FRÜHKINDLICHE BILDUNG UND FÖRDERUNG: IM SPANNUNGSFELD VON FORSCHUNG UND PRAXIS Antrittsvorlesung im Rahmen der Professur Entwicklung und Bildung in der frühen Kindheit Universität Konstanz und PHTG Prof. Dr. Sonja Perren Kreuzlingen, 27.05.2013 2
Leitfragen Was brauchen Kinder für eine positive Entwicklung? Weshalb ist gute Qualität wichtig? Wie bauen wir Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis? 3 Frühkindliche Bildung und Förderung Bildung= Beitrag des Kindes zu seiner Entwicklung Aneignungstätigkeit des Kindes, sich ein Bild von sich und der Welt zu machen (Simoni & Wustmann, 2013) Förderung = Bewusster und aktiver Beitrag der Erwachsenen zur Anregung kindlicher Bildungsprozesse und Gewährleistung von positiver Entwicklung Förderliche Entwicklungsbedingungen schaffen (für alle!) Kompensatorische Förderung (oft institutionell) Generelle Prävention: Reduktion von Risiken und Förderung von Schutzfaktoren (Hafen, 2011) 4
Positive Entwicklung Kompetenzen + positive Entwicklung Fähigkeit, die Aufgaben zu bewältigen, welche die Gesellschaft von einer Person in einem bestimmten Alter erwartet - + Gesundheit Fehlentwicklung und Entwicklungsdefizite - - Wohlbefinden - Keine Symptome und Verhaltensauffälligkeiten 5 Was braucht ein kleines Kind für eine positive Entwicklung? Bindung Verlässliche und kontinuierliche Beziehungen: Familiär und ausserfamiliär Exploration Anregungsreiche Umwelt: Sozial und nicht-sozial 6
Frühe Bildung und Förderung im sozialen Kontext Familiäre Beziehungen (Mutter und Vater) sind primär Informelle Netzwerke Verwandte, Freundeskreis der Eltern Formelle Netzwerke / Institutionen Fachpersonen aus FBBE-Angeboten (Kita, Spielgruppen, Tagesfamilien) Fachpersonen aus familienunterstützenden Programmen Zusammenarbeit und wechselseitige Beeinflussung Elternbildung CH Jacobs Foundation 7 Frühe Bildung und Förderung im sozialen Kontext FBBE-Angebote finden meistens im Kontext von Gruppen statt Lernkontext: Form der Peer-Interaktionen Wohlbefinden: Qualität der Peerbeziehungen Gruppenzusammensetzung Sprachkenntnisse der Gruppe beeinflussen den individuellen Lernerfolg Gruppendynamik Teilzeitbetreuung 8
Kinder und ihre Umwelten sind verschieden Eigenschaften des Kindes Umweltfaktoren Biologische Disposition Sozialisation Personeneigenschaften Interaktion Vielfalt von Familien- und Betreuungsmodellen Soziale Benachteiligung und Risikofaktoren Umwelteigenschaften 9 Das Konzept der differentiellen Empfänglichkeit "Outcome") nega%v'''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''posi%v' Differen5elle)Empfänglichkeit) robust' sehr'empfänglich' nega%v''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''''posi%v' Umweltbedingungen) 10
Das Konzept der differentiellen Empfänglichkeit These teilweise bestätigt für Biologische Dispositionen Schwieriges Temperament (Irritierbarkeit, Impulsivität / negative Emotionalität) Plastizitäts-Gene Umwelteinflüsse Familienfaktoren (parenting) Familienergänzender Betreuung (day care quality) (Belsky & Pluess, 2009) 11 Familiäre Risikofaktoren Familiäre Risikofaktoren Bildung der Eltern, Armut, Migrationshintergrund Belastungen und Konflikte in der Familie etc. D.h. Risikofaktoren die verhindern, dass das Kind... eine sichere Bindung aufbauen kann... für die Exploration eine sichere und anregungsreiche soziale und nicht-soziale Umwelt vorfindet Soziale Benachteiligung Kinder, die ihr Potential auf Grund der Umweltbedingungen nicht ausschöpfen können, sind sozial benachteiligt 12
Kompensatorische frühe Förderung Frühe Förderung als Prävention FF von Kindern im familialen und im ausserfamilialen Kontext kann zur Prävention von Entwicklungsdefiziten und Fehlentwicklungen einen grundlegenden Beitrag leisten Frühe Förderung zur Reduktion sozialer Ungleichheiten FF bei sozial benachteiligten Familien oftmals Familien mit Migrationshintergrund Praxis Sehr viel Programme und Angebote werden entwickelt und umgesetzt oft von öffentlicher Hand finanziert 13 Frühe Sprachförderung Ziele Erlernen der Zweitsprache (Deutsch) vor dem Kindergarten Prävention von Entwicklungsdefiziten und Fehlentwicklungen Integration von Eltern und Kindern mit Migrationshintergrund Verschiedene Ansätze sind in DE und CH verbreitet Aufsuchende Programme Eltern-Kind-Gruppen Spielgruppen Kita-Besuch (als kompensatorische Förderungsstrategie) 14
Frühe Sprachförderung Wissenschaftliche Erkenntnisse Wirksamkeit ist schwer zu belegen Mehrwert von speziellen Sprachförderprogramme (gegenüber normalen Bildungsangeboten) konnte bisher noch nicht erwiesen werden Sprachbad ist wichtig für den Zweitspracherwerb (Dauer und Intensität) Qualität der sprachlichen Interaktion ist wichtig für Erst- und Zweitspracherwerb 15 Qualität familienergänzender Betreuung Intensive Forschung zu Auswirkungen von familienergänzender Betreuung Kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten Sozioemotionalen Entwicklung Verhaltensauffälligkeiten (aggressives Verhalten) (Averdijk et al., 2011; McCarntney et al, 2010; NICHD Early Child Care Research Network, 2001; Phillips & Howes, 1987) Positive Wirkung bei guter Qualität speziell für sozial benachteiligte Kinder 16
Qualität in frühkindlicher Bildung und Betreuung: Aktuelle Debatten in Deutschland (Massiver) quantitativer Ausbau der institutionellen familienergänzenden Bildung und Betreuung wie kann Qualität aufrechterhalten werden? Betreuung von unter Dreijährigen in Krippen: Wie sieht hier gute Qualität aus? Ausbildungsniveau von Fachpersonen / Erzieherinnen Weiterbildungsinitiative Akademische Ausbildungen 17 Qualität in frühkindlicher Bildung und Betreuung: Aktuelle Initiativen in der Schweiz Das Qualitätslabel für Kindertagesstätten von KiTaS und der Jacobs Foundation Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (Wustmann & Simoni, 2012) Verein Stimme Q Aus der Praxis motiviert und wissenschaftlich verankert! 18
Was ist gute Qualität? Struktur- und Prozessqualität Rahmenbedingungen und konkretes Handeln Entwicklungsindikator 5 Sicherheit und Ausstattung Entwicklungsindikator 1 Entwicklungs-, Unterstützungsund Lernaktivitäten Entwicklungsindikator 2 Beziehungen und Interaktionen Entwicklungsindikator 6 Personal und Qualifikationen Entwicklungsindikator 8 Gesamtkonzeption Entwicklungsindikator 4 Elternbeteiligung und Familienzusammenarbeit KIND Entwicklungsindikator 3 Integration und Partizipation Entwicklungsindikator 7 Management und Administration Positive kindliche Entwicklung gesund und geschützt sozial und emotional ausgeglichen kindergarten- (schul-)fähig sicher gebunden Stamm, 2011 19 Wie können wir Qualität verbessern? Initiative aus der Praxis Winterthurer Weiterbildungsinitiative Beteiligung der Forschung Empirische Wirksamkeitsüberprüfung Knowledge, attitudes and beliefs (Orientation quality) Training of professionals Interactions and behaviour (Process quality) 20
Überprüfung der Wirksamkeit Basiserhebung Gruppenzuteilung Weiterbildung Nachuntersuchung Vergleich der Gruppen Fachpersonen (Zielgruppe) Weiterbildungs gruppe Kontrollgruppe? 21 Kontinuität der Beziehungen als Qualitätsindikator Teilzeit in CH Kitas Viele Teilzeitmitarbeitende Teilzeitbetreuung für die meisten Kinder Vorteile der Teilzeitbetreuung bedarfsgerecht und kosteneffizient Work-Family-Balance Mehr Kinder können von den Angeboten profitierten (kompensatorische Strategie) 22
Teilzeit- und Vollzeitbetreuung in Kitas Konsequenzen Gruppen setzen sich täglich neu zusammen Herausforderungen bei der Umsetzung der verstärkten Bildungsorientierung Diskontinuität der Peergruppe 23 Teilzeitbetreuung: Fragen aus der Praxis Erarbeitung von Handlungsempfehlungen Auftrag der Stadt Zürich, in Zusammenarbeit mit dem MMI Welche Organisationsformen sind geeignet, um die Stabilität der Kindergruppe und das Erleben von Kontinuität für die Kinder zu erhöhen? (Strukturebene) Wie soll der Alltag und das pädagogische Handeln gestaltet werden, um teilzeit- und vollzeitbetreuten Kindern sowie Kindern mit besonderem Förderungsbedarf gerecht zu werden? (Prozess- und Interaktionsebene) Online-Befragungen von Fachpersonen Workshop mit verschiedenen Akteuren (Fachexperten, Kita- Leitungen, Elternvertretung, Verwaltung) 24
Teilzeitbetreuung: Grundlagenforschung Mediation Peer interactions Peer group characteristics due to flexible day care organisation (Later) Psychosocial adjustment Moderation Child temperament Caregiver-child interactions 25 Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis Wissenschaft Praxis Wechselseitige Kooperation (Keine Einbahnstrasse!) Evidenzbasierte Praxis...a decision-making process that integrates the best available research evidence with family and professional wisdom and values (nach Buysse & Wesley, 2000) Integration von Befunden aus der Wissenschaft mit Praxiserfahrungen 26
Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis Explizite Ziele des Masterstudiengangs Frühe Kindheit Ziel des Masters Frühe Kindheit ist es, Fachpersonen auszubilden, die wissenschaftlich denken und arbeiten sowie Erkenntnisse für die Praxis aufbereiten können. Die beiden Hochschulen verbinden somit durch die Bündelung spezifischer Kompetenzen forschungsorientierte Lehre und handlungsleitende Praxis 27 Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis Die Universität Konstanz und die Pädagogische Hochschule Thurgau bilden mit weiteren spezialisierten Institutionen und Organisationen ein Kompetenznetzwerk Frühe Kindheit 28
Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis Wissenschaftliche Erkenntnisse generieren und verbreiten mit dem Ziel... Qualität von frühkindlicher Bildung, Betreuung und Erziehung zu erhöhen Notwendige und wirksame Fördermassnahmen zu identifizieren und zu unterstützen Förderliche Entwicklungsbedingungen für alle Kinder zu schaffen 29 30