Aus der Abteilung für Humangenetik der Ruhr-Universität Bochum Direktor: Prof. Dr. med. J.T. Epplen

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Transkript:

Aus der Abteilung für Humangenetik der Ruhr-Universität Bochum Direktor: Prof. Dr. med. J.T. Epplen Evaluation der humangenetischen Beratung bei HNPCC-Betroffenen und Risikopersonen Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizin einer Hohen Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum vorgelegt von Andrei Generalow aus Donezk 2005

Dekan: Referent: Korreferent: Prof. Dr. med. G. Muhr Prof. Dr. J. T. Epplen Prof. Dr. rer. nat. B. Eiben Tag der Mündlichen Prüfung: 25.10.2005

Inhaltsverzeichnis Seite 1. Einleitung 4 1.1. Kolorektale Karzinome und HNPCC 4 1.1.1. Epidemiologie und Inzidenz 4 1.1.2. HNPCC: Geschichte der Entdeckung 5 1.1.3. HNPCC: Molekulargenetische Grundlagen 5 1.1.4. HNPCC: klinische Merkmale 6 1.2. Screening und familiäres Risiko 7 1.2.1. Amsterdam-Kriterien 7 1.2.2. Bethesda-Kriterien 8 1.2.3. Strategien zur HNPCC-Abklärung 8 1.3. Genetische Beratung bei HNPCC und Spektrum der molekulargenetischen Diagnostik 9 1.4. Empfohlene Vorsorgeuntersuchungen 12 1.5. Fragestellungen 13 2. Material und Methoden 15 2.1. Untersuchungskollektiv und der Interviewablauf 15 2.2. Methodik 15 2.2.1. Standardisierter Fragebogen 15 2.2.2. Angewandte statistische Testverfahren 17 2.2.3. Statistische Auswertung 17 3. Ergebnisse 19 3.1. Soziodemographische Daten und Stammbaumkriterien 19 3.2. Einschätzung der Beratungssituation (Fragestellung 1; Fragen 8-10) 20 3.3. Entscheidung für oder gegen Gentests (Fragestellung 2) 22 3.3.1. Beeinflussung der Testwahrnehmung durch Gruppen im sozialen Umfeld (Fragen 12-17) 22 3.3.2. Beeinflussung der Testwahrnehmung durch Personen aus dem medizinischen Umfeld (Fragen 18-26) 25 1

3.3.3. Individuelle Risikoeinschätzung (Fragen 27 und 29) 26 3.3.4. Mögliche Auswirkungen der genetischen Tests (Fragen 53-67) 28 3.3.5. Beweggründe für oder gegen einen Gentest (Fragen 68-73) 31 3.3.6. Informationsweitergabe innerhalb der Familie (Fragen 74-79) 33 3.4. Vorsorgeverhalten nach genetischer Beratung (Fragestellung 3) 33 3.4.1. Inanspruchnahme und Regelmäßigkeit der Darmspiegelung vor und nach genetischer Beratung (Fragen 30-39) 33 3.4.2. Inanspruchnahme und Regelmäßigkeit der Magenspiegelung vor und nach der genetischen Beratung (Fragen 40-42) 37 3.4.3. Inanspruchnahme und Regelmäßigkeit der gynäkologischen Vorsorge 38 3.4.4. Inanspruchnahme und Regelmäßigkeit der Urinzytologie und Abdomensonographie (Fragen 48-52) 39 4. Diskussion 42 4.1. Diskussion des methodischen Untersuchungsansatzes 42 4.2. Einschätzung der interdisziplinären Beratungssituation (Fragestellung 1) 42 4.3. Entscheidung für oder gegen den Gentest (Fragestellung 2) 43 4.4. Vorsorgeverhalten nach genetischer Beratung (Fragestellung 3) 48 5. Zusammenfassung 51 Literatur 53 Anhang 59 Danksagung 67 Lebenslauf 68 2

Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen Abb. CFS df DNA et al. FAP Abbildung Cancer Family-Syndrome / Krebs Familien-Syndrom degrees of freedom / Freiheitsgrade desoxyribonucleic acid / Desoxyribonukleinsäure et alii / und andere familial adenomatous polyposis / familiäre adenomatöse Polyposis HNPCC Hereditary Non-Polyposis Colorectal Cancer / erbliches nicht-polypöses kolorektales Karzinom M MLH MSH MSI, MIN N mean / Mittelwert micronuclear linker histone Melanozyten-stimulierendes Hormon Micro Satellite Instability / Mikrosatelliteninstabilität number / Anzahl % Prozent P SD Sig. Tab. probability / Wahrscheinlichkeit standard deviation / Standardabweichung Signifikanz Tabelle 3

Einleitung 1. Einleitung 1.1. Kolorektale Karzinome und HNPCC 1.1.1. Epidemiologie und Inzidenz Das kolorektale Karzinom stellt nach Bronchial- und Mammakarzinom die dritthäufigste Tumorart in Deutschland dar [16]. Die Inzidenz kolorektaler Karzinome, also die Wahrscheinlichkeit, daß eine zufällig ausgewählte Person der Population innerhalb einer zeitlich begrenzten Periode an dieser Krankheit neu erkrankt [39], hat sich von 1960 bis 1980 verdoppelt. Im Jahr 1996 verstarben in der Bundesrepublik 30.460 Patienten an einem kolorektalen Karzinom, das somit in der Krebs-Todesfall-Statistik, nach Bronchialkarzinom beim Mann und Mammakarzinom bei der Frau, an zweiter Stelle steht [68, 66]. Die individuelle Lebenserwartung verkürzt sich beim Kolonkarzinompatienten um durchschnittlich 13,3 Jahre. Die Mortalitätsrate oder Sterbeziffer in Deutschland übersteigt das Mittel der europäischen Länder [68]. 1997 sind nach Schätzungen des Robert-Koch-Instituts über 50.000 Neuerkrankungen in Deutschland aufgetreten [6]. In den Vereinigten Staaten verstarben im Jahr 2000 56.300 Patienten an einem kolorektalen Karzinom, und 130.200 Neuerkrankungen wurden registriert [28]. Weltweit wurden 1990 782.000 Neuerkrankungen festgestellt. Ernährungs- und Umweltfaktoren spielen bei der Entstehung von kolorektalen Karzinomen eine wichtige Rolle [57, 66]. Betroffen sind meistens Menschen in höherem Lebensalternur 5% der Patienten sind jünger als 40 Jahre. Ab diesem Alter tritt das kolorektale Karzinom jedoch verstärkt auf und hat seinen Häufigkeitsgipfel im 65. Lebensjahr. 70% der kolorektalen Karzinome werden zwischen dem 50. und 80. Lebensjahr festgestellt, und das Lebensrisiko, an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken, beträgt in Deutschland zirka 6% [66, 42]. Etwa 5% bis 10 % aller kolorektalen Karzinome beruhen auf einer autosomal-dominant erblichen Krebsdisposition; die Vererbung des Erkrankungsrisikos ist also nicht Geschlechtschromosomen gebunden. Für die Krebsdisposition ist im wesentlichen das erbliche nicht-polypöse kolorektale Karzinom (Hereditary Non-Polyposis Colorectal Cancer, HNPCC) verantwortlich, bei dem keine polypenähnliche Wucherungen der Darmschleimhaut auftreten. Das HNPCC stellt die häufigste Form des erblichen Kolorektalkarzinoms dar; etwa 80% der erblichen kolorektalen Karzinome lassen sich dem HNPCC zuordnen [5, 77, 45]. Es wird geschätzt, daß bis zu 5% aller kolorektalen 4

Einleitung Karzinome, d.h. > 2000 jährliche Neuerkrankungen in Deutschland, auf diese vererbte Form zurückzuführen sind. 1.1.2. HNPCC: Geschichte der Entdeckung Das HNPCC-Syndrom wurde zuerst 1913 von Aldred Warthin, einem amerikanischen Pathologen, beschrieben [79]. Eine Schneiderin erzählte ihm, daß sie sicherlich in jungem Alter aufgrund eines Dickdarmtumors oder eines Tumors im Bereich der Fortpflanzungsorgane sterben würde. Als Warthin ihre Aussage genauer untersuchte, sagte sie, daß die meisten ihrer Familienmitglieder an diesen Tumoren verstorben sind. Sie starb schließlich, wie vorhergesagt, an einem Endometriumkarzinom. Warthin veranlasste dann die Familie genauer zu untersuchen. Erst als 1966 Lynch zwei weitere Familien identifizierte, die eine erhöhte Frequenz an Tumorerkrankungen aufwiesen und dieses Phänomen als Cancer Family-Syndrome (CFS) bezeichnete, wurde der familiären Häufung von Tumorerkrankungen vermehrt Bedeutung zugemessen [50]. Lynch verfolgte seine Untersuchungen und identifizierte neben einer polypösen die nichtpolypöse Form, die für das Cancer Family-Syndrome verantwortlich ist. International setzte sich die Bezeichnung HNPCC durch. The descriptive term was chosen, to emphazise the hereditary nature of the syndrome and to seperate it from the polyposis syndromes. [51, S. 105]. Erst später wurde das HNPCC weiter differenziert in Lynch I und Lynch II-Syndrom [47, 48]. 1993 wurde die erste genetische Veränderung im Rahmen des HNPCC-Syndroms identifiziert: Peltomaki et al. identifizierten Mutationen im MSH2 Gen auf Chromosom 2 [62]. Kurz danach wurde das MLH1-Gen auf dem Chromosom 3 und im folgenden noch drei weitere Gene, MSH6, PMS1 und PMS2, identifiziert [1, 32, 58, 41]. 1.1.3. HNPCC: Molekulargenetische Grundlagen Die Ursache für die genomische Instabilität bei HNPCC-Patienten liegt in einer Keimbahnmutation in einem der DNA-Reparatur-Gene, die für Proteine des DNA- Fehlpaarungs-Reparatur-Systems (mismatch repair system) kodieren [21, 60, 7]. Dieses System identifiziert und beseitigt Basenfehlpaarungen im DNA-Doppelstrang. Bei einem 5

Einleitung Defekt in diesem System werden Fehler, die bei der DNA-Replikation auftreten, nicht mehr erkannt [33]. Es kommt zu einer Anhäufung von Mutationen. Dabei kann es auch zu Mutationen in Protoonkogenen kommen, die bei der Vermehrung und Differenzierung von Zellen eine wichtige Funktion haben und bei Entartung krebsauslösend wirken. In Folge der Mutationen wird dann die Adenom-Karzinom-Sequenz beschleunigt [46, 62]. Als genetische Ursache für das HNPCC sind soweit bislang bekannt - im wesentlichen drei Gene verantwortlich, die im Falle einer Keimbahnmutation eine familiäre Häufung von Dickdarmkarzinomen bedingen: MLH1, MSH2, MSH6 [4, 76]. Die häufigsten Mutationen werden in den MLH1- und MSH2-Genen gefunden [1, 45, 32]. Weiterhin sind zwei Gene namens PMS1 und PMS2 beschrieben. Die Produkte dieser Gene stellen ebenfalls DNA- Reparaturenzyme dar [46, 51]. 1.1.4. HNPCC: klinische Merkmale HNPCC zeichnet sich im wesentlichen durch folgende klinische Charakteristika aus: 1) Frühes Manifestationsalter: In HNPCC-Familien sind Betroffene bei der Erstdiagnose durchschnittlich 40-45 Jahre alt [6]. Allerdings gibt es innerhalb einer Familie oftmals große Unterschiede im Erkrankungsalter. Diese Tatsache deutet darauf hin, daß auch bei Vorliegen einer Keimbahnmutation in einem Reparaturgen der klinische Verlauf durch weitere Faktoren modifiziert wird. Diskutiert werden Umweltfaktoren (z.b. Ernährung) oder weitere Gene [45, 57]. 2) Tumorerkrankungen mehrerer Familienmitglieder: Der Vererbungsmodus ist häufig mit einem autosomal dominanten Erbgang mit unvollständiger Penetranz vereinbar. Es werden zwei klinische Verlaufsformen unterschieden [58, 61]: a) Lynch I-Syndrom: In diesen Familien treten bei betroffenen Familienmitgliedern ausschließlich kolorektale Karzinome auf. b) Lynch II-Syndrom: In diesen Familien wird neben dem kolorektalen Karzinom die Häufung extrakolonischer Tumormanifestationen beobachtet: Endometrium, Dünndarm, ableitende Harnwege. 3) Tumorlokalisation: Die bevorzugte Tumorlokalisation ist im rechten Hemikolon [13]. 6

Einleitung 1.2. Screening und familiäres Risiko 1.2.1. Amsterdam-Kriterien Die Diagnose auf das Vorliegen eines HNPCC-Syndroms wird bei Tumorpatienten durch deren betreuende Ärzte gestellt. Alternativ kann bei gesunden Personen mit einer positiven Familienanamnese das Vorliegen von HNPCC in der Familie im Rahmen der humangenetischen Beratung vermutet werden. Lynch et al. äußern dazu Only when the particular mutation has been documented and found to segregate within an HNPCC family will a positive or negative test result be reliable and helpful for predicting the lifetime cancer risk of individual family members. [45, S. 305] Als Grundlage für die klinische Diagnose wurden 1990 die sog. Amsterdam-Kriterien definiert [8]. Diese Amsterdam-Kriterien (alle Kriterien müssen erfüllt sein) liegen vor, wenn in der Familie - mindestens drei Familienangehörige aus zwei aufeinanderfolgenden Generationen ein kolorektales Karzinom aufweisen, wobei einer von ihnen mit den beiden anderen erstgradig verwandt sein muß; - mindestens ein Betroffener mit der Diagnose eines kolorektalen Karzinoms vor dem 50. Lebensjahr vorhanden ist; - eine FAP (familiäre adenomatöse Polyposis) ausgeschlossen ist. Da die Amsterdam-Kriterien die extrakolonische Manifestationen primär nicht berücksichtigen, wurden sie um diese Kriterien später erweitert [4, 29]. In den sogenannten Amsterdam II-Kriterien, werden neben den kolorektalen Karzinomen in gleichwertiger Weise auch Karzinome des Endometriums, des Dünndarms und der ableitenden Harnwege dem Syndrom zugerechnet [27]. Amsterdam II-Kriterien (alle genannten Kriterien müssen erfüllt sein) liegen vor, wenn - mindestens drei Familienangehörige mit dem histologisch gesicherten kolorektalen Karzinom oder einem Karzinom des Endometriums, Dünndarms oder ableitenden Harnwegen vorhanden sind und einer davon mit den beiden anderen erstgradig verwandt ist; - wenigstens zwei aufeinanderfolgende Generationen betroffen sind; - mindestens ein Patient mit der Diagnose eines kolorektalen Karzinoms vor dem 50. Lebensjahr vorhanden ist; - eine FAP ausgeschlossen ist. 7

Einleitung 1.2.2. Bethesda-Kriterien Nicht alle HNPCC-Familien können durch die strengen Amsterdam-Kriterien identifiziert werden. Das breite Spektrum der Organlokalisationen, kleine Familien und mangelnde Kenntnis der Todesursache engster Familienangehöriger, sind Faktoren, die das Erkennen der HNPCC-Familien auch bei sorgfältigster Anamneseerhebung erschweren [58]. Der Personenkreis, bei dem - auch bei nicht erfüllten Amsterdam I- oder Amsterdam II-Kriterien - ein HNPCC-Syndrom vorliegen könnte, wird durch die im folgenden aufgeführten Bethesda-Kriterien festgelegt (mindestens ein Kriterium muß erfüllt sein): - Personen mit Krebserkrankungen in Familien, die die Amsterdam-Kriterien erfüllen; - Personen mit 2 synchronen bzw. metachronen Kolon-/Rektumkarzinomen oder HNPCCassoziierten Tumorerkrankungen; - zwei betroffene Familienmitglieder, erstgradig verwandt mit Kolon- /Rektumkarzinom und/oder HNPCC-assoziierter Tumorerkrankung (einer <45 Jahre) und/oder Adenom des Kolons oder Rektums vor dem 40. Lebensjahr; - Personen mit rechtsseitigem, histologisch undifferenziertem kolorektalem Karzinom vor dem 45. Lebensjahr; - Personen mit kolorektalem Karzinom vom Siegelring-Zell-Typ vor dem 45. Lebensjahr; - Personen mit Kolon-/ oder Endometriumkarzinom vor dem 45. Lebensjahr; - Personen mit einem Adenom vor dem 40. Lebensjahr [8, 27]. 1.2.3. Strategien zur HNPCC Abklärung Die HNPCC-Abklärung umfasst mehrere Schritte [11]. Die Familienanamnese muß genauestens erhoben werden. Das geschieht meistens bereits während eines ärztlichen Beratungsgesprächs. Besteht der HNPCC-Verdacht, kann einem Ratsuchenden die genetische Beratung angeboten werden [57]. Im humangenetischen Beratungsgespräch werden die vorgegebenen Eingangskriterien (Amsterdam bzw. Bethesda) überprüft. Wichtig dabei ist die Stammbaumanalyse des Ratsuchenden [37]. Erläuterung sowohl einer genetischen Disposition, des persönlichen Erkrankungsrisikos sowie Möglichkeiten molekulargenetischer Diagnostik als auch der Rolle einer risikoadaptierten Tumor Vorund Nachsorge sind im Gespräch unerläßlich. Sind die HNPCC-Kriterien erfüllt, ist die Bestätigung der Diagnose anhand der molekulargenetischen Diagnostik möglich [30, 49, 8

Einleitung 61]. Wird diese in Anspruch genommen, erfolgt ein zusätzliches Beratungsgespräch mit den Betroffenen oder ratsuchenden Familienmitgliedern nach Abschluß der molekulargenetischen Untersuchung. Zusätzlich wird noch eine psychoonkologische Beratung angeboten, da psychische Faktoren vor allem das präventive Verhalten und die Krankheitsverarbeitung wesentlich mitbedingen [15, 59, 69]. 1.3. Genetische Beratung bei HNPCC und Spektrum der molekulargenetischen Diagnostik Die Deutsche Krebshilfe fördert seit 1999 sechs HNPCC-Beratungszentren an Universitätskliniken [38]. Diese Zentren befinden sich: an der Ruhr-Universität-Bochum, im Universitätsklinikum Bonn, Universitätsklinikum Dresden, Universitätsklinikum Düsseldorf, Universitätsklinikum Heidelberg und im Universitätsklinikum München. In diesen sechs klinischen Zentren besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen Internisten, Humangenetikern, Chirurgen, Pathologen und Psychologen, um eine optimale Betreuung für Patienten mit erblichem Dickdarmkrebs und deren Familien zu gewährleisten. Mehrere Berater aus verschiedenen Disziplinen sind beim Beratungsgespräch anwesend und die Gesprächspartner für die Ratsuchenden [11]. Das Beratungsgespräch setzt sich in der Regel aus folgenden Teilen zusammen: 1. Anamneseerhebung und Klärung der persönlichen Fragestellung; 2. Stammbaumerhebung mit Diagnosestellung, Nachweis der HNPCC-Kriterien; 3. Information zu den genetischen Grundlagen von HNPCC; 4. Information zur molekulargenetischen Diagnostik und Besprechung persönlicher Gesichtspunkte im Hinblick auf mögliche Gentests; 5. Information über die empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen. Eine familientypische Genmutation erlaubt, gesunde Anlageträger (präsymptomatische Testung) zuverlässig zu erfassen und diese geeigneten Vorsorge- und Präventionsmassnahmen zuzuführen [63, 64]. Andererseits kann bei Familienmitgliedern, welche die krankheitsverursachende Mutation nicht geerbt haben, auf zeit- und kostenintensive Screening-Untersuchungen verzichtet werden [29, 57]. Die psychologische Wirkung der humangenetischen Beratung unterstützt dieses Vorgehen [54, 20]. Bei gesunden Anlageträgern zeigen sich keine negativen Folgen bzgl. Depression, 9

Einleitung Ängstlichkeit, Intrusion, Vermeidung und Stress. Familienmitglieder ohne die krankheitsverursachende Mutation profitieren sogar in diesen psychischen Merkmalen von der Beratung. Der Ablauf des HNPCC-Screenings entsprechend dem Vorgehen im Bochumer Beratungszentrum ist in der folgenden Abbildung 1 dargestellt. Familienanamnese Humangenetische Beratung Klinische Diagnose HNPCC Vorsorgeempfehlung Genetische Diagnostik positiv Immunhistochemie Keimbahnmutationsanalyse Mutation nachweisbar MSI-Analyse negativ Ausschluss HNPCC Mutation nicht nachweisbar Gleichzeitige psychologische Betreuung HNPCC prädiktive Tests möglich HNPCC z.z. keine prädiktiven Tests möglich Abb. 1 Ablauf des HNPCC-Screening 10

Einleitung Die molekulargenetische Untersuchung stützt sich zunächst auf Mikrosatellitenanalyse und immunhistochemische Untersuchung von Tumorgewebe sowie die Mutationsanalyse [61]. Die Diagnostik ist komplex, da Veränderungen in einem von mindestens fünf verschiedenen Genen auftreten können und bei fast jeder HNPCC-Familie eine andere Mutation vorliegt. Um die Mutationssuche effizienter zu gestalten, ist es sinnvoll, vorher eine Untersuchung auf Mikrosatelliteninstabilität (MSI) am Tumorgewebe der Betroffenen durchzuführen. Grady betont die diagnostische Notwendigkeit der Untersuchung auf MSI: The recognition of MSI in the tumors occur in HNPCC families not only led to the discovery of the genes that cause HNPCC but also led to the use of MSI diagnostically to identify suspected HNPCC families that are likely to carry germline mutations in MLH1 or MSH2. [27, S.1582-1583]. Mikrosatelliten sind simple repetitive DNA-Sequenzen, die über das ganze Genom verteilt sind. Die DNA-Polymerase ist bei den repetitiven Sequenzen der Mikrosatelliten für Replikationsfehler sehr anfällig. Diese Fehler werden in Tumoren mit defizienter DNA-Reparatur nicht mehr korrigiert. Das Auftreten von neuen zusätzlichen Allelen im Tumor, verglichen zum Normalgewebe, wird deshalb als Mikrosatelliteninstabilität bezeichnet. Wenn Mikrosatelliteninstabilität im Tumor nachweisbar ist, wird die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Mutation in einem der DNA- Fehlpaarungs-Reparatur-Gene deutlich erhöht [8]. Dieses Vorgehen gilt vor allem für Patienten, die aufgrund der Bethesda-Kriterien auffällig wurden, empfiehlt sich aber auch für Patienten aus Familien, die die Amsterdam-Kriterien I oder II erfüllen, sofern Tumorgewebe verfügbar ist [30, 21, 81]. Des weiteren können sich daraus auch therapeutische Konsequenzen ergeben, da mismatch repair-defiziente kolorektale Karzinome gegenüber bestimmten alkylierenden Chemotherapeutika häufig resistent sind [30]. In den letzten Jahren sind einige neue Substanzen für die Chemotherapie des kolorektalen Karzinoms entwickelt worden. Zu dem schon seit längerer Zeit bekannten 5- Fluorouracil sind zum Beispiel Oxaliplatin und Irinotecan hinzugekommen [66]. Tumore mit Mikrosatelliteninstabilität werden speziell immunhistochemisch untersucht. Der immunhistochemische Nachweis der Proteine MLH1, MSH2 und MSH6 gibt einen Hinweis darauf, ob die entsprechenden Proteine in den Tumorzellen weiterhin gebildet werden oder ausgefallen sind [8, 27]. Schließlich wird das Gen des defizienten Proteins durch Sequenzanalyse auf das Vorliegen einer Keimbahnmutation (in den DNA-Reparatur- Genen) anhand von Blutzellen untersucht [81, 33]. Gelingt es, die familientypische Mutation in diesen Genen aufzudecken, ist die genetische Anlage gesichert und die 11

Einleitung prädiktive Testung weiterer Familienmitglieder möglich. Die Bereitschaft zur Teilnahme an Vorsorgeuntersuchungen hängt vom Ergebnis der genetischen Tests ab, wobei positiv getestete Personen eher präventives Verhalten zeigen [40, 35, 10]. 1.4. Empfohlene Vorsorgeuntersuchungen Die Prognose von Tumorerkrankungen, die in HNPCC-Familien gehäuft auftreten, wird durch gezielte Vorsorge deutlich verbessert [5, 20]. Deshalb ist eine regelmäßige Vorsorge bzw. Früherkennung notwendig. Den HNPCC-Patienten und Risikopersonen, bzw. gesicherten Anlageträgern, wird ein spezifisches Programm zur Krebsvorsorge und Früherkennung empfohlen. Dieses umfasst die in der nachfolgenden Tabelle aufgeführten Untersuchungen [27, 5, 61]. Tab. 1 Vorsorgeuntersuchungen für HNPCC-Patienten bzw. Risikopersonen Alter Untersuchung Frequenz ab dem 25. Lebensjahr (bzw. 5 Jahre vor dem frühesten Erstmanifestations- Alter in der Familie) Körperliche Untersuchung Abdomensonographie Komplette Koloskopie Gynäkologische Untersuchung auf Endometrium- und Ovarialkarzinom, einschließlich transvaginaler Sonographie Urinzytologie Ösophago- Gastro- Duodenoskopie (nur bei familiär gehäuften Magenkarzinomen) 1 x jährlich 1 x jährlich 1 x jährlich 1 x jährlich 1 x jährlich 1 x jährlich Eine strukturierte Vorsorge verbessert wesentlich die Prognose von Risikopersonen. Das zeigt, zum Beispiel, eine Studie aus Finnland: durch regelmäßige Koloskopien, die alle 3 Jahre durchgeführt worden sind, wurde das Risiko für kolorektale Karzinome bei HNPCC- Anlageträgern um 56% gesenkt, und die Mortalität um etwa 65% gebessert [34]. In Deutschland werden daher für Risikopersonen, neben anderen Untersuchungen, jährliche komplette Koloskopien ab dem 25. Lebensjahr oder 5 Jahre vor dem frühesten Erstmanifestationsalter in der Familie empfohlen [6, 38]. Die prophylaktische Kolektomie wird in Deutschland nicht als Vorsorgemaßnahme angesehen, obwohl von einigen Autoren gefordert [19, 26] und in den Vereinigten Staaten auch durchgeführt, da durch regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen kolorektale Karzinome 12

Einleitung in einem ausreichend frühen Stadium entdeckt werden und die Erkrankung unvollständige Penetranz zeigt. Wegen gehäuft auftretender Endometriumkarzinomen (40%), Ovarialkarzinomen (5%) und Urothelkarzinomen (5%) werden bei weiblichen Risikopersonen jährliche, erweiterte gynäkologische Untersuchungen empfohlen, die die Durchführung von transvaginalem Ultraschall beinhalten [31]. Bei beiden Geschlechtern wird zusätzlich zur Nachsorge jährliche Urinzytologie, Oberbauchsonographie und die Ösophagogastroduodenoskopie (bei Familien mit Magenkarzinomen) empfohlen [66]. 1.5. Fragestellungen Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, mit einem retrospektiven Design die wichtigen Aspekte der humangenetischen Beratung Erblicher Darmkrebs zu evaluieren. Dabei sollen einige methodische Aspekte verstärkt berücksichtigt werden. Diese betreffen - die Auswertung einer ausreichend großen Kohorte; - den Einsatz von semistandardisierten Interviews statt schriftlichen Erhebungsbögen; - die Gesprächsführung und Datenerhebung durch einen speziell geschulten Interviewer. Die Fragestellung berücksichtigt dabei insbesondere, daß die genetische Beratung ein Kommunikationsprozess ist, bei dem über das Auftreten bzw. die Gefahr des Auftretens einer erblichen Erkrankung in der Familie gesprochen wird [15]. Die an der Kommunikation teilnehmenden Personen sind medizinisch und psychologisch ausgebildeten Experten, bei denen ein Patient oder eine Familie Rat sucht, bzw. mit einem bestimmten Anliegen zur humangenetischen Beratung kommt. Nach den Leitlinien zur Genetischen Beratung vom Berufsverband Medizinische Genetik e.v. ist mit Fragestellungen zu rechnen,... die mit dem Auftreten oder der Befürchtung einer angeborenen und / oder genetisch (mit-) bedingten Erkrankung oder Behinderung zusammenhängen. [11]. Im Rahmen einer englischen Studie aus dem Jahr 1997 wurden 131 Personen befragt, was sie von der genetischen Beratung erwarten [56]. 79% der befragten Personen erwarteten Information über die Erkrankung, 63% Erklärung der Ätiologie der Erkrankung, 50% Rat und 30% Hilfe, um eine Entscheidung zu treffen. Dabei sollte die Information in der genetischen Beratung die eventuell bereits vorhandene persönliche Information des Ratsuchenden bestmöglich ergänzen. Viele Ratsuchende sind unsicher, was eine genetische Beratung ihnen persönlich bieten kann bzw. wie sie davon 13

Einleitung profitieren könnten. In Deutschland sehen die Leitlinien zur genetischen Beratung vor, daß der Berater den ratsuchenden Patienten bzw. Klienten vorab und i.d.r. schriftlich über die Ziele und Vorgehensweisen informiert, damit evtl. bestehende Unsicherheiten bereits im Vorfeld beseitigt werden [11]. Zu diesem Zweck ist vom Verbundprojekt der Deutschen Krebshilfe eine leicht verständliche Broschüre für Patienten und deren Angehörige erstellt worden [74]. Mit der vorliegenden Arbeit wird die humangenetische Beratung im Bochumer Beratungszentrum evaluiert. Für diese Qualitätssicherung wurden drei Fragestellungen betrachtet, deren Beantwortung Hinweise auf die Güte der humangenetischen Beratung im Bochumer Beratungszentrum liefern können. Fragestellung 1: Wie wird bzw. wurde die interdisziplinäre Beratungssituation allgemein sowie die Informationsvermittlung empfunden? Fragestellung 2: Wie wird die Entscheidung für oder gegen den Gentest beeinflusst, und welche Beweggründe spielen dabei eine Rolle? Fragestellung 3: Wie ändert sich das Vorsorgeverhalten nach genetischer Beratung bei HNPCC-Betroffenen und Risikopersonen? Insgesamt soll mit der vorliegenden Arbeit ein ganzheitliches Beratungskonzept bei familiärem Darmkrebs evaluiert werden. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit sollen dann auch in die international vorhandenen Erkenntnisse zur humangenetischen Beratung bei Personen mit HNPCC-Risiko eingebettet werden. 14

2. Material und Methoden Material und Methoden 2.1. Untersuchungskollektiv und der Interviewablauf Das Untersuchungskollektiv dieser Arbeit besteht aus 78 Personen, die im Bochumer Beratungszentrum zwischen 1999 und 2001 zum Thema Erblicher Darmkrebs beraten worden sind. In der ersten Phase wurden aus dem Archiv der Bochumer Beratungsstelle Akten entsprechender Ratsuchender herausgesucht. Im zweiten Schritt wurde allen Patienten das telefonische Interview und dessen Inhalte schriftlich angekündigt sowie die Möglichkeit eingeräumt, den Telefonanruf abzulehnen bzw. nicht entgegenzunehmen. Sieben Patienten lehnten das Interview im Vorfeld ab. Vier Personen haben ihre Gründe nicht genannt; die anderen drei Personen lehnten aufgrund schwerwiegender Gesundheitsprobleme im Rahmen ihrer Krebserkrankung das Telefoninterview ab. Das Intervall zwischen Beratungsgespräch und Zeitpunkt des Interviews betrug durchschnittlich 12 Monate (Minimum 3, Maximum 20 Monate). Den Befragten, die einen genetischen Test nach dem Beratungsgespräch in Anspruch genommen hatten, war das Testergebnis zum Zeitpunkt des Telefon-Interviews nicht bekannt. Der Interviewer kannte zum Zeitpunkt des Interviews weder die Patienten persönlich noch deren medizinische Vorgeschichte. Die telefonischen Interviews dauerten durchschnittlich 30 Minuten. 2.2. Methodik 2.2.1. Standardisierter Fragebogen Die Untersuchung fand in der Zeit von April 2001 bis November 2002 statt. Speziell für diese Untersuchung wurde ein standardisierter Fragebogen (s. Anhang) entwickelt mit der Vorgabe, verschiedene Gesichtspunkte der humangenetischen Beratung beim erblichen Darmkrebs zu evaluieren. Der Fragebogen wurde im wesentlichen von Frau Dr. Kunstmann aus der Abteilung für Humangenetik der Ruhr-Universität Bochum erarbeitet, basierend auf Erfahrungen aus der eigenen Forschung und den in der Literatur dokumentierten Ergebnissen empirischer Untersuchungen [3, 75, 61]. Der Interviewer wurde bezüglich der Durchführung des Telefon-Interviews geschult und auf mögliche kritische Interviewsituationen vorbereitet. Thematisch wurde der Fragebogen in folgende Abschnitte unterteilt: - Einschätzung der interdisziplinären Beratungssituation (Fragen 8-9); - Subjektive Einschätzung der Informationsvermittlung (Frage 10); 15

Material und Methoden - Untersuchung von Einflussfaktoren für oder gegen den Gentest (Fragen 12-26); - subjektive Einschätzung des Karzinomsrisikos nach der Beratung (Fragen 27-29); - Inanspruchnahme der Vorsorgeuntersuchungen und ihre Regelmäßigkeit (Fragen 30-52 und 91-94 ); - persönliche Einschätzung möglicher Auswirkungen des genetischen Tests (Fragen 53-67); - Angabe von Beweggründen für oder gegen den Gentest (Fragen 68-73); - Bereitschaft, die Information innerhalb der Familie weiterzugeben (Fragen 74-79); - Anregung und Kritik hinsichtlich der interdisziplinären Beratung (Fragen 80-84). Eine weitere Fragenkategorie bildeten Filterfragen. In Abhängigkeit davon, wie diese Fragen beantwortet wurden, wurde der zugehörige thematische Fragenblock abgefragt bzw. übersprungen (z.b. Frage 11: wenn diese Frage mit nein beantwortet wurde, sind die Fragen 12 bis 17 nicht gestellt worden; siehe Fragebogen im Anhang). Um den Interviewablauf so effizient wie möglich zu gestalten, wurde ein Textleitfaden zur Durchführung des Interviews entwickelt und in den Fragebogen integriert. Der Interviewer las die Fragen vor und hielt die Angaben schriftlich fest. Die Antwortmöglichkeiten setzen sich aus drei Kategorien zusammen: - nominalskalierte Variablen Nein/Ja (z.b. Frage 30- s. Fragebogen im Anhang), - Ordinalskalen, die von 1 bis 10 nummeriert sind (zum Beispiel Frage 10), - offene Fragen (z.b. Frage 79 und 84). Außerdem wurden zusätzlich die Variablen 85-89 und 90 eingefügt. Die Variablen 85-89 beinhalten die Vorsorgeempfehlungen, die die Ratsuchenden in der genetischen Beratung erhalten haben. Die Variable 90 beinhaltet die Information über die Inanspruchnahme der genetischen Tests. Diese Variablen wurden nicht im Fragebogen verankert und wurden nur für die statistische Auswertung benutzt. Die Werte dieser Variablen waren dem Interviewer zum Zeitpunkt des Telefoninterviews nicht bekannt. Da im Fragebogen die Fragen zum gynäkologischen Vorsorgeverhalten nicht explizit auf die bei HNPCC-Verdacht empfohlene erweiterte gynäkologische Vorsorge abzielte, wurde ein weiterer Fragebogen ausgearbeitet und umgehend nachgeschickt. Dieser beinhaltete 4 Fragen bezüglich spezieller gynäkologischen Vorsorge (siehe 3.4.3.). Ein frankierter Briefumschlag lag bei. Wir baten die Ratsuchenden, den ausgefüllten Fragebogen an uns zurückzusenden. 32 von 41 Frauen haben den Fragebogen zurückgeschickt. Die 16

Material und Methoden Ergebnisse, die dieser Fragebogen lieferte, vervollständigten wesentlich die Daten, die notwendig waren, um die Frage nach der gynäkologischen Vorsorge auswerten zu können. 2.2.2. Angewandte statistische Testverfahren Zur statistischen Auswertung wurden folgende Methoden angewandt: - Deskriptive Auswertung und Darstellung der Ergebnisse Relative und absolute Häufigkeiten der Schätzwerte im Fragebogen werden tabellarisch dargestellt; die Mittelwerte und Standardabweichungen [14, 70] der Einschätzungen in Tabellen und Abbildungen. -Rangtest nach Mann-Whitney Dieser Test untersucht, ob zwei unabhängige Gruppen aus derselben Population stammen oder nicht. Er stellt eine brauchbare Alternative zum t-test dar, denn er kann auch eingesetzt werden, wenn die Daten nicht intervall- bzw. verhältnisskaliert, sondern - wie in unserem Fall - ordinalskaliert sind [70, 14]. Der zweiseitige Test testet den Unterschied in den beiden Populationen. -Chi-Quadrat-Test Der Chi-Quadrat-Test wird zur Überprüfung von Häufigkeitsverteilungen eingesetzt [70]. Die Variablen haben ein nominales Skalenniveau. 2.2.3. Statistische Auswertung Die statistische Auswertung erfolgte mit dem Statistik-Programm SPSS 11.0 [22]. Zuerst wurde eine spezielle Datenmaske mit Hilfe des Programms erstellt. Diese war so aufgebaut, daß die interviewten Personen die Zeilen der Datenmatrix bildeten und die einzelnen Fragen des Fragebogens (Variablen) die Spalten. Die Datenwerte wurden direkt nach Beendigung des Interviews in die Zellen der Maske eingegeben. Alle eingegebenen Daten wurden von einer unabhängigen Person zwei mal auf Korrektheit kontrolliert. Die der Fragestellung 1 entsprechende Fragen 8-10 wurden deskriptiv ausgewertet und in Form von Tabellen dargestellt. Die erste Spalte dieser Tabellen beinhaltet die Schätzwerte. In der zweiten Spalte ist die absolute Häufigkeit dieser Schätzwerte dargestellt. In der dritten Spalte ist die relative Häufigkeiten in Prozent zu sehen. Schätzwerte, die niemals genannt wurden, sind in den Ergebnisstabellen nicht dargestellt. 17

Material und Methoden Bei der Analyse der zur Fragestellung 2 gehörenden Fragen 12-17, 53-73, 27 und 29 erfolgte zuerst die deskriptive Auswertung der Schätzwerte. Die Darstellung erfolge ebenfalls in Tabellenform. Die Fragen sind in der ersten Spalte der Tabellen dargestellt. In der zweiten Spalte sind Mittelwert und Standardabweichung (M ± SD) dargestellt. Um die Korrelation mit der Testwahrnehmung (Variable 90) zu überprüfen, wurde in der Folge ein Mann-Whitney-Test durchgeführt [70, 14]. Als letztes wurde die asymptotische zweiseitige Signifikanz für jede einzelne Variable errechnet und in den getrennten Tabellen dargestellt. Die Auswertung der Fragen 68-73 und 18-23 erfolgte deskriptiv und die Ergebnisse wurden in Form der Tabellen präsentiert. Die Fragen 30-52 der Fragestellung 3, wurden deskriptiv und zum Teil mittels Chi-Quadrat-Tests [70, 14] statistisch ausgewertet. Für die Untersuchung der Regelmäßigkeit von Darmspiegelung vor und nach der genetischen Beratung, wurden im einzelnen die Relationen unterschiedlicher Variablen gegenüber gestellt, die auf komplementären Fragestellungen basieren. Das sind die Fragen 32 und 33. Die Frage 33 ist dabei eine Daten-Quelle. Sie erlaubte uns das Vorsorgeverhalten vor der genetischen Beratung zu beurteilen. Mittels Relationstests wurde die Ermittlung der erwarteten Anzahl für die Frage 32 durchgeführt, die wiederum das aktuelle Vorsorgeverhalten widerspiegelt. Da die Frage 32 letztendlich mehrere Abstände beinhaltete, wurden die regelmäßigen Abstände von 6-18 Monaten und 1-2 Jahren als termingerecht umkodiert. Als letztes wurde der Chi-Quadrat-Test auf der Basis der oben beschriebenen Relationen berechnet. Der deskriptive Teil der Auswertung wurde ebenfalls in Form der Tabellen dargestellt, die identisch wie die Tabellen zur Fragen 8-10 aufgebaut sind. Für die Frage nach den Empfindungen bei den Darmspiegelungen (Frage 34 und 35) wurden Ordinalskalen von 1 bis10 benutzt. Die Auswertung erfolgte deskriptiv mit Ermittlung der Mittelwerte und anschließender graphischer Darstellung. Die Auswertung der Fragen 36-42, 48-52, 74-79 und der Fragen aus dem zusätzlichen Fragebogen zur gynäkologischen Vorsorge erfolgte ebenfalls deskriptiv mit der Darstellung der Ergebnisse in Tabellenform. 18

3. Ergebnisse Ergebnisse 3.1. Soziodemographische Daten und Stammbaumkriterien Das Alter der Befragten variierte zwischen 19 und 68 Jahren, das mittlere Alter betrug 42,6 Jahre (siehe Abb. 2). Im befragten Kollektiv waren 41 Frauen (52%) und 37 Männer (48%). 14 Personen waren ledig, 61 verheiratet, 2 geschieden und eine Person getrennt lebend (siehe Abb. 3). 30 25 Häufigkeit 20 15 10 5 0 < 30 J. 31-40 J. 41-50 J. 51-60 J. > 60 J. Abb. 2 Alter der Ratsuchenden 70 60 Häufigkeit 50 40 30 20 10 0 ledig verheiratet geschieden getrennt lebend Abb. 3 Familienstand der Ratsuchenden 19

Ergebnisse Alle befragte Personen waren deutscher Nationalität. Bezüglich der Stammbaumdiagnose setzte sich das Untersuchungskollektiv wie folgt zusammen (siehe Tab. 2): 28 Stammbäume erfüllten Amsterdam I-Kriterien, 11 Amsterdam II-Kriterien, 39 die Bethesda-Kriterien. 33 Personen (42%) waren selbst betroffen (Indexpatienten), und 45 Personen (58%) waren Risikopersonen. Tab. 2 Stammbaumdiagnosen der befragten Personen HNPCC-Kriterien Absolute Häufigkeit [n] Relative Häufigkeit [%] Amsterdam I 22 28,2 Amsterdam II 10 12,8 Amsterdam I ohne Alter 6 7,7 Amsterdam II ohne Alter 1 1,3 Bethesda 39 50 Gesamt 78 100 3.2. Einschätzung der Beratungssituation (Fragestellung 1; Fragen 8-10) Im Bochumer Beratungszentrum wird ein interdisziplinäres Beratungskonzept verfolgt: Drei Berater aus unterschiedlichen medizinischen Berufsgruppen - Humangenetik, Innere Medizin, Psychologie - sind Gesprächspartner für die Ratsuchenden. Die erste Frage (Frage 8) bezog sich auf die Kompetenz der Berater im Beratungsgespräch. Die Schätzwerte wurden in Form einer Ordinalskala von 1 = nicht kompetent bis 10 = sehr kompetent angeboten. Diese wurde von den Ratsuchenden im Mittel mit 8,2 bei einer Standardabweichung von 1,6 bewertet. Tab. 3 Schätzung der Kompetenz der Berater (Frage 8) Schätzwerte Absolute Häufigkeit [n] Relative Häufigkeit [%] 3 2 2,6 5 4 5,1 6 2 2,6 7 11 14,1 8 23 29,5 9 16 20,5 10 20 25,6 Gesamt 78 100,0 20

Ergebnisse Die Frage, wie die Ratsuchenden es empfunden haben, drei Beratern aus verschiedenen medizinischen Berufsgruppen gegenüber zu sitzen (Frage 9), wurde im Mittel mit 7,8 (bei einer Ordinalskala von 1 = unangenehm bis 10 = sehr angenehm ) angegeben. Die Standardabweichung betrug hier 2,3. Tab. 4 Empfindung der Beratungssituation (Frage 9) Schätzwerte Absolute Häufigkeit [n] Relative Häufigkeit [%] 1 1 1,3 2 2 2,6 3 2 2,6 5 10 12,8 6 5 6,4 7 10 12,8 8 12 15,4 9 8 10,3 10 28 35,9 Gesamt 78 100,0 Frage 10 betraf die Einschätzung, wie verständlich die Sachinhalte durch die Berater dargestellt wurden. Diese wurde im Mittel mit 9 (bei einer Ordinalskala von 1 = nicht verständlich bis 10 = sehr verständlich ) bewertet. Die Standardabweichung betrug 1,3. Tab. 5 Verständlichkeit der Sachverhalte (Frage 10) Schätzwerte Absolute Häufigkeit [n] Relative Häufigkeit [%] 3 1 1,3 6 2 2,6 7 3 3,8 8 22 28,2 9 8 10,3 10 42 53,8 Gesamt 78 100,0 21

3.3. Entscheidung für oder gegen Gentests (Fragestellung 2) Ergebnisse 3.3.1. Beeinflussung der Testwahrnehmung durch Gruppen im sozialen Umfeld (Fragen 12-17) Bei der Fragestellung 2 wurde die mögliche Beeinflussung der Entscheidung der Ratsuchenden für bzw. gegen die Wahrnehmung der genetischen Tests durch Personen des sozialen Umfelds untersucht. Fragen 12-14 sollten eruieren, in wie weit diese Entscheidung durch Familienmitglieder (Kinder, Ehepartner etc.) beeinflusst wurde. Zusätzlich wurden hier Freunde und Bekannte (Frage 15) sowie Arztkontakte (Frage 16 und 17) berücksichtigt. Die interviewten Personen sollten anhand einer Ordinalskala, die von 1 (Minimum) bis 10 (Maximum) eingeteilt wurde, den Einfluss auf ihre Testentscheidung abschätzen. Bei allen Fragen stand 1 für gar nicht beeinflusst und 10 für sehr stark beeinflusst. Im ersten Schritt wurden die Mittelwerte der Schätzwerte sowohl für die Gruppe der Testwahrnehmer als auch für die Gruppe der Testablehner deskriptiv ausgewertet und graphisch dargestellt (siehe Abb. 4-5). Berater im Gespräch Betreuender Arzt Freunde/Bekannte Verwandte Kinder Ehepartner 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einschätzung auf Ordinalskala Abb. 4 Mittelwerte der Beeinflussung bei Testablehnern 22

Ergebnisse Berater im Gespräch Betreuender Arzt Freunde/Bekannte Verwandte Kinder Ehepartner 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Einschätzung auf Ordinalskala Abb. 5 Mittelwerte der Beeinflussung bei Testwahrnehmern In beiden Gruppen liegen die Mittelwerte über 3 bei den Einflusspersonen Ehepartner, Kinder, Berater im Gespräch, im Gegensatz zur Kategorie Verwandte/ Freunde (Mittelwert kleiner 2). Ein deutlicher Unterschied zwischen den beiden Gruppen zeigt sich in der Einschätzung der Beeinflussung durch den betreuenden Arzt: in der Gruppe der Testwahrnehmer wurde die Beeinflussung stärker eingeschätzt als in der Gruppe der Testablehner. Im einem weiteren Schritt der statistischen Analysen wurde der Mann-Whitney-Test angewandt, um die Korrelation mit der tatsächlichen Wahrnehmung der genetischen Tests (Variable 90) zu überprüfen (Tab. 6). Tab. 6 Signifikanzprüfung (Mann-Whitney-Test) zur Beeinflussung der Testwahrnehmer (Fragen 12-17; *p,050) Fragen Asymptotische Sig. [p] Einfluss des Ehepartners (Frage 12) 0,549 Einfluss der Kinder (Frage 13) 0,651 Einfluss der Verwandten (Frage 14) 0,432 Einfluss der Freunde/ Bekannten (Frage 15) 0,031* Einfluss des betreuenden Arztes (Frage 16) 0,807 Einfluss der Berater im Gespräch (Frage 17) 0,210 23

Ergebnisse Es ließen sich in unserem Kollektiv keine signifikanten Unterschiede in der Beeinflussbarkeit durch die Personengruppen Ehepartner, Kinder, betreuender Arzt und Berater im Beratungsgespräch im Bezug auf die Wahrnehmung der genetischen Tests feststellen. Allerdings bestand ein signifikanter Unterschied mit p=0,031 in der Beeinflussung durch Freunde/Bekannte (Frage 15). Der signifikante p-wert sagt in diesem Fall aus, daß die Schätzwerte der Testwahrnehmer und -ablehner bei der Frage 15 nicht zufällig verteilt sind. Die Signifikanz in diesem Fall erklärt sich dadurch, daß diese Frage von allen Personen aus der Gruppe Testwahrnehmer mit 1 (kein Einfluss) beantwortet wurde. Lediglich in der Gruppe der Testablehner wurde von 2 Personen die Werte 2 und 7 genannt. (siehe Abb.6). Aus diesem Grund wird die Verteilung der Antworten anhand des Mann-Whitney-Test als, nicht zufällig gewertet (p = 0,031). 12 10 Häufigkeit 8 6 4 2 0 1 2 7 Abb. 6 Beeinflussung durch Freunde/Bekannte bei Testablehnern Insgesamt belegen die Ergebnisse eindeutig, daß beide Gruppen von Ratsuchenden sich als relativ unbeeinflusst vom sozialen Umfeld in ihrer Entscheidung einschätzen. Interessanterweise liegt der angegebene Grad der Beeinflussung durch die Berater im Mittel in demselben Bereich wie die Beeinflussung durch die nächsten Angehörigen (Ehepartner und Kinder). Nur in der Gruppe der Testwahrnehmer wird die Beeinflussung durch den betreuenden Arzt vergleichbar hoch eingeschätzt. 24

Ergebnisse 3.3.2. Beeinflussung der Testwahrnehmung durch Personen aus dem medizinischen Umfeld (Fragen 18-26) Die Auswertung erfolgte deskriptiv mit Darstellung von relativen und absoluten Häufigkeiten. Frage18 sollte zunächst eruieren, ob weitere Gespräche bezüglich erblichem Dickdarmkrebs mit anderen Ärzten geführt wurden. 36 Personen (46,2%) hatten weitere Gespräche, 42 Personen (53,8%) sprachen nicht mit anderen Ärzten hinsichtlich HNPCC. Tab. 7 Weitere Gespräche bezüglich HNPCC (Frage 18) Antwort Absolute Häufigkeit [n] Relative Häufigkeit [%] Nein 42 53,8 Ja 36 46,2 Gesamt 78 100,0 Den 36 Personen, welche die Frage 18 mit Ja beantwortet haben, wurden nun die Fragen 19-22 gestellt. 97,2% der befragten Personen (35 von 36) gaben an, keine abweichenden Informationen hinsichtlich erblichem Dickdarmkrebs erhalten zu haben (Frage 19). Lediglich eine Person bekam andere Information vom betreuenden Arzt (siehe Tab.8). Tab. 8 Andere Information im Gespräch mit betreuendem Arzt (Frage 19) Antwort Absolute Häufigkeit [n] Relative Häufigkeit [%] Nein 35 97,2 Ja 1 2,8 Gesamt 36 100,0 Der Großteil der befragten Personen berichtete, daß der Arzt weder zur genetischen Tests geraten noch davon abgeraten hat (Tab. 9-10). Tab. 9 Arzt zu den genetischen Tests geraten (Frage 20) Antwort Absolute Häufigkeit [n] Relative Häufigkeit [%] Nein 2 5,6 Ja 9 25,0 keine Stellung bezogen 25 69,4 Gesamt 36 100,0 25

Ergebnisse Tab. 10 Arzt von den genetischen Tests abgeraten (Frage 21) Antwort Absolute Häufigkeit [n] Relative Häufigkeit [%] Nein 10 27,8 keine Stellung bezogen 26 72,2 Gesamt 36 100,0 Die betroffenen Personen befragten in der Mehrheit den Gastroenterologen (50%) oder den Hausarzt (44%). Ein geringer Prozentsatz (5,6%) führte Gespräche mit dem Frauenarzt (Tab. 11). Tab. 11 Arztprofil (Frage 22) Antwort Absolute Häufigkeit [n] Relative Häufigkeit [%] Hausarzt 16 44,4 Frauenarzt 2 5,6 Gastroenterologe 18 50,0 Gesamt 36 100,0 Gespräche mit anderen medizinisch ausgebildeten Personen wurden von 8% der Befragten geführt (Frage 23) und wegen der geringen Fallzahl nicht näher aufgeschlüsselt. Die Fragen 24-26 wurden ebenfalls aufgrund geringer Fallzahl (n = 6) nicht ausgewertet. 3.3.3. Individuelle Risikoeinschätzung (Fragen 27 und 29) Bei Frage 27 wurden die befragten Personen aufgefordert, ihr persönliches Risiko einzuschätzen, eine Anlage für erblichen Darmkrebs zu haben oder an Darmkrebs in Zukunft bzw. noch einmal zu erkranken (Frage 29). Als Antwortmöglichkeit wurde eine Ordinalskala von 1 bis 10 angeboten. 1 stand für kein Risiko und 10 für ein sehr hohes Risiko. Insbesondere war es wichtig, zwischen der Risikoschätzung von betroffenen Ratsuchenden und Risikopersonen zu unterscheiden, sowie zwischen Personen, deren Stammbäume Amsterdam- und Bethesda-Kriterien erfüllen. Zudem wurde geprüft, ob eine Korrelation der Entscheidung, die genetischen Tests durchführen zu lassen, mit der Einschätzung des persönlichen Risikos besteht. Bei der Frage nach Einschätzung des persönlichen Risikos, eine Anlage geerbt zu haben, gaben die Indexpatienten einen mittleren Wert von 6,7 (Standardabweichung = 2,9) an. 26

Ergebnisse Eine Person konnte ihr Risiko nicht einschätzen (N = 32; siehe Tab. 12). Bei der Schätzung des persönlichen Risikos für die Krebswiederholung, gaben die Betroffenen einen durchschnittlichen Wert von 3,9 (Standardabweichung SD = 2,7) auf einer Skala von 1 bis 10 an (Tab. 12). Tab. 12 Einschätzung des persönlichen Risikos: Betroffene (n = 32; Fragen 27 und 29) Fragen Mittelwert ± SD Einschätzung, die Anlage geerbt zu haben (Frage 27) 6,72 ± 2,95 Risikoeinschätzung für Krebswiederholung (Frage 29) 3,91 ± 2,76 Die Risikopersonen haben ihr Risiko, eine Mutation geerbt zu haben, durchschnittlich auf 5,4 (Standardabweichung = 2) und das Krebsrisiko auf 4,9 (Standardabweichung = 2,4) auf einer Skala von 1 bis 10 geschätzt (siehe Tab. 13). Tab. 13 Einschätzung des persönlichen Risikos: Risikopersonen (n = 44; Fragen 27 und 29) Fragen Mittelwert ± SD Einschätzung, die Anlage geerbt zu haben (Frage 27) 5,43 ± 2,08 Risikoeinschätzung für Krebswiederholung (Frage 29) 4,93 ± 2,40 Die Personen, deren Stammbäume Amsterdam-Kriterien erfüllen, schätzten ihr Risiko, eine Mutation geerbt zu haben, im Mittel auf 6,4 bei einer Standardabweichung von 2,4, das Krebsrisiko auf 4,7 bei einer Standardabweichung von 2,5 (siehe Tab. 14). Tab. 14 Einschätzung des persönlichen Risikos: Personen mit Amsterdam-Stammbaum (n = 39; Fragen 27 und 29) Fragen Mittelwert ± SD Einschätzung, die Anlage geerbt zu haben (Frage 27) 6,38 ± 2,39 Risikoeinschätzung für Krebswiederholung (Frage 29) 4,66 ± 2,50 Die Personen, deren Stammbäume Bethesda-Kriterien erfüllen, schätzten ihr Risiko, eine Mutation geerbt zu haben, im Mittel auf 5,6 bei einer Standardabweichung von 2,7 und das Krebsrisiko auf 4,3 bei einer Standardabweichung von 2,7 (siehe Tab. 15). 27

Ergebnisse Tab. 15 Einschätzung des persönlichen Risikos: Personen mit Bethesda-Stammbaum (n = 39; Fragen 27 und 29) Fragen Mittelwert ± SD Einschätzung, die Anlage geerbt zu haben (Frage 27) 5,59 ± 2,67 Risikoeinschätzung für Krebswiederholung (Frage 29) 4,33 ± 2,71 Um die Korrelation mit der Testwahrnehmung (Variable 90) zu überprüfen, wurde der Mann-Whitney-Test durchgeführt. Bei der Auswertung ließen sich keine signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen (Tests wahrgenommen versus nicht wahrgenommen) in Bezug auf ihre persönliche Risikoschätzung nachweisen. Die Ergebnisse verdeutlichen, daß die Betroffenen ihr persönliches Risiko, eine Mutation geerbt zu haben, höher einschätzen als die Risikopersonen. Das Risiko in Zukunft an einem Karzinom zu erkranken bzw. das Risiko einer Krebswiederholung, wird dagegen von Risikopersonen höher geschätzt. Beim Vergleich der Personen mit Amsterdam- bzw. Bethesda-Stammbäumen ist die Risikoeinschätzung sowohl bzgl. Mutation geerbt, als auch an einem kolorektalen Karzinom zu erkranken, höher bei den Personen mit Amsterdam-Stammbaum. Es lassen sich keine signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen von Personen (Tests wahrgenommen versus nicht wahrgenommen) in Bezug auf ihre persönliche Risikoschätzung nachweisen. 3.3.4. Mögliche Auswirkungen der genetischen Tests (Fragen 53-67) Die Fragen 53-67 spiegelten sowohl emotionale Komponenten als auch die persönliche Einschätzung möglicher Auswirkungen der genetischen Tests wider. Im Rahmen dieser Arbeit sollte untersucht werden, ob diese emotionale Komponenten die Inanspruchnahme der genetischen Tests beeinflussen. Dazu wurde auch in diesem Fall die Korrelationsprüfung der Variablen 53-67 mit Kernvariablen 90 (Wahrnehmung des Tests) durchgeführt. Bei der Beantwortung der Fragen wurde mit Ordinalskalen gearbeitet. Bei Frage 58 wurden zwei Antwortmöglichkeiten vorgegeben: Ja und Nein (siehe Fragebogen im Anhang). Zuerst erfolgte die deskriptive Auswertung mit Ermittlung der Mittelwerte. Im nächsten Schritt wurden die Fragen 53-57 und 59-67 mit Hilfe des Mann-Whitney-Tests auf die Korrelation mit der Variable 90 geprüft (Tab. 16). 28

Ergebnisse Da die Frage 58 zwei Antwortmöglichkeiten beinhaltete, also nominalskaliert war, wurde der Chi-Quadrat-Test benutzt, um die Korrelation mit der Kernvariable 90 (Testwahrnehmung) zu überprüfen. Es zeigte sich aber kein signifikanter Unterschied zwischen Testablehnern und Testwahrnehmern bzgl. ihrer Meinung dazu, ob der Gentest ein sicheres Ergebnis erbringt (p = 0,376). Tab. 16 Signifikanzprüfung (Mann-Whitney-Test) zur Beeinflussung der Testwahrnehmer (Fragen 53-57 und 59-67; *p,050; **p,010) Fragen Hätten Sie die genetischen Tests emotional belastet? (Frage 53) Hätten die genetischen Tests Ihre familiäre Beziehung belastet? (Frage 54) Hätte Sie das Wissen über das Krebsrisiko beunruhigt? (Frage 55) Würden die Tests Ihnen Vorteile bringen? (Frage 56) War das Wissen über das Erkrankungsrisiko für Sie hilfreich? (Frage 57) Würde die Gewißheit Anlageträger zu sein Sie beunruhigen? (Frage 59) Würde die Gewißheit Anlageträger zu sein Sie ängstlich machen? (Frage 60) Würde die Gewißheit Anlageträger zu sein Sie depressiv stimmen? (Frage 61) Würde die Gewißheit Anlageträger zu sein Ihre Lebensqualität beeinträchtigen? (Frage 62) Würde die Gewißheit Anlageträger zu sein Ihre Bereitschaft Vorsorge zu betreiben steigern? (Frage 63) Würde die Gewißheit nicht Anlageträger zu sein bei Ihnen Schuldgefühle verursachen? (Frage 64) Würde die Gewißheit nicht Anlageträger zu sein trotzdem Unsicherheit bringen? (Frage 65) Würde die Gewißheit nicht Anlageträger zu sein Sie trotzdem beunruhigen? (Frage 66) Würde die Gewißheit nicht Anlageträger zu sein Ihre Bereitschaft Vorsorge zu betreiben senken? (Frage 67) Asymptotische Sig. [p] 0,026* 0,025* 0,747 0,582 0,135 0,046* 0,005** 0,002** 0,012* 0,040* 0,574 0,645 0,307 0,353 Die signifikanten Ergebnisse zeigen, daß die Unterschiede in den Gruppen nicht zufällig sind, bzw. daß ein signifikanter Unterschied besteht in der emotionalen Beeinträchtigung 29