bulimie 50% der Betroffenen genesen vollständig 30% der Betroffenen haben schwankende Verläufe (zwischen Rückfall und Symptomfreiheit oder subsymptomale Bulimie) 20% chronische Verläufe 0,5-4% Mortalität Nach Hsu, Outcome of bulimia nervosa, 1995 Erika Toman 2008 26

Grad der Destruktivität - Behandlungs-Hierarchie Der Grad der Destruktivität nimmt zu, je früher gestört das Individuum ist. Der Grad der Destruktivität nimmt zu, je früher verletzt das Individuum geworden ist.

20.11.2003 Psychologin 4. Vierwaldstätter-Psychiatrie Psychiatrie-Tag Dr. phil. Erika Toman, Leitende Erika Toman 2008 28