Geschlechtsspezifische Wirkungen von PFADE und Geschlechtsunterschiede bei problematischem Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen

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Transkript:

Geschlechtsspezifische Wirkungen von PFADE und Geschlechtsunterschiede bei problematischem Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen Der vorliegende Artikel behandelt in einem ersten Schritt (A) die Wirkung von PFADE soweit bekannt, geht in einem zweiten Schritt (B und C) auf allgemeine Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen sowie auf Risikofaktoren bezüglich problematischen Sozialverhaltens ein und schliesst mit einem Fazit für die Prävention (D). A) Wirkungen von PFADE Was ist PFADE und wie wird es evaluiert? PFADE, das Programm zur Förderung alternativer Denkstrategien, ist ein Programm zur Prävention von Gewalt. Dabei werden soziale Kompetenzen von Kindern in der Primarschule gefördert, um so langfristig Problemverhalten wie Gewalt, Aggression, Substanzmissbrauch, Bedrücktheit und Depression zu reduzieren. Das Programm wurde in den USA entwickelt und wird heute in zahlreichen Ländern angewendet und wissenschaftlich begleitet. 1 PFADE umfasst sechs Bausteine: 1. Arbeit mit Gefühlen; 2. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen; 3. Umgang mit Regeln; 4. Selbstkontrolle; 5. Förderung von Problemlösefähigkeiten; 6. prosoziales Verhalten. Im Zürcher Projekt zur sozialen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (z-proso 2 ) wird der Einsatz von PFADE an Zürcher Schulen evaluiert. Das 2004 an der Uni Zürich gestartete und seit 2011 an der ETH Zürich angesiedelte Forschungsprojekt will neue Erkenntnisse über das Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen und die Frühprävention von Problemverhalten gewinnen. Die Evaluation von zwei Präventionsprogrammen (neben PFADE auch das Elterntraining Triple P) ist eingebettet in eine Längsschnittstudie zur sozialen Entwicklung von Kindern bis ins Jugendalter. 1 Vgl. www.gewaltprävention-an-schulen.ch/ 2 www.z-proso.ethz.ch/

Das Forschungsdesign von z-proso hat folgende Eckpunkte: vier verschiedene Gruppen (je eine Interventionsgruppe für PFADE und Triple P, eine kombinierte Interventionsgruppe und eine Kontrollgruppe); mehrere Messzeitpunkte (insbesondere vor und nach der Intervention, die in der 1. Klasse (Triple P) bzw. der 2. Klasse (PFADE) stattfindet, ein Jahr und mehrere Jahre nach der Intervention bis in die 9. Klasse; drei Arten von Informanten (Kinder, Lehrpersonen, Eltern). Die Stichprobe von z-proso umfasst rund 1350 Kinder aus 56 Schulen im Kanton ZH. 3 Der Interventionsgruppe PFADE gehören 442 Kinder an. Wie wirkt PFADE? Ein Jahr nach der Durchführung des PFADE-Programms beim Vergleich zwischen den Messungen in der 1. und der 3. Klasse zeigen sich einige wenige Wirkungen bei den emotionalen Kompetenzen und bei der Problemlösungskompetenz (vgl. Eisner et al. 2007): Kinder, die bei PFADE mitgemacht haben, haben gemäss Einschätzung der Lehrpersonen ihre Kompetenzen im Erkennen und im Umgang mit Gefühlen stärker verbessert als Kinder der Kontrollgruppe. Dies gilt für beide Geschlechter gleichermassen. Die Häufigkeit aggressiver Problemlösungsvorschläge ist bei Knaben zu beiden Messzeitpunkten höher als bei Mädchen. Bei beiden nimmt sie mit zunehmendem Alter ab, bei der PFADE-Gruppe stärker als bei der Kontrollgruppe. Der Effekt der Intervention ist bei Mädchen wie bei Knaben deutlich. Bei allen andern untersuchten Verhaltensweisen konnte keine Wirkung von PFADE nachgewiesen werden. Ein Jahr später (beim Vergleich zwischen 1. und 4. Klasse) sieht das Ergebnis anders aus (vgl. z-proso Info 1/10). Gemäss Einschätzung der Lehrpersonen (die inzwischen gewechselt haben und nicht an der Umsetzung von PFADE beteiligt waren) haben bei den PFADE- Kindern im Gegensatz zur Kontrollgruppe (KG): emotionale Probleme nicht zugenommen (in KG leichte Zunahme); ADHS-Symptome abgenommen (in KG unverändert); nicht-aggressive Verhaltensprobleme abgenommen (in KG zugenommen); oppositionelles Verhalten deutlich stärker abgenommen als in der KG; aggressives Verhalten abgenommen (in KG unverändert). Eine geschlechtsspezifische Analyse der Wirkungen von PFADE 4 ergab, dass alle Haupteffekte sowohl für Knaben wie für Mädchen gelten. Bei einzelnen Messungen wurden Unterschiede festgestellt. So hat sich in der Einschätzung der Lehrpersonen das prosoziale Ver- 3 An der ersten Befragung nahmen 1361 teil, danach nahm die Zahl laufend etwas ab. 4 Vgl. Eisner 2012 2

halten von Knaben mit neun Jahren verbessert und die ADHS-Symptome sind bei den 13- jährigen Knaben geringer geworden. Aus Elternsicht zeigen Knaben mit zehn Jahren signifikant weniger nicht-aggressives Problemverhalten als vor der Intervention. All diese Teileffekte konnten für Mädchen nicht festgestellt werden. Im Alter von 13 Jahren lassen sich allerdings kaum noch Unterschiede zwischen den PFADE-Kindern und den andern Kindern ausmachen. PFADE beeinflusst das Sozialverhalten der Kinder zumindest für eine gewisse Zeit positiv. Von diesem Einfluss scheinen Knaben tendenziell etwas mehr zu profitieren als Mädchen. B) Allgemeine Erkenntnisse zu problematischem Sozialverhalten von Mädchen und Knaben In der z-proso-studie wie auch in andern Studien lassen sich zahlreiche Unterschiede im Sozialverhalten von Knaben und Mädchen feststellen, die für die Präventionsarbeit von Bedeutung sind. Mädchen zeigen deutlich weniger Problemverhalten. Die Probleme im Sozialverhalten von Kindern und Jugendlichen werden in folgende Bereiche gruppiert: Verschiedene Formen von Aggression. Am häufigsten sind reaktive Aggressionen, d.h. aggressive Reaktionen, wenn Kinder geneckt werden oder ihnen etwas weggenommen wird. Auf solche Situationen reagieren Knaben und Mädchen ähnlich. Grosse Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt es hingegen bei der nicht-reaktiven körperlichen Gewalt wie Prügeleien und Angriffe auf andere. 12% der Knaben, aber nur 2% der Mädchen sind in der ersten Klasse oft in Prügeleien verwickelt. Bei Angriffen auf andere und Verhaltensweisen wie treten, beissen, schlagen sind es 8 resp. 7% der Knaben gegenüber 1% der Mädchen. Als instrumentelle oder proaktive Aggression gelten Versuche, andere zu beherrschen oder zu veranlassen, jemanden zu plagen. Sie sind in den ersten Klassen bei Mädchen etwas häufiger als bei Knaben, danach verschwindet der Unterschied. 3

Entwicklung einzelner problematischer Verhaltensweisen gemäss Angaben der Lehrpersonen Quelle: Ribeaud 2012 Nicht-aggressives Problemverhalten wie Unaufmerksamkeit, fehlende Impulskontrolle, Ablenkbarkeit, also Symptome des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms ADHS, sind bei Kindern viel verbreiteter als Aggressionen. 14.7% der Knaben und 6.8% der Mädchen zeigen im ersten Schuljahr fünf oder mehr dieser Verhaltensweisen oft oder sehr oft. Zu nicht-aggressivem Verhalten gehört auch Ungehorsam, Dinge in der Schule kaputt machen usw., die bei Knaben tendenziell häufiger vorkommen als bei Mädchen. Internalisierendes Problemverhalten: Neben den beiden dargestellten Gruppen von Problemverhalten, die als externalisierend, also ausagierend bezeichnet werden, gibt es die Situation, dass Kinder ihre Probleme gegen innen wenden, sie internalisieren. Emotionale Probleme wie Traurigkeit, Ängstlichkeit, Angespanntheit können die Folge sein: 7.6% der Knaben und 6.3% der Mädchen weisen in der ersten Klasse Symptome einer affektiven Störung auf, d.h. bei ihnen werden von den Lehrpersonen drei oder mehr dieser Symptome oft oder sehr oft beobachtet. Hier sind kaum Unterschiede zwischen den Geschlechtern festzustellen. Defizite bei prosozialem Verhalten. Alle erfassten prosozialen Verhaltensweisen kommen bei Mädchen häufiger vor als bei Knaben. So helfen z.b. 57% der Erstklässlerinnen, aber nur 33% der Erstklässler gemäss Beobachtungen der Lehrpersonen oft oder sehr oft einem verletzten Kind. 9% der Knaben kümmern sich nie um ein weinendes Kind, bei den Mädchen sind es 0%. Auch Verhalten, das weniger persönliche Zuwendung erfordert (etwa helfen bei Durcheinander, etwas aufheben, helfen einen Zank zu beenden), wird bei 12-13% der Kna- 4

ben nie beobachtet, bei Mädchen sind es nur 3-6%. Insgesamt haben 8.8% der Knaben, aber nur 0.9% der Mädchen ein gravierendes Defizit bei prosozialem Verhalten (d.h. sie zeigen drei oder mehr dieser Verhaltensweisen nie). Bei beiden Geschlechtern kommt zu Beginn der Schulzeit nicht-aggressives Problemverhalten am häufigsten vor und dort v.a. ADHS-Symptome. Lässt man diese weit verbreiteten Auffälligkeiten bei Seite, stehen bei den Knaben Defizite beim prosozialen Verhalten an erster Stelle, bei den Mädchen ist es das internalisierende Problemverhalten. Das Problemverhalten nimmt mit zunehmendem Alter ab. Wie aus den obigen Grafiken ebenfalls deutlich wird, nehmen alle Problemverhalten bei Kindern mit zunehmendem Alter ab. Die stärkste Abnahme zeigt sich bei der physischen Aggression von Knaben. Diese Abnahme problematischen Verhaltens ist durch zahlreiche Untersuchungen gut belegt und wird als Erfolg der Sozialisation interpretiert. Je länger die Sozialisation dauert, desto stärker nimmt asoziales Verhalten ab und sozial erwünschtes Verhalten zu. [Diese Befunde stehen im Gegensatz zur Entwicklung der Delinquenz, die ab Schuleintritt bis zum Alter von 18/19 Jahren stark ansteigt und danach wieder zurückgeht. Aus andern Studien lässt sich schliessen, dass zwar die Zahl der Gewalt- und Straftaten zunimmt, nicht jedoch die der TäterInnen und Opfer (Ribeaud & Eisner 2008). Problematisches Verhalten konzentriert sich also mit zunehmendem Alter auf ein bestimmtes Milieu.] Die Verhaltenstendenzen sind relativ stabil. Wer mit 13 Jahren aggressives Verhalten zeigt, war mit erhöhter Wahrscheinlichkeit schon in der ersten Klasse auffällig. Zwischen den Einschätzungen von Lehrpersonen und Eltern über das Problemverhalten von Kindern zu verschiedenen Zeitpunkten gibt es eine signifikante positive Übereinstimmung. Am höchsten ist die Übereinstimmung bei nicht-aggressivem Problemverhalten und am geringsten beim internalisierenden Verhalten, das auch am schwierigsten zu beurteilen ist. Die Selbsteinschätzungen der Kinder sind hingegen, vermutlich auch aus methodischen Gründen, weniger stabil. Allerdings gilt auch: Längst nicht alle, die als Erstklässler Probleme machen, tun dies noch mit 13 Jahren. Aggression wird einerseits auf stabile psychische Faktoren (etwa geringe Selbstkontrolle) zurückgeführt, anderseits mit früherem Problemverhalten und den Reaktionen des Umfeldes darauf erklärt. Sicher spielen Lebensumstände und -ereignisse für die Entwicklung des Sozialverhaltens eine wichtige Rolle. 5

Verschiedene Verhaltensmuster hängen miteinander zusammen. Aggression und nicht-aggressives externalisierendes Verhalten korrelieren sehr stark. Ebenso haben aggressive Kinder häufig auch emotionale Probleme wie Angst und Depressivität. Externalisierendes Verhalten geht also oft mit internalisierendem einher. Hingegen scheint prosoziales Verhalten problematischem Verhalten entgegenzuwirken. Je mehr prosoziale Kompetenzen Kinder haben, desto seltener sind Verhaltensprobleme. Allerdings ist dieser Zusammenhang nicht sehr stark, am schwächsten bezüglich internalisierendem Verhalten (Ribeaud 2008). Prosoziales Verhalten, das bei den Mädchen besonders ausgeprägt ist, schliesst also emotionale Probleme nicht aus. Prosoziales Verhalten kann als Schutzfaktor gesehen werden. Es verhindert vor allem externalisierendes Problemverhalten, hat jedoch nur einen geringen Einfluss auf emotionale Probleme. C) Risikofaktoren und Problemverhalten Risikofaktoren sind Verhaltensweisen und Bedingungen, die mit späterem Problemverhalten zusammenhängen, dieses also wenn nicht direkt verursachen, so doch vorhersagen können. Für die Prävention ist es wichtig, diese Faktoren zu kennen und zu beeinflussen. Es wird unterschieden zwischen individuellen Risikofaktoren und Faktoren im Umfeld. Zu den individuellen Risikofaktoren zählen etwa soziobiologische Faktoren wie das Geschlecht, aber auch früheres aggressives Verhalten, mangelnde Selbstkontrolle, gewalttolerante Normen, Einstellung zur Schule, Freizeitverhalten. Die Faktoren im Umfeld lassen sich weiter unterteilen in Familiensituation (bspw. Familienzusammensetzung und -klima, Geschwister, elterliche Aufsicht, Erziehungsstil), schulische Faktoren (Klassenzusammenhalt, Beziehung zu Lehrpersonen) und die Situation in der Gruppe der Gleichaltrigen (Position in der Gruppe, antisoziale Freunde). Knaben sind durch Risikofaktoren allgemein stärker belastet Da Knaben in allen entsprechenden Studien mehr Problemverhalten als Mädchen zeigen, wird das Geschlecht als Risikofaktor bezeichnet. Aber auch zahlreichen andern Risikofaktoren sind Knaben stärker ausgesetzt als Mädchen, wie etwa aus der Zürcher Jugendbefragung (Eisner et al. 2009) hervorgeht. Fast alle untersuchten Risikofaktoren sind bei Knaben gleich oder stärker ausgeprägt als bei Mädchen. Eine stärkere Belastung zeigt sich insbesondere bei individuellen Faktoren (etwa Gewalt befürwortende Normen, mangelnde Selbstkontrolle) und schulischen Faktoren (z.b. Motivation, Schwänzen) sowie Bedingungen im Freundeskreis (wie delinquente Freunde und Normen) und Freizeitverhalten (etwa Alkoholund Medienkonsum). Ausnahmen stellen lediglich die Faktoren mangelndes Selbstvertrauen, schlechte Zukunftsperspektiven und Partnerkonflikte der Eltern dar, die bei Mädchen stärker ausgeprägt sind. 6

Auch in der z-proso-studie weisen die Knaben eine höhere Risikobelastung auf. Mädchen waren im Durschnitt 17.8 Risikofaktoren (davon 11 externen) ausgesetzt, Knaben 21.3 Faktoren (12 externen) (Ribeaud & Eisner 2010, S. 491). Lediglich bei einem Faktor frühere emotionale Probleme findet sich eine signifikant stärkere Belastung der Mädchen. Fast die Hälfte der untersuchten Risikofaktoren aber belasten Knaben stärker als Mädchen. Besonders deutlich ist die höhere Belastung der Knaben beim früheren Problemverhalten, insbesondere nicht-aggressives externalisierendes Verhalten und prosoziale Verhaltensdefizite, und beim Sensation-seeking (Suche nach Stimulation). Im Bereich der Freizeitaktivitäten sind die Risikofaktoren Fehlen von kreativen und intellektuell anspruchsvollen Aktivitäten, nicht altersgerechter Medienkonsum und gewalttätige Freunde bei Knaben deutlich verbreiteter als bei Mädchen. Fasst man die Risikofaktoren zu Gruppen zusammen, dann zeigt sich eine deutlich stärkere Risikobelastung der Knaben durch interne individuelle Faktoren (etwa Persönlichkeit, Normen und Werte, Kompetenzen) und durch Faktoren bei der Freizeitaktivität. (unveröffentlichte Spezialauswertung Ribeaud) Je höher die Risikobelastung, desto grösser die Wahrscheinlichkeit von Problemverhalten. Kumuliertes Risiko für Aggression im Alter von elf Jahren, nach Geschlecht Quelle: Ribeaud 2012 7

Indirekte Aggression mit neun Jahren (kombinierte Eltern-, LP-, Kind-Angaben) nach Risikobelastung (bis neun Jahre) & Geschlecht; 0=mittleres Niveau von indirekter Aggression.80.60.40.20.00.20.40.60 10 11 15 16 20 21 25 26 30 31+ Mädchen Jungen Quelle: unveröffentlichte Spezialauswertung Ribeaud Wie die Grafiken zeigen, steigt das Niveau der direkten und der indirekten Aggression mit der Zahl der Risikofaktoren an. Kinder, die mehr Risikofaktoren ausgesetzt sind, zeigen auch anderes Problemverhalten häufiger. Bei den Knaben ist der Effekt zumindest bei der direkten Aggression deutlicher als bei den Mädchen. Knaben sind nicht nur stärker durch Risikofaktoren belastet, sie scheinen teilweise auch sensibler auf diese Belastungen zu reagieren als Mädchen. Für Mädchen sind z.t. andere Risikofaktoren von Bedeutung als für Knaben Ähnliche starke Effekte auf aggressives Verhalten bei beiden Geschlechtern haben gemäss der z-proso-studie individuelle Faktoren wie frühere Aggression (stark), geringe Selbstkontrolle (mittel) und gewalttolerante Normen (mittel bei Knaben, schwach bei Mädchen). Ebenfalls ähnlich, aber schwach wirksam sind Faktoren in der Beziehung zu Gleichaltrigen (Ausschluss, Mobbing, gewalttätige Freunde). Keine Rolle scheinen bei Mädchen Risikofaktoren im schulischen Umfeld zu spielen, während sich bei Knaben ein schwacher bis mittlerer Zusammenhang mit Aggression ergibt. Schlechte Lehrer-Kind-Beziehung ist für Knaben ein mittlerer Risikofaktor, für Mädchen gar keiner. Einige Risikofaktoren in der Familie sind für beide Geschlechter ähnlich bedeutsam (Familienklima, abwesender leiblicher Elternteil, Körperstrafe: alle schwach wirksam,), andere wiederum für Mädchen schwächer als für Knaben (elterliche Uneinigkeit in Erziehungsfragen, geringe Aufsicht, elterliche Depression). Zwischen altersinadäquatem Medienkonsum und Aggression besteht nur für Knaben ein schwacher Zusammenhang. Übrigens haben Migrationshintergrund und sozioökonomische Merkmale der Familie keinen Einfluss auf Problemverhalten. Bei Depressivität/Ängstlichkeit ergeben sich leicht andere Zusammenhänge mit Risikobelastung. V.a. zeigen Mädchen im Alter von elf Jahren hier höhere Ausprägungen des Prob- 8

lemverhaltens als Knaben. Das Problemverhalten steigt mit höherer Risikobelastung ebenfalls an, je nach Auskunftsperson aber unterschiedlich. D) Fazit für die Prävention Aufgrund der dargestellten Erkenntnisse lassen sich für die Prävention von Gewalt und anderem problematischem Verhalten bei Mädchen und Knaben folgende Schlüsse ziehen: 1. Knaben und Mädchen profitieren gleichermassen von Präventionsmassen wie PFADE. Die Massnahmen setzen bei den relevanten Risikofaktoren an und zeigen Wirkung. 2. Die Förderung prosozialen Verhaltens ist zentral und vermutlich bei Knaben besonderes effektiv. 3. Auf Massnahmen zur Vermeidung internalisierenden Verhaltens sollte v.a. im Interesse der Mädchen mehr Gewicht gelegt werden. 4. Was die Knaben betrifft, drängt sich neben der Arbeit an individuellen Risikofaktoren (wie Selbstkontrolle, Normen, Freizeitaktivitäten) eine Reduktion der schulischen Risikofaktoren (wie Klassenklima, Beziehung zur Lehrperson) auf. Für eine gezielte und geschlechtersensible Weiterentwicklung der Präventionsmassnahmen sind vertiefte Forschungen zu folgenden Fragestellungen hilfreich: geschlechtsspezifische Zusammenhänge zwischen Risikofaktoren und allen Formen von problematischem Verhalten. Interessant wäre u.a. eine genauere Analyse der Schutzfaktoren. geschlechtsspezifische Wirkungen von Präventionsmassnahmen. Hierzu braucht es weitere geschlechtsspezifische Auswertungen in Bereichen, in denen Effekte festgestellt wurden. Literatur Eisner Manuel et al.: Frühprävention von Gewalt und Aggression. Ergebnisse des Zürcher Interventions- und Präventionsprojektes an Schulen. Zürich/Chur 2007 Eisner Manuel, Ribeaud Denis & Locher Rahel: Expertenbericht Prävention von Jugendgewalt. Beiträge zur Sozialen Sicherheit. Expertenbericht Nr. 05/09. Herausgegeben vom Bundesamt für Sozialversicherungen, Bern 2009 www.z-proso.ethz.ch/research/pub/reftype/bericht Eisner Manuel: z-proso ausgewählte Ergebnisse und ihre Bedeutung für die Praxis. Referat im Rahmen der Fachveranstaltung zu z-proso vom 23. Januar 2012. Ribeaud Denis: Gewalt, Problemverhalten und Delinquenz zwischen dem 7. und 13. Lebensjahr. Referat an der Fachveranstaltung zu z-proso vom 23. Januar 2012 9

Ribeaud Denis & Eisner, Manuel: Entwicklung von Gewalterfahrungen Jugendlicher im Kanton Zürich. Schlussbericht zuhanden der Bildungsdirektion, Zürich 2008 www.z-proso.ethz.ch/research/pub/reftype/bericht Ribeaud Denis & Eisner Manuel: Risk factors of aggression in preadolescence: risk domains, cumulative risk, and gender differences. Results from a prospective longitudinal study in a multiethnic urban sample. In: European Journal of Criminology. Special Issue on Criminal Careers Research: Show-Casing Studies and Approaches, 7/2010, S.460-498 z-proso-info. Aktuelle Ergebnisse aus z-proso für Lehrpersonen und andere Fachleute aus der Praxis. Januar www.z-proso.ethz.ch/publicationsembedded_cs/printdetail?id=138069&language=de 10