Konrad Paul Liessmann DER SINN DES SCHÖNEN Anmerkungen zum Verhältnis von Bildung und Ästhetik

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Transkript:

1 Konrad Paul Liessmann DER SINN DES SCHÖNEN Anmerkungen zum Verhältnis von Bildung und Ästhetik Vortrag beim Symposion Bildung und Ästhetik der KPH Wien am 6. Mai 2010 (gekürzte Fassung) Ist gegenwärtig von Bildung die Rede, dann denkt fast niemand mehr an die neuhumanistischen Ideale, die mit diesem, im deutschen Sprachraum erst seit dem späten 18. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff einstens assoziiert waren. Im gegenwärtigen Diskurs fungiert "Bildung" als Sammelbegriff für all jene Lern- und Trainingsprozesse, denen sich die Menschen unterziehen müssen, um im Kampf um die knapper und anspruchsvoller werdenden Arbeitsplätze mithalten zu können. Die Wettbewerbsrhetorik spielt deshalb im Bildungsdiskurs mittlerweile eine entscheidende Rolle, wie die Individuen stehen auch die Bildungsinstitutionen in einem Konkurrenzverhältnis, das durch künstliche Maßnahmen wie periodische Tests, Evaluationen und Rankings noch verschärft wird. Als ein - wenn auch nicht alleiniges - Kriterium für die Qualität von Bildungseinrichtungen fungiert dann auch folgerichtig die Nähe zum Arbeitsmarkt. Die Nützlichkeit erworbenen Wissens und angeeigneter Kompetenzen für berufliche Karrieren einerseits und für die Erfordernisse einer dynamischen globalisierten Wirtschaft andererseits werden zum entscheidenden Gesichtspunkt, an dem sich letztlich die Lehrpläne von Volkschulen ebenso zu orientieren haben wir die Curricula universitärer Studiengänge. Man spricht zwar noch von "Bildung", meint aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete "maßgeschneiderte" Qualifizierung von Menschen, also ihre "Ausbildung". Das Spannungsverhältnis von Bildung und Ausbildung, das den Bildungsdiskurs seit dem 18.Jahrhundert begleitet, wurde, so könnte man zugespitzt formulieren, in den letzte Jahren einseitig zugunsten der Ausbildung aufgelöst. Was bei solch einer Reduktion verloren gehen könnte, wird klar, wenn man sich an der Bestimmung der Differenz von Bildung und Ausbildung orientiert, wie sie der Berliner Philosoph Peter Bieri, der unter dem Namen Pascal Mercier auch als Romancier bekannt geworden ist, in einem im Jahre 2005 gehaltenen Vortrag an der Pädagogischen Hochschule Bern formuliert hat: "Bildung ist etwas, das Menschen mit sich und für sich machen: Man bildet sich. Ausbilden können uns andere, bilden kann sich jeder nur selbst. Das ist kein bloßes Wortspiel. Sich zu bilden, ist tatsächlich etwas ganz anderes, als ausgebildet zu werden. Eine Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns

2 dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden - wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein."1 Im Gegensatz zu vielen sieht Bieri dann auch kein Problem darin, die wesentlichen Dimensionen von Bildung auch inhaltlich zu bestimmen: Selbstorientierung, Aufklärung, historisches Bewusstsein, Artikuliertheit, Selbstbestimmung, moralische Sensibilität und poetische Erfahrung gelte ihm also jene Faktoren, an denen sich die Bildungsprozesse von Menschen orientieren sollten. Bildung, so Bieri, ist nicht denkbar ohne Neugier, ohne Leidenschaft, ohne Reflexion und Selbstreflexion, ohne Wertung und Bewertung, ohne das Wagnis, sich durch das, was man im Bildungsprozess erfährt, verändern zu lassen. Ausbildung hingegen orientiert sich an operationalisierbaren Kenntnissen und Fähigkeiten, die nicht in Hinblick auf ihr bildendes Potential, sondern in Hinblick auf die Einsetzbarkeit des Menschen für verschiedene Zwecke vermittelt und geübt werden. Aus dieser Überlegung wird klar, dass Bildung von ganz anderen Voraussetzungen ausgehen muss, als Ausbildung, es wird aber auch klar, dass die Frage nicht sein kann, Bildung oder Ausbildung, sondern in welchem Verhältnis Bildungsprozesse zu Ausbildungsgängen stehen können. In welcher Weise man in der Welt ist, ist nicht ganz unabhängig davon, was man weiß und was man kann. Aber der Erwerb von Qualifikationen ist etwas anderes als die Arbeit an sich selbst. Bilden hat tatsächlich viel mit Formen und Gestalten zu tun, die Idee der Bildung ist stets vom Individuum, vom Subjekt her gedacht worden, obwohl kein namhafter Bildungstheoretiker je darauf vergessen hätte, dass jedes Individuum in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen lebt und Bildung nur im Austausch mit anderen gelingen kann. Das Interesse an anderen Kulturen, an Sprachen, Werthaltungen, Religionen und Lebensweisen wird unter einem Bildungsanspruch nicht nur aus einem strategischen Kalkül gespeist werden - weil man etwa mit den Angehörigen einer anderen Kultur Geschäfte machen will -, sondern auch das eigene Weltbild verändern und den eigenen Standpunkt relativieren. Voraussetzung aller Bildung ist so in der Tat eine Neugier auf das, was in der Welt ist, eine Neugier, die sich weder der schon von Ludwig Wittgenstein kritisierten wissenschaftlichen Sensationslust noch dem Eroberungs- und Verwertungsdrang ganz unterordnet. Dass Menschen von diesen Ambitionen völlig frei sein können, wäre in der Tat zu idealistisch gedacht. Dass man die Welt aber auch unter anderen Gesichtspunkten als den von Marktanteilen betrachten und 1 Peter Bieri: Wie wäre es, gebildet zu sein? Festrede, gehalten an der Pädagogischen Hochschule Bern am 4. November 2005. http://www.phbern.ch/fileadmin/bilder_und_dokumente/01_phbern/pdf/051104_festrede_p._bieri.pdf, abgerufen am 22.5.2008

3 erfahren kann - wer, der einmal etwa der Faszination des Schönen unterlag, wollte dies leugnen? In der Tat: die klassische Ästhetik hatte das Schöne scharf dem Nützlichen gegenübergestellt. In dem bedeutenden Aufsatz Über die Bildende Nachahmung des Schönen aus dem Jahre 1788 hatte der heute vergessene Romancier, Psychologe und Ästhetiker Karl Philipp Moritz geschrieben: " Wir können also das Schöne im allgemeinen auf keine andre Weise erkennen als insofern wir es dem Nützlichen entgegenstellen und es davon so scharf wie möglich unterscheiden. Eine Sache wird nämlich dadurch noch nicht schön dass sie nicht nützlich ist sondern dadurch, dass sie nicht nützlich zu sein braucht". 2 Das heißt nicht, dass das Schöne nicht auch nützlich sein kann; das heißt auch nicht, dass das Nützliche nicht auch schön sein kann. Das heißt nur, dass zwischen Schönheit und Nützlichkeit, dass zwischen dem Ästhetischen in seinem Eigensinn und der Welt der Zwecke und der Ziele keine wie immer geartete konditionale Beziehung und daraus abgeleitete Konsequenzen gedacht werden können. Seine Schärfe erhält diese klassische These in einer unklassischen Zeit, wenn man daran festhalten will, dass nur das Schöne Gegenstand und Frage einer ästhetischen Erziehung sein kann. Natürlich: wir sind umgeben von ästhetischen Reizen aller Art und es ist gut zu wissen, wie Menschen auf Reize reagieren und welche emotionalen Reaktionen solche Reize auslösen können. Aber das Gegenstand der Wahrnehmungspsychologie, der Rhetorik und der Affektenlehre - nicht der ästhetischen Erziehung. Diese hat vielmehr jenen Gedanken zur Voraussetzung, den Moriz in dem zitierten Aufsatz prägnant formuliert hat: "Das Schöne kann daher nicht erkannt, es muß hervorgebracht - oder empfunden werden."3 Was bedeutet dies? Ein letztes Mal Moritz: "Das Schöne will ebensowohl bloß um sein selbst willen betrachtet und empfunden als hervorgebracht sein."4 Damit präludiert Moritz jenen Gedanken, der zentral wurde für Immanuel Kant. In seiner 1790 erschienenen Kritik der Urteilskraft sind einige der entscheidenden Bestimmungen und Überlegungen enthalten, die die ästhetischen Diskussionen bis heute befruchtet haben. Modern ist Kants Ästhetik dabei in mehrerlei Hinsicht. Kant geht es nicht um einen engen Begriff des Kunstwerks, sondern um einen umfassenden Begriff der ästhetischen Erfahrung. Wurzel und Grund dieser Erfahrung ist natürlich das Subjekt, der einzelne mit seinem Empfindungsvermögen. Von ihm hat alle 2 Karl Philipp Moritz: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von Jürgen Jahn, Berlin und Weimar 1973, Bd. 2, S. 263 3 Moritz, Werke 2, S. 272 4 Moritz, Werke 2, S. 280

4 Analyse dieser Erfahrung auszugehen. Das heißt aber auch, dass es keinen vorab definierten und eingeschränkten Bereich gibt, in dem ästhetische Erfahrung möglich ist. Indem Kant die Frage, ob etwas als ästhetisch wahrgenommen werden kann, nicht an einen Gegenstand, sondern an das wahrnehmende Individuum koppelt, eröffnet er jene Entgrenzung des Ästhetischen, die erst die moderne Kunst des 20. Jahrhunderts selbst eingelöst hat. Zum anderen hat Kant radikal wie wenige versucht, den Bereich des Ästhetischen als einen tatsächlich autonomen zu konstruieren, in dem keine anderen Zwecke walten als die des Ästhetischen selbst. Er weist jede Fremdbestimmung des Ästhetischen mit Nachdruck zurück und hat damit wohl auch den theoretischen Grundstein für jene Selbstbesinnung gelegt, welche die Künste seit dem 18. Jahrhundert zunehmend auszeichnet. Friedrich Schiller, dessen ästhetische Theorien in intensiver Auseinandersetzung mit Kant entstanden, hat versucht, die Frage nach dem Verhältnis von ästhetischem Subjekt und den Erfordernissen einer praktisch-vernünftigen Gemeinschaft der Menschen ganz anders zu beantworten. In einer Reihe von Briefen an den Herzog Friedrich Christian von Augustenburg über die Möglichkeit einer ästhetischen Erziehung des Menschen entwarf Schiller die Vision einer staatlichen Ordnung, in der Schönheit und Freiheit, Individuum und Allgemeinheit eine Einheit bilden sollten, die ihr Fundament nicht zuletzt in der Versöhnung und im Zusammenspiel jener Triebe haben sollte, die Schiller konzipierte, um den Kantischen Antinomien zu entgehen: der sinnlichen Trieb und der Formtrieb. Während der sinnliche Trieb nach Schiller den Menschen an die Materie und die Zeit bindet, ihn zwingt, sich darin zu entfalten und zu bewegen, zielt der Formtrieb auf Freiheit, Harmonie und die Realisation des Menschen als eines vernünftigen Subjekts jenseits von Raum und Zeit: Der sinnliche Trieb, so Schiller, will, dass Veränderung sei, dass die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb aber will, dass die Zeit aufgehoben, dass keine Veränderung sei - derjenige Trieb aber, in dem diese beiden Grundtriebe harmonisch verbunden sind, ist - und damit hat Schiller einen folgenschweren Begriff in die Ästhetik eingeführt - der Spieltrieb: "Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen; der Spieltrieb wird also bestrebt sein, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie sein Sinn zu empfangen trachtet." 5 5 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: Friedrich Schiller, Über Kunst und Wirklichkeit. Schriften und Briefe zur Ästhetik, herausgegeben von Claus Träger. Leipzig 1975, S. 309f.

5 Im Spieltrieb vereinen sich so für Schiller Pflicht und Neigung, Vernunft und Notwendigkeit, Begehren und Imagination. Deshalb kann er diesem Begriff die höchste Bestimmung überhaupt geben: "Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt."6 Mit dieser Konzeption hat Schiller die Dimension in der Praxis in die Ästhetik eingeführt und die Kantische Zurücknahme auf den Geschmack und die Urteilskraft transzendiert. Diesem Spiel-Trieb sollte der ästhetische Staat entsprechen, in dem der Mensch dem Menschen "nur als Gestalt erscheinen, nur als Objekt des freien Spiels gegenüberstehen" darf, dem Grundgesetz "Freiheit zu geben durch Freiheit" verpflichtet. 7 Wie problematisch man immer den Begriff des Spieltriebs als gleichermaßen anthropologische wie ästhetische Kategorie und die daran anschließende ästhetische Staatsutopie auch finden mag - die Frage nach dem spielenden Charakter von Kunst wird der Moderne ebenso wenig verloren gehen wie die Versuche, aus dem Ästhetischen eine soziale und politische Praxis zu generieren, die das Schöne nicht nur als Gegenstand der Anschauung, sondern auch als Modell für eine spielerische Neuorganisation der Wirklichkeit in Freiheit werten wird. Damit hat Schiller aber dem Diskurs der Autonomie der Kunst jenen Kontrapunkt entgegengesetzt, der die Entwicklung der modernen Kunst bis auf weiteres begleiten wird: dass Kunst, indem sie sich auf sich konzentriert, über sich hinausweisen muss. Ob damit aber die von Kant im Grunde exponierte Differenz zwischen der Interesselosigkeit des Ästhetischen und den sittlichen Interessen der praktischen Vernunft tatsächlich eingeebnet sein könnte - daran hat wohl auch Schiller mitunter gezweifelt. Wenn aber die These von Immanuel Kant stimmt, dass die Würde des Menschen letztlich darin ihre Wurzel hat, dass jeder Mensch als vernunftbegabtes Wesen sich selbst als Zweck setzen kann und deshalb auch den anderen Menschen nie nur als Mittel, sondern auch als Zweck an sich betrachten muss, dann wird klar, welche Bedeutung diese Erfahrung für eine humane Bildung haben muss. Der Mensch, so formulierte es einmal Karl Marx, ist das einzige Wesen, das alle Dingen ihr "inhärentes Maß" anzulegen weiß, das also auch nach den "Gesetzen der Schönheit" wahrnehmen und produzieren kann.8 Der Zusammenhang zwischen Bildung und Autonomie machte dann auch immer den eigentlichen politischen Kern der neuhumanistischen Bildungsidee aus. Die Forderung, dass allen Menschen zumindest der Zugang zur Bildung möglich gemacht werden müsse, hat nicht 6 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 315 7 Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, S. 371 8 Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844). In. Marx-Engels-Werke (MEW), Erg. Bd. 1, Berlin 1973, S. 517

6 nur den Gedanken zur Voraussetzung, dass man ohne bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten im Wettbewerb nicht bestehen kann; mindestens so wichtig ist, dass nur eine Bildungsidee, die daran festhält, dass etwas um seiner selbst willen geschätzt und geachtet werden kann, die Voraussetzung für eine wechselseitige Anerkennung in Würde ist. Solch eine Erfahrung erlaubt allein die Erfahrung des Schönen. Ein Bildungsbegriff, der sich ganz an der Idee des Nützlichen orientiert, vergisst, dass Menschsein mehr bedeutet, als beschäftigungsfähig zu sein. Und ein Bildungsbegriff, der das Schöne instrumentalisiert, um den jungen Menschen die Orientierung in einer reizüberfluteten Welt zu erleichtern und ihnen Wettbewerbsvorteile einzuräumen, bringt eben diese Menschen um das Schönste, zu dem Menschen fähig sind: Der Hervorbringung und Wahrnehmung des Schönen. Dieses selbst verbietet aber alle weiteren strategischen und didaktischen Funktionalisierung. Denn, um mit Karl Philipp Moritz zu schließen: "Und von sterblichen Lippen läßt sich kein erhabneres Wort vom Schönen sagen als: es ist!" 9 -------- Konrad Paul Liessmann geb. 1953, Professor für Philosophie an der Universität Wien und wissenschaftlicher des Philosophicum Lech. Wichtige Publikationen zum Thema: Philosophie der modernen Kunst (1999); Philosophie des verbotenen Wissens (2000); Ästhetik der Verführung (2005); Theorie der Unbildung (2006); Ästhetische Empfindungen (2008); Schönheit (2009); Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen (erscheint 2010) 9 Moritz, Werke 2, S. 289