1 Neurologische Symptome und Syndrome

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Transkript:

13 1 Neurologische Symptome und Syndrome 1.1 Bewusstseinsstörungen Bewusstseinsstörungen können durch Läsionen in verschiedenen Abschnitten des Gehirns verursacht werden. Voraussetzung für ein ungestörtes Bewusstsein ist die Funktionsfähigkeit aller dieser beteiligten Strukturen. Eine wesentliche Rolle kommt dem aufsteigenden retikulären aktivierenden System (ARAS) in der Formatio reticularis im Hirnstamm zu. Von dort ziehen bilateral relevante Verbindungen über den Thalamus zum Kortex. Bewusstseinsstörungen können demnach durch Hirnstamm-Läsionen verursacht werden, aber auch z. B. durch beidseitige Läsionen im Bereich des Thalamus, des subkortikalen Marklagers und/oder des Kortex. Quantitative Bewusstseinsstörungen Quantitative Bewusstseinsstörungen (Störungen des Bewusstseinsniveaus) müssen von qualitativen Bewusstseinsstörungen (Störungen des Bewusstseinsinhalts) abgegrenzt werden, wenn auch bei ein und demselben Patienten quantitative und qualitative Bewusstseinsstörungen nebeneinander vorliegen können. Bei Patienten mit quantitativen Bewusstseinsstörungen liegt meistens eine Einschränkung des Wachbewusstseins und der Reaktionsfähigkeit vor, also eine Bewusstseinsverminderung (im Schlaf physiologisch). Entsprechend dem Grad der Beeinträchtigung werden mindestens drei Symptomenkomplexe unterschieden: Somnolenz, Sopor und Koma. Die Grenzen zwischen diesen Begriffen sind allerdings nicht ganz einheitlich definiert. Somnolenz. Somnolente Patienten wirken müde, lethargisch und schläfrig. Zu Beginn der Untersuchung werden sie oft schlafend angetroffen, sie reagieren allerdings auf Ansprache und sind relativ leicht weckbar. Auf Schmerzreize erfolgt eine prompte und gezielte Abwehr. Es bestehen keine Orientierungsstörungen, Fragen werden korrekt beantwortet, einfache Aufforderungen werden befolgt. Die Reaktionen laufen allerdings meistens etwas verzögert und verlangsamt ab. Wenn man den Kontakt mit einem somnolenten Patienten abbricht, schläft er meistens bald wieder ein. Sopor. Soporöse Patienten schlafen oder befinden sich in einem schlafähnlichen Zustand, es kommt zu keinen spontanen Äußerungen. Sie sind nur durch Ansprechen mit lauter Stimme, evtl. sogar nur durch das Setzen mechanischer Reize weckbar. Die Reaktion auf Schmerzreize erfolgt verzögert, im Allgemeinen

14 aber gerichtet. Häufig bestehen Orientierungsstörungen. Aufforderungen werden entweder gar nicht oder deutlich verzögert und meistens unvollständig befolgt. Wenn man den Kontakt mit einem soporösen Patienten abbricht, schläft er rasch wieder ein. Koma. Komatöse Patienten sind bewusstlos und nicht erweckbar, die Augen sind geschlossen. Die Patienten reagieren nicht auf akustische Reize. In oberflächlichen Komastadien kommt es noch zu Abwehrreaktionen auf starke Schmerzreize (im oberflächlichsten Stadium noch weitgehend gezielt, im etwas tieferen Koma ungezielt), eventuell zu groben Massenbewegungen auf der Seite des Schmerzreizes. In tieferen Komastadien kann man über Schmerzreize nur noch Beuge- und Strecksynergien auslösen bzw. letztlich keine Reaktion mehr erreichen. Manche Autoren verwenden statt der dreistufigen eine vierstufige Skala, indem sie eine minimale Beeinträchtigung des Wachbewusstseins als Benommenheit bezeichnen. Ein benommener Patient wäre demnach nicht ganz bewusstseinsklar, aber auch nicht dermaßen beeinträchtigt, dass man ihn als somnolent bezeichnen müsste. Qualitative Bewusstseinstörungen Bei Patienten mit qualitativen Bewusstseinstörungen liegen Störungen des Bewusstseinsinhalts bzw. der Bewusstheit vor. Sie manifestieren sich im Rahmen verschiedener psychiatrischer Erkrankungen, können aber auch im Zusammenhang mit Erkrankungen des Gehirns auftreten. Beispiele sind Verwirrtheitszustände oder delirante Bilder. Verwirrtheit. Bei verwirrten Patienten liegen Orientierungsstörungen vor, insbesondere betreffend Ort, Zeit und/oder Situation, seltener betreffend die eigene Person. Zusätzlich können quantitative Bewusstseinstörungen bestehen, besonders bei organisch begründbaren Störungen. Meistens sind Wahrnehmungs-, Merkfähigkeits- und Denkstörungen zu beobachten, das Denken wie auch das Handeln laufen inkohärent ab. Üblicherweise liegen auch Störungen des Antriebs vor, es kann zu Erregungszuständen kommen. Delir. Auch bei deliranten Patienten liegen Bewusstseinsveränderungen vor. Die Patienten weisen Orientierungsstörungen auf, sind psychomotorisch unruhig und meistens agitiert. Optische Halluzinationen stehen oft im Vordergrund. Bei Patienten, deren Delir durch eine organische Gehirnerkrankung verursacht wird, können vegetative Funktionsstörungen fehlen.

Ursachen von Bewusstseinstörungen Neurologische Symptome und Syndrome 15 Primäre Erkrankungen bzw. Funktionsstörungen des Gehirns. Zahlreiche intrakraniell gelegene Prozesse bzw. Funktionsstörungen können mit quantitativen Bewusstseinstörungen (Somnolenz, Sopor, Koma) einhergehen (Tabelle 1.1). Tab. 1.1: Intrakranielle Ursachen von Bewusstseinstörungen Schädelhirntraumen und deren Folgen (epidurale, subdurale, intrazerebrale Hämatome, Kontusionsherde, Hirnödem, primäre Hirnstammläsionen) zerebrovaskuläre Erkrankungen (ischämische Infarkte, intrazerebrale Hämatome, Sinus- und Hirnvenen-Thrombosen, Subarachnoidealblutungen) entzündliche Erkrankungen (Meningitiden, Enzephalitiden, epidurale, subdurale oder intrazerebrale Empyeme bzw. Abszesse) Tumoren (primäre intrakranielle Tumoren, Metastasen, Meningeosis neoplastica) Verschlusshydrozephalus epileptische Anfälle Primär extrazerebrale Erkrankungen. Eine Reihe extrazerebral gelegener Ursachen kann zu sekundären Gehirnfunktionsstörungen führen, wie z. B. metabolische Störungen, eine Sepsis, Herz-Kreislauf-Erkrankungen mit generalisierter Hypoxämie oder Intoxikationen. Diagnostische Maßnahmen Eine akut aufgetretene Bewusstseinstörung erfordert unverzügliches strukturiertes Handeln, insbesondere bei fehlenden anamnestischen und außenanamnestischen Angaben. Nach Überprüfung und Sicherung der Vitalparameter (Atmung, Puls, Blutdruck) werden umgehend ein EKG abgeleitet, die Körpertemperatur bestimmt und ein Blutzuckerstreifen-Schnelltest (Hypo-, Hyperglykämie?) durchgeführt. Zugleich wird Blut abgenommen, um die wichtigsten Laborwerte (arterielle Blutgasanalyse, Elektrolyte und Osmolalität, Blutbild, Blutgerinnung, Blutzucker, Leberund Nierenfunktionsproben, Kreatin-Kinase, Schilddrüsenfunktionswerte, Blutkulturen, toxikologisches Screening) zu bestimmen. Ergänzend erfolgt auch eine Harnanalyse. Bei Verdacht auf eine Intoxikation mit Benzodiazepinen bzw. mit Opiaten können die jeweiligen spezifischen Antagonisten Flumazenil (Anexate ) bzw. Naloxon (Narcanti ) intravenös verabreicht werden. Der therapeutische Effekt ist meistens zeitlich begrenzt, eine prompte Reaktion ist aber (ex iuvantibus) diagnostisch verwertbar. Im Hinblick auf mögliche primäre oder sekundäre Läsionen im Bereich des Zentralnervensystems muss umgehend eine kraniale CT- und/oder MRT-Unter-

16 suchung veranlasst werden. Falls der Verdacht auf eine entzündliche Ursache des Zustandsbildes besteht, ist im Anschluss daran sofort eine Lumbalpunktion zur Liquordiagnostik durchzuführen. Bei Verdacht auf Subarachnoidealblutung muss ebenfalls sofort eine Lumbalpunktion erfolgen, es sei denn, die Diagnose wurde bereits mittels CT-Untersuchung gesichert; in diesem Fall wird ohne Lumbalpunktion gewöhnlich umgehend eine konventionelle zerebrale Angiographie durchgeführt. Zum Nachweis eines allfälligen arteriellen Gefäßverschlusses eignen sich die Sonographie, die MR-Angiographie (MRA) und die CT-Angiographie (CTA). Bei Verdacht auf eine Thrombose der A. basilaris sollte zunächst eine MRA oder eine CTA veranlasst werden, bei Nichtverfügbarkeit bzw. bei nicht konklusivem Ergebnis ggf. eine konventionelle zerebrale Angiographie. Auch bei Verdacht auf das Vorliegen einer Sinus- oder Hirnvenen- Thrombose muss umgehend eine neuroradiologische Diagnostik erfolgen. Dem EEG kommt im Zusammenhang mit zerebralen Anfallsleiden, mit bestimmten entzündlichen Erkrankungen (z. B. Herpes simplex Typ 1 Meningoenzephalitis) sowie mit metabolischen Störungen und Intoxikationen eine wesentliche diagnostische Rolle zu. 1.2 Störungen der Willkürmotorik Zentrales motorisches Neuron. Die Ganglienzellen befinden sich im Bereich der frontalen Hirnrinde im primären motorischen Kortex (Area 4), im lateral gelegenen prämotorischen Kortex (Area 6) und im medial gelegenen supplementär-motorischen Kortex (Area 6), der vor allem der Organisation der Bewegungsplanung dient. In diesen Rindenfeldern sind die Körperregionen entsprechend ihrer funktionellen Bedeutung und nicht entsprechend ihrer Größe angeordnet und gewichtet. Die Fasern für das Gesicht entspringen nahe der Fissura Sylvii, jene für das Bein an der Mantelkante (motorischer Homunculus). Diejenigen Fasern, die aus dem primären motorischen Kortex (vordere Zentralwindung) stammen, dienen vor allem der Versorgung der kontralateralen distalen Extremitätenmuskulatur, während die proximale und die axial gelegene Muskulatur über retikulospinale Bahnen bilateral versorgt wird. Die efferenten Fasern des zentralen motorischen Neurons (Pyramidenbahn) verlaufen durch das subkortikale Marklager und über die Capsula interna zu den jeweiligen kontralateral gelegenen Kernen der motorischen Hirnnerven (Tractus corticonuclearis) bzw. als Tractus corticospinalis über Mittelhirn und Pons weiter zum Rückenmark. Der überwiegende Teil (etwa 90%) der zuletzt genannten Fasern kreuzt in Höhe der unteren Medulla oblongata und zieht als Tractus corticospinalis lateralis nach kaudal zu den Vorderhorn-Ganglienzellen im Rückenmark. Die übrigen 10% der Fasern verlaufen ungekreuzt als Tractus corticospinalis anterior nach kaudal. Peripheres motorisches Neuron. Die Ganglienzellen der peripheren motorischen Neurone liegen im Bereich der Hirnnervenkerne bzw. im Vorderhorn des Rückenmarks (motorische Vorderhorn-Ganglienzellen). Von letzteren verlaufen die Fasern des peripheren Neurons über die Vorderwurzeln, ggf. die Plexus sowie über die motorischen oder gemischt motorisch-sensiblen peripheren Nerven bis zur motorischen Endplatte. Das periphere Neuron wird zusammen mit den von ihm versorgten Muskelfasern als motorische Einheit bezeichnet.

Neurologische Symptome und Syndrome 17 Die klinische Beurteilung von Störungen der Willkürmotorik erfordert die Berücksichtigung verschiedener Parameter (Tabelle 1.2). Tab. 1.2: Klinische Prüfung zur Erfassung von Störungen der Willkürmotorik Trophik Tonus der Muskulatur Positionsversuche grobe Kraft Feinmotorik Eigenreflexe Fremdreflexe pathologische Reflexe Faszikulationen 1.2.1 Trophik Klinische Prüfung Im Falle von Paresen ist zunächst die Muskulatur im Hinblick auf das mögliche Vorliegen von Atrophien zu untersuchen. Ferner sind die Haut und die Hautanhangsgebilde (Haare, Nägel) in Bezug auf allfällige trophische Störungen zu inspizieren. Schließlich ist auch auf allfällige vegetative Funktionsstörungen (betreffend Schweißsekretion, Piloarrektion, Vasomotorik) zu achten. Störungen der Trophik Zentrale Lähmungen. Im Falle einer Läsion zentraler motorischer Neurone entwickeln sich meistens keine wesentlichen Atrophien im Bereich der paretischen Muskulatur. Periphere Lähmungen. Bei Läsionen der peripheren motorischen Neurone im Bereich einer einzelnen Nervenwurzel sind ebenfalls keine wesentlichen Muskelatrophien zu erwarten. Dagegen entstehen bei Läsionen peripherer motorischer oder gemischt motorisch-sensibler Nerven innerhalb weniger Wochen deutliche Atrophien in der vom jeweiligen Nerven versorgten Muskulatur. Derartige umschriebene Atrophien müssen allerdings von generalisierten Atrophien im höheren Lebensalter, bei Inaktivität, im Zusammenhang mit einer Kachexie oder im Rahmen von Erkrankungen der motorischen Vorderhorn-Ganglienzellen abgegrenzt werden. Bei Muskelatrophien, die schwerpunktmäßig nur in bestimmten Körperabschnitten auftreten, sind differentialdiagnostisch auch Myopathien in Erwägung zu ziehen. In Zweifelsfällen muss eine EMG-Untersu-

18 chung durchgeführt werden, um eine allfällige neurogene oder myogene Läsion als Ursache der Muskelatrophie nachzuweisen. Läsionen peripherer Nerven gehen jedoch auch mit trophischen Störungen der Haut (Ausbildung einer dünnen, pergamentartigen Haut, verzögerte Wundheilung, Begünstigung der Entstehung von Ulzerationen) und der Hautanhangsgebilde wie Haare und Nägel (Wachstumsstörungen, erhöhte Brüchigkeit) einher. Weitere mögliche Folgen sind destruktive Schäden im Bereich der Gelenke. Läsionen sympathischer Fasern, die die peripheren gemischten (und sensiblen) Nerven begleiten, führen zu Störungen der Schweißsekretion und der Piloarrektion, evtl. auch zu einer Störung der Vasomotorik. 1.2.2 Tonus der Muskulatur Der Tonus der Muskulatur (der Dehnungswiderstand des entspannten Muskels) wird durch mehrere übergeordnete Systeme beeinflusst und geregelt, u. a. durch das motorische System (Pyramidenbahn), das extrapyramidal-motorische System, das Kleinhirn und durch im Rückenmark gelegene Strukturen. Entsprechend können Veränderungen im Sinne eines herabgesetzten bzw. gesteigerten Tonus der Muskulatur durch Funktionsstörungen verschiedenster Systeme verursacht werden. Klinische Prüfung Zur Prüfung des Tonus der Muskulatur wird der liegende Patient aufgefordert, sich zu entspannen, keine aktiven Bewegungen durchzuführen und den passiven Bewegungen, die der Untersucher an den Extremitäten vornimmt, möglichst keinen Widerstand entgegenzusetzen. Der Untersucher bewegt dann die Gelenke der einzelnen Extremitäten und prüft den muskulären Widerstand. Dabei sollten grundsätzlich Bewegungen durchgeführt werden, die für den Patienten unerwartet kommen und nicht vorauszuahnen sind. Dies erreicht der Untersucher durch eine Änderung des Tempos, der Richtung der Bewegung und/oder dadurch, dass er die Bewegung in zwei Gelenken gleichzeitig prüft (z. B. durch Beugen bzw. Strecken im Ellbogen mit zusätzlicher Supination oder Pronation und gleichzeitiges Beugen bzw. Strecken im Handgelenk mit zusätzlicher Ulnar- bzw. Radialduktion). Beim Gesunden ist ein gleichmäßiger minimaler muskulärer Widerstand zu spüren. Spastisch gesteigerter Tonus Bei der klinischen Prüfung zeigt sich besonders zu Beginn der passiven Bewegung ein von der Geschwindigkeit abhängiger erhöhter Widerstand der Muskulatur. Je höher das Tempo der Bewegung, desto deutlicher ist der Widerstand

Neurologische Symptome und Syndrome 19 infolge der Spastik spürbar. Im weiteren Bewegungsablauf lässt der Widerstand entweder allmählich oder aber ganz plötzlich nach. Im zuletzt genannten Fall kann die initial nur mühsam erreichte Bewegung schließlich ganz rasch zu Ende geführt werden ( Taschenmesser-Phänomen ). Eine spastische Tonussteigerung geht im Allgemeinen mit gesteigert auslösbaren Eigenreflexen und pathologischen Reflexen ( positiven Pyramidenzeichen ) einher. Die Ursache einer spastischen Tonussteigerung ist eine Läsion des zentralen motorischen Neurons (der Pyramidenbahn). Die Spastizität entwickelt sich meistens in den ersten wenigen Tagen nach dem auslösenden Ereignis. Unilaterale zentrale Läsionen führen üblicherweise zu einer spastischen Tonuserhöhung im Bereich der kontralateralen Extremitäten, wobei an der oberen Extremität der Tonus der Beugemuskulatur und an der unteren Extremität der Tonus der Streckmuskulatur überwiegt. Beidseitige Läsionen im Bereich des Gehirns oder des Halsmarks verursachen eine spastische Tonussteigerung an allen vier Extremitäten ( Tetraspastik ), beidseitige Läsionen im Bereich des Brustmarks (in den Segmenten D1-D10) eine spastische Tonussteigerung in den Beinen ( Paraspastik ). Bei Läsionen unterhalb des Segments D10 entwickelt sich trotz Affektion des zentralen Neurons keine spastische Tonussteigerung ( pseudoschlaffer Tonus, s. u.). Plastisch gesteigerter Tonus (Rigor) Bei der klinischen Prüfung findet man einen zähen, wachsartigen, plastisch erhöhten Widerstand der Muskulatur, der im gesamten Ablauf der passiven Bewegung etwa konstant bleibt. Dieser Widerstand ist bei langsamen passiven Bewegungen am besten wahrzunehmen. In manchen Fällen kommt es zu einem wiederholten, plötzlichen, ruckartigen, sakkadierten Nachlassen und Wiederauftreten des Widerstandes, als ob immer wieder Zahnräder einrasten würden ( Zahnrad-Phänomen ). Betroffen sind nicht nur die Extremitäten, sondern auch die axiale Muskulatur, z. B. die Nackenmuskulatur. Beim Head-dropping-Test (der Kopf des auf dem Rücken liegenden Patienten wird vom Untersucher von der Unterlage hochgehoben) wird die Kopfhaltung so lange beibehalten ( imaginäres Kopfkissen ), bis der Kopf allmählich auf die Unterlage zurücksinkt. Als Ursachen eines Rigors kommen in erster Linie Erkrankungen des extrapyramidal-motorischen Systems in Frage.