Hypertonie Quelle: bmp von Dr. Eva A. Schulte Eine Dünndarmbiopsie zur vollständigen Diagnose ist unerlässlich. PD Dr. Wolfgang Holtmeier Knusprige Sonntagsbrötchen, knackige Cornflakes, leckere Kekse und Kuchen, Bier und Pizza alles tabu für die 18-jährige Kira. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, denn viele Lebensmittel enthalten, wenn auch teilweise nur in Spuren, den Bestandteil, der Kira krank macht: Gluten, der Proteinklebstoff in Weizen, Gerste und Roggen. Kira leidet wie etwa 40 000 andere Deutsche an einer symptomatischen oder Sprue, einer der ältesten beschriebenen chronischen Krankheiten weltweit. In Deutschland liegt die Häufigkeit bei etwa 1 : 2 000. Allerdings gehen wir von einer Dunkelziffer von mindestens 1 : 4 aus, erklärt PD Dr. Wolfgang Holtmeier von der Universitätsklinik in Frankfurt am Main und Mitglied des wissenschaftlichen Beirates der Deutschen gesellschaft (DZG). Denn neben einem typischen symptomatischen Verlauf, der häufiger bei Kleinkindern und Kindern beobachtet wird, sind auch atypische und asymptomatische Krankheitsverläufe besonders bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen möglich. Damit wären hierzulande etwa 160 000 Menschen von beziehungsweise der Erwachsenen-Sprue betroffen [1]. Kira war vor gut 17 Jahren ein ganz typischer Fall. Mit der ersten festen Nahrung und damit auch mit dem ersten Kontakt mit Gluten im Alter von etwa sechs Monaten traten bei Kira alle Leitsymptome für auf: chronische Durchfälle, geblähtes Abdomen, Gewichtsverlust und Wachstumsstörungen. Dünndarmbiopsie, Antikörperuntersuchung und der Ausschluss anderer Ursachen für das Abflachen der Dünndarmmukosa (wie unter anderem eine Infektion mit Rotaviren oder eine Kuhmilchallergie) bestätigten schließlich den Verdacht des behandelnden Kinderarztes. Dabei ist eine Dünndarmbiopsie zur vollständigen Diagnose unerlässlich, betont Holtmeier. Er versteht aber auch, dass gerade ein solcher Eingriff gescheut wird. Antikörperscreenings können eine hilfreiche Voruntersuchung zur Entscheidung für eine Dünndarmbiopsie sein. Für eine gesicherte Diagnose reichen sie allein allerdings nicht aus, gibt der Mediziner zu bedenken [2]. Denn gerade bei Babys seien die Antikörperbestimmungen besonders von Gliadinantikörpern mitunter fehlerhaft und brächten sowohl falsch positive als auch falsch negative Befunde. Deshalb muss eine Biopsie des Duodenums durchgeführt werden, betont Holtmeier. Denn bei einem falsch positiven Befund könnte das für die betreffenden Patienten grundlos eine lebenslange glutenfreie Diät mit allen damit verbunden Einschränkungen für das tägliche Leben bedeuten; bei einem falsch negativen Befund besonders bei Babys und Kleinkindern die Gefahr
irreversibler Wachstumsschäden aufgrund von Malabsorption. Durch das Fehlerpotenzial der Antikörperbestimmungen ist es durchaus möglich, dass die Befunde aus einer Biopsie im Widerspruch zu den Antikörperbefunden stehen. Dies macht die Diagnose der nach wie vor zu einer Herausforderung für den behandelnden Arzt zusätzlich zu den vermehrt bei älteren Kindern und Jugendlichen auftretenden mono- oder oligosymptomatischen Krankheitsverläufen. Umfassende Richtlinien zur Diagnose besonders auch bei widersprüchlichen Befunden von Biopsie und Antikörpern sind unter anderem bei Holtmeier 2005 [2] zu finden. Bei Kira bestand damals kein Zweifel, Biopsie und Antikörper waren beide positiv und nach Aufnahme einer glutenfreien Diät trat eine deutliche Besserung und klinische Erholung ein. Aber für sie bleiben die alltäglichen Leckereien eben ein Leben lang tabu. Denn obwohl die genetischen und umweltbedingten Auslöser und viele der immunpathogenen Mechanismen der Autoimmunerkrankung mittlerweile aufgeklärt sind, ist nicht therapierbar. Vermeidung ist die Strategie der Wahl, denn selbst ungefährliche Ersatzstoffe wie Hafer und Mais enthalten häufig Spuren von Gluten und können somit einen Krankheitsschub auslösen. Die umweltbedingte Komponente Gluten wurde bereits vor mehr als 50 Jahren identifiziert. Es handelt sich dabei um ein Polypeptid in Roggen, Weizen und Gerste, das sich wiederum in zwei Fraktionen, eine alkohollösliche und eine alkoholunlösliche Fraktion unterteilen lässt. Beide können verursachen, doch besonders die alkohollösliche Fraktion Prolamin (Gliadin in Weizen und Roggen) stand lange im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses und ist im Vergleich zu der akoholunlöslichen Fraktion Glutelin deutlich besser charakterisiert. Gliadin ist ein aus etwa 230 Aminosäuren bestehendes Polypeptid mit wiederkehrenden Faltungsmotiven und einem hohen Anteil der Aminosäuren Prolin und Glutamin, wobei besonders die Glutaminreste eine entscheidende Rolle bei der Initiation der inflammatorischen Prozesse im Dünndarm spielen. Genetik der Die glutensensitive Enteropathie hat eine starke genetische Komponente, denn fast alle patienten weisen einen von zwei unterschiedlichen Genotypen eines Gens auf. Dieses Gen kodiert eine ganz bestimmte Klasse humaner Oberflächenantigene, sogenannte HLAs (engl.: human-leucocyte-antigen), die für die Immunreaktion verantwortlich sind. Insgesamt 90 bis 95 Prozent aller patienten weisen den HLA-DQ2-Genotyp auf, die verbleibenden fünf bis zehn Prozent den HLA-DQ8-Genotyp. Bei den von diesen Genen kodierten Proteinen handelt es sich um Glykoproteine, die zusammen mit Proteinfragmenten des Gliadins im submukosalen Gewebe der Duodenalfalten einen HLA-Antigen-Komplex bilden, der wiederum von T-Lymphozyten erkannt wird und deren Stimulation und damit eine Immunantwort initiiert. Allerdings werden diese Genotypen auch bei bis zu 20 Prozent der gesunden Bevölkerung gefunden [3]. Damit ist das Vorhandensein eines HLA-DQ2/8-Genotyps zwar ein notwendiger, aber noch kein ausreichender Parameter für das Auftreten von, verdeutlicht Holt- 9 Abb. 1 a-c Diese Getreidearten sind erlaubt a: Sojabohnen Quelle: USDA/Scott Bauer b: Hirse Quelle: USDA/ Peggy Greb c: Mais Quelle: USDA/Keith Weller
10 Abb. 2: Schematische Darstellung der immunpathogenen Prozesse der Quelle: mod. nach [4] Mangelernährung ist ein nicht zu unterschätzendes Risiko für patienten. meier. Das müsse bei genetischen Screenings berücksichtigt werden. Was letztendlich aber für die Initialzündung der Glutenunverträglichkeit in einem prädisponierten Menschen verantwortlich sei, könne man derzeit nur vermuten, gesteht der Mediziner. Eine Hypothese sieht eine virale Infektion als Auslöser für, aber wir bewegen uns derzeit noch im Spekulativen. Entstehung der entzündlichen Prozesse Was allerdings nach dieser Initialzündung, nach der das Immunsystem Gliadin plötzlich als fremd einstuft, passiert, haben die Wissenschaftler mittlerweile schon gut analysiert. Abbildung 2 gibt einen schematischen Überblick über den derzeitigen Stand der Wissenschaft [4]. So weiß man mittlerweile, dass die Polypeptidsequenz des Gliadins zwischen den Aminosäuren 56-75 einen immunogenen Abschnitt enthält. Neben dieser Sequenz gibt es noch eine Reihe weiterer Polypeptidsequenzen, die gleichermaßen zur Aktivierung des Immunsystems führen können. Nach dem Einwandern des Gliadins in den submukosalen Raum der Duodenalfalten trifft dieses auf die ubiquitär in allen Geweben vorkommende Transglutaminase (tissue transglutaminase, ttg). Die Transglutaminase desaminiert unter Bildung von Glutamat die Aminosäure Glutamin, die in der immunogenen Region des Gliadins häufig vorkommt. Als Resultat dieser Desaminierung ist das Gliadin-Polypeptid mehrfach negativ geladen. Dieses gehäufte Auftreten negativer Ladungen ist die Ursache dafür, dass Gliadin mit dem Oberflächenantigen HLA- DQ2/8 einen HLA-Antigenkomplex ausbildet, der von einer antigentragenden Zelle den T- Lymphozyten (auch T-Helferzellen) präsentiert wird. Man geht davon aus, dass die Desaminierung eines spezifischen Glutamins genügt, um eine Bindung mit HLA-DQ2/8 herbeizuführen und die Aktivierung der Lymphozyten zu starten. Die aktivierten T-Helferzellen setzen ihrerseits eine Reihe von Immunantworten in Gang. So werden unter anderem proinflammatorische Zytokine und TNFα freigesetzt und B-Zellen aktiviert, die wiederum spezifische Antikörper gegen Gliadin und ttg freisetzen. All diese Faktoren zusammen lösen die umfassenden entzündlichen Prozesse im submukosalen Gewebe des Duodenums aus, die letztlich zu dem für die typischen Erscheinungsbild der villösen Atrophie führen. Trotz des gewachsenen Grundlagenwissens
11 zur ist Heilung dennoch nicht in Sicht und eine glutenfreie Ernährung bis jetzt die einzige wirksame und erfolgreiche Therapieoption. Allerdings ist ein Leben ohne Weizen, Gerste und Roggen auch mit großen Problemen verbunden, die man knapp unter Kosten, Komfort, Komplikationen und Compliance zusammenfassen kann. Denn glutenfreie Produkte sind teuer und waren bis vor einiger Zeit fast ausschließlich im Fachhandel zu beziehen. Zudem kann bei der radikalen Umstellung der Ernährung eine Mangelversorgung an bestimmten Vitaminen und Spurenelementen und den damit verbundenen medizinischen Komplikationen nicht ausgeschlossen werden. Und wer jemals ein glutenfreies Brötchen probiert hat, kann nachvollziehen, wenn Wolfgang Holtmeier über Probleme bei der Compliance der Patienten spricht. Neue Therapieansätze Wissenschaftler verfolgen zwei unterschiedliche Ansätze, um der Krankheit Herr zu werden (Tabelle 1). Dabei sollen entweder die entsprechenden Getreidesorten oder aber die Immunantwort des Körpers gegen das in den gängigen Getreidearten enthaltene Gluten modifiziert werden. Im ersten Fall wird unter anderem versucht, die immunogenen Proteinsequenzen des Gliadins durch Genmanipulation zu beseitigen. Aufgrund der relativ komplizierten 3- D-Struktur der Polypeptide wartet auf diesem Gebiet allerdings viel Arbeit. Interessanter ist dahingegen die Tatsache, dass einige sehr alte Vorläuferformen unseres heutigen Weizens ein Glutenpeptid enthalten, dass T-Zelllinien nicht zu stimulieren vermag [5, 6]. Eine gezielte Kultivierung und Reaktivierung dieser alten Weizensorten könnte eine Alternative für patienten darstellen. In einem anderen Ansatz versuchen Forscher das Gluten im Getreide vor dem Verzehr durch fremde Enzyme zu zerstören, sodass die entsprechenden immunogenen Proteinsequenzen nicht mehr vorhanden sind. Solche Enzyme könnten dann entweder als Additiv zum Essen hinzu gegeben oder als Medikament eingenommen werden. Dass ein solcher enzymatischer Ergänzungscocktail Erfolg versprechend ist, wurde bereits belegt. So zeigten Shan und Kollegen, dass ein 33 Aminosäuren langer Gliadinabschnitt, in dem sich auch der immunogene Teil des Proteins befand, nach der Verdauung durch eine bakterielle Endoprotease seine krankheitsauslösenden Fähigkeiten verloren hatte [7]. Die unter anderem von der Celiac Sprue Research Foundation finanzierten Studien der Arbeitsgruppe um Dr. C. Khosla bestätigen diese Ergebnisse. Die Wissenschaftler haben einen Cocktail bakterieller Verdauungsenzyme zur Unterstützung des menschlichen Verdauungsapparates in vitro eingesetzt und damit beachtliche Erfolge beim Abbau der schädlichen Gliadinsequenzen erzielt [8, 9, 10]. Der Ansatz von Khosla und Kollegen ist eine viel versprechende und Hoffnung machende Alternative zu den bisherigen Konzepten der therapie, bestätigt Wolfgang Holtmeier. Vor zu großer Euphorie sei jedoch gewarnt. Es gäbe sowohl hinsichtlich der Wirkung wie auch bei der Herstellung des enzymatischen Cocktails noch einige Fragen, betont der Mediziner. So wird der verwendete Enzymmix aus Endoproteasen derzeit mit einem sehr aufwendigen und kostspieligen Herstellungsverfahren produziert, was einen breiten Einsatz schon aus Kostengründen sehr erschweren wird. Außerdem sei es fraglich, wie viel Gluten wirklich von den Enzymen abgebaut werden kann. Und das kann ein nicht zu unterschätzendes Restrisiko für den Patienten bedeuten, unterstreicht Holtmeier. Trotz dieser Fragen laufen in den USA bereits die ersten kleinen Studien an Freiwilligen. Aber sowohl für die USA wie Enzymatische Vorverdauung als Therapie der Zukunft? Überblick über mögliche Therapiestrategien für Tabelle 1 Modifizierung der Getreidesorten Entwicklung von Getreidesorten ohne immunogene Glutensequenzen bzw. Rückgriff auf alte bereits existierende Getreidearten Vorverdauung von Gluten durch Enzymcocktail Modifizierung der Immunantwort Blockierung von Rezeptor-Liganden Interaktion, z.b. zwischen T-Zellrezeptor und HLA-Antigenkomplex Blockade der Transglutaminsase
12 Abb. 3 a-c: Diese Getreidearten sind nicht erlaubt a: Weizen Quelle: photocase.com/1100 b: Gerste Quelle: photocase.com/acheran c: Roggen Quelle: photocase.com/akileb Vollständige Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirates der DZG: http://www.dzgonline.de/index. php?id=211&lang=de auch für Deutschland wird es noch einige Jahre dauern, bis ein solcher Enzymcocktail auf den Markt kommen könnte, verdeutlicht der Frankfurter Mediziner. Sind Eingriffe ins Immunsystem eine Option? Noch weiter von einer Marktreife entfernt ist der Ansatz, die gluteninduzierte Immunantwort des Körpers zu modifizieren [4]. So wird darüber nachgedacht, die Rezeptor-Liganden- Interaktion unter anderem zwischen dem HLA- Antigen-Komplex aus HLA-DQ2/8 und dem desaminierten Gliadin mit den entsprechenden T-Zellrezeptoren zu unterbinden. In einem anderen Ansatz wird die Transglutaminase ins Visier genommen in der Hoffnung, so die Bildung von desaminierten Gliadinfragmenten zu unterbinden. Beide Ansätze stecken allerdings noch in den Kinderschuhen. Zudem gibt Wolfgang Holtmeier zu bedenken, dass die Manipulation des menschlichen Immunsystems immer mit großen Vorbehalten betrachtet werden müsse. So ein Eingriff in die komplizierten und komplexen Mechanismen der Immunantwort könnte unvorhersehbare Probleme hervorrufen, die bei einer durch Diät behandelten nie zu erwarten wären. Deshalb werden Kira und alle anderen patienten in näherer Zukunft auch weiterhin ohne Roggen-, Weizen- und Gersteprodukte auskommen müssen. Literatur 1. Henker J et al.: Prävalenz der asymptomatischen bei Kindern und Erwachsenen in der Region Dresden. Dtsch Med Wochenschr. 2002 Jul; 127: 1511-1515 2. Holtmeier W: Diagnostik der /Sprue. Z. Gastroenterol 2005 Nov; 43: 1243-1252 3. Holtmeier W, Caspary WF: Celiac disease. Orphant J Rare Dis. 2006; 1:3 4. Hourigan CS: The molecular basis of coeliac disease. Clin Exp Med. 2006 Jun; 6: 53-39 5. Molberg O et al.: Mapping of gluten T-cell epitopes in the bread wheat ancestors: implications for celiac disease. Gastroenterology 2005 Feb; 128: 393-401 6. Spaenij-Dekking L et al.: Natural variation in toxicity of wheat: potential for selection of nontoxic varieties for celiac disease patients. Gastroenterology 2005 Sep; 129: 797-806 7. Shan L et al.: Structural basis for gluten intolerance in celiac sprue. Science 2002 Sep; 297: 2275-2279 8. Bethune MT et al.: Heterologous expression, purification, refolding, and structural-functional characterization of EP-B2, a self-activating barley cysteine endoprotease. Chem Biol. 2006 Jun; 13: 637-647 9. Gass J et al.: Effect of barley endoprotease EP-B2 on gluten digestion in the intact rat. J Pharmacol Exp Ther. 2006 Sep; 318: 1178-1186 10. Siegel M et al.: Rational design of combination enzyme therapy for celiac sprue. Chem Biol 2006 Jun; 13: 649-658 Weiterführende Informationen Celiac Sprue Research Foundation www.celiacsprue.org Deutsche gesellschaft e.v. www.dzg-online.de -Treff www.zoeliakie-treff.de