Folgen von Scheidungen für Kinder und Jugendliche Tagung an der Universität Zürich, 23. August 2013 Scheidung Ursachen und Folgen Prof. Dr. Beate Schwarz beate.schwarz@zhaw.ch 1
Scheidungs- Stress- Bewältigungs-Modell nach Amato (2000) Prozess der Ehelösung Elternkonflikte Ehequalität Vorscheidungs- Phase Stressoren verschlechterte Erziehung Verringerter Kontakt zu einem Elternteil Konflikte Eltern Finanzielle Einbussen Weitere Lebensereignisse Negative Entwicklungsfolgen psycho-sozial Verhalten Gesundheit Leistungen Kurzfristige Krise oder chronischer Stress? Protektionsfaktoren Individuelle Ressourcen Soziale Ressourcen Strukturelle Ressourcen 2
Folgen der Scheidung Es gibt keine spezifischen Scheidungsfolgen Im historischen Vergleich kaum Hinweise auf verringerte Probleme in jüngster Zeit (Amato, 2001; Gähler & Garriga, 2012), d.h. Scheidungsfolgen hängen kaum ab - von der allgemeinen Scheidungsrate - Wertewandel Keine deutlichen Geschlechtsunterschiede in den Scheidungsfolgen (Amato, 2001) 3
Altersunterschiede? Eher Manifestationen in alterstypischen, in dem Alter sensiblen Bereichen (Amato, 2000; Schmidt-Denter 2005) - Säuglinge/Kleinkinder: hohe Abhängigkeit bei der Befriedigung ihrer basalen Bedürfnisse (Pflege, Sicherheit Bindung), Trennungsabläufe können schwer vermittelt werden => Ängstlichkeit; Bindungsunsicherheit; aber sehr geringer Kenntnisstand (Leon, 2003) - Kindergarten, Einschulung: Trennungsabläufe werden wahrgenommen, aber noch nicht gut verstanden, wenig eigene Bewältigungsstrategien, kindlicher Egozentrismus => Schuldgefühle; Regression; Schulprobleme (Wallerstein & Kelly, 1980) - Schulalter: realistischeres Verstehen, mehr Bewältigungsressourcen, emotional verunsichert => Selbstwertprobleme, Loyalitätskonflikte; Schulprobleme (Buchanan et al., 1996) - Jugendliche: realistische Wahrnehmung, eigenständige Bewältigung möglich, können Beistand leisten => zu grosse Verantwortungsübernahme; Loyalitätskonflikte aber auch Ablösung; Zukunftssorgen (Finanzen, eigene Partnerschaft); jugendliches Problemverhalten (u.a. Koerner, et al., 2011) 4
Es gibt vermutlich kein Alter, in dem eine Scheidung unmittelbar weniger folgenreich für die Kinder ist als zu anderen Zeiten Aber: Nur Scheidungen vor dem Alter von 5 Jahren hatten langfristige Auswirkungen auf Verhaltensprobleme (internalisierende und externalisierende) bis in die frühe Adoleszenz (Ryan & Claessens, 2013) Unklar woran dies liegt Grössere Sensibilität kleinerer Kinder für familiäre Belastungen? Besonderes Augenmerk auf frühe Umbrüche in Familien 5
Kurzfristige Krise oder chronischer Stress? Unmittelbar nach der Trennung deutliche Probleme bei vielen Kindern/Jugendlichen in verschiedenen Entwicklungsbereichen und in Hinblick auf Erziehung und Unterstützung durch die Eltern (Beelmann & Schmidt-Denter, 1991; Hetherington, 1993; Schwarz, 1999) = Krisenphase - Für die Kinder kommt die Trennung meist sehr plötzlich; zu wenig Kommunikation/Erklärung: 23% niemand hat mit mir gesprochen ; 45% nur kurze Mitteilungen, 5% ausführlich informiert (Dunn et al., 2001) - Kinder (11-14 Jahre) wünschen sich, den Sinn in der elterlichen Entscheidung zu verstehen und in die Überlegungen zu Nachscheidungsregelungen einbezogen zu werden (Maes et al., 2012) Konsolidierung nach 1-2 Jahren, die Probleme verringern sich (Ge et al., 2006; Hetherington, 1993; Ryan & Claessens, 2013) Langfristig haben Scheidungskinder im Durchschnitt etwas mehr Probleme - Unterschiede moderat (Amato, 2001) 6
Klinisch auffällige Scheidungskinder Mehrheit der Scheidungskinder nicht klinisch auffällig In der Krisenphase hoher Anteil, nach der Konsolidierung deutlich verringert - 9 Monate nach Scheidung 54%, nach 3 Jahren 30% über klinischen Cut-Off bei Verhaltensauffälligkeiten (Norm: 20%) (Schmidt-Denter & Beelmann, 1997) Anstieg klinisch relevanter internalisierender Probleme bei Mädchen im Jugendalter (14-18 Jahre): bei Scheidung von 23% auf 41%; ohne Scheidung von 12% auf 17% (Storksen et al., 2005) Substantielle Minderheit von Scheidungskindern zeigt überdauernde psychische Probleme Möglicherweise auch wegen psychischer Probleme der Eltern? 7
Fazit von Mavis Hetherington (1989) Es gibt Gewinner, Verlierer und Überlebende einer Scheidung 8
Stressoren nach der Scheidung, die das Risiko ungünstiger Entwicklungen fördern Im Fokus: (anhaltende) Konflikte der Eltern Verlust des Kontaktes zu einem Elternteil 9
Befinden und Verhalten Elternkonflikte als wesentliche Belastung für Kinder und Jugendliche Unklar, ob Nachscheidungskonflikte stärker wirken als die Konflikte während der Ehe (z.b. Booth & Amato, 2001 vs. Hetherington, 1999) Besonders belastend (Buchanan & Heiges, 2001; Hetherington, 1999; Schwarz, 2009) Nachscheidungskonflikte Koalitionsforderungen der Eltern Kind als Spion/ Nachrichtenübermittler Loyalitätskonflikte Schlechtmachen der Ex-Partner Scheidung kann auch eine Entlastung sein, wenn sie zu einem Ende der Konflikte führt! (Strohschein, 2005) 10
Ist es gut für das Kind, den Kontakt zum ausserhalb lebenden Elternteil zu behalten? Häufigkeit der Kontakte wenig relevant Qualität der Kontakte ist entscheidend - enge Beziehung - Erziehung liebevoll und fordernd - fürsorgliche Kontrolle - Unterstützung bei Schularbeiten aktive Rolle des Vaters als Erzieher - bei jüngeren Kindern: je häufiger die Kontakte, desto besser Beziehung zum Vater (s. Leon, 2003) Regelmässige Unterhaltszahlungen wirken positiv - auf die Kinder - auf den Kontakt Amato & Gilbreth (1999) 11
Kontakt zum ausserhalb lebenden Elternteil Bei jüngeren Kindern geht der Wechsel zwischen den Eltern häufig mit Stress der Kinder einher (u.a. Widerstand gegen Trennung, Anhänglichkeit, Aggression) Kontakte sind eher schädlich bei anhaltenden Elternkonflikten bei Feindseligkeit der Mutter gegen Vater Amato & Gilbreth (1999); Leon (2003) 12
Hilft die Sorgerechtsregelung, negative Auswirkungen der Scheidung abzufedern? Studien aus den USA (Bauserman, 2002): Gemeinsame Sorge (joint legal und joint physical custody) leicht besser als allein Erziehen (Mutter oder Vater) in Hinblick auf: - Verhaltensprobleme (z.b. Devianz, Aggression, Aufsässigkeit) - emotionale Probleme (z.b. Depressivität, Ängstlichkeit) - Selbstbild - schulische Leistungen - Eltern-Kind-Beziehung, Erziehung - Anpassung an die Scheidung Keine Auswirkungen auf die Elternkonflikte! (Maccoby & Mnookin, 1992) 13
Gemeinsame Sorge und Obhut (joint physical custody, shared residential parenting) Kinder leben mind. 30% der Zeit bei jedem Elternteil Zahl steigt in jüngster Zeit (NL: 1998 5%, 2008 16%) Verglichen mit Arrangements, bei denen die Kinder hauptsächlich bei einem Elternteil leben: Eltern kooperieren nicht mehr (häufig «parallele Elternschaft») Haben kaum weniger Konflikte Väter haben flexiblere Arbeitszeiten Kinder haben bessere Beziehung zum Vater und zur Mutter Besseres psycho-sozialem Befinden und Verhalten und bessere Gesundheit Nielsen (2011) 14
Sind die Probleme von Scheidungskindern wirklich Folgen der Scheidung? Nachscheidungsprobleme sind Resultat der Vorscheidungsprozesse (Schwarz, 1999) : Teilweise schon Jahre vor der Scheidung mehr Probleme bei späteren Scheidungskindern Deutlich mehr dysfunktionale Familienprozesse Beides erklärt zu einem Teil die Nachscheidungsprobleme Aber: die mit der Scheidung einhergehenden Stressoren wirken zusätzlich Massnahmen, die dysfunktionale Familienprozesse in vollständigen Familien anzielen sowie Hilfsangebote für Familien nach der Scheidung sind angezeigt 15
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Im Folgenden nicht gezeigte Folien, die aber vielleicht auch interessant sind 17
Dauern die Probleme bis ins Erwachsenenalter an? Erwachsene Scheidungskinder zeigen schlechtere Bildung, geringeres Wohlbefinden, schlechtere Beziehung zu den Eltern (insb. Vater) (Amato, 2010; Amato & Sobolewski, 2001; Schwarz, 2000) In aktuellen Studien: - Kein höherer Cannabiskonsum (Sakyi et al., 2012) - Kein höherer Bedarf an psychiatrischer oder medizinischer Hilfe (Angarne-Lindberg & Wadsby, 2012) - Höheres Risiko für Alkoholprobleme unabhängig von Alkoholproblemen der Eltern (Thompson et al., 2008) Aber - alle Studien retrospektiver Querschnitt - unklar welche Entwicklung seit Scheidung - kaum Faktoren zur Erklärung 18
Wie entstehen die negativen Wirkungen der Elternkonflikte? Herabgesetzte Erziehungskompetenz Zu streng, strafend Inkonsistent vernachlässigend Elternkonflikte andauernde intensive offen ausgetragene ungelöste Emotionale Unsicherheit der Kinder Hohe emotionale Reaktivität Probleme der Emotionsregulation Unsicherheit über Verlässlichkeit von Familienbeziehungen Befinden und Verhalten Modelllernen (Cummings et al., 2006; Davies & Cummings, 1994; Erel & Burman, 1995; Krishnakumar & Buehler, 2000; Schwarz, Stutz, & Ledermann, 2011; Siffert & Schwarz, 2011) 19
Sind die Probleme von Scheidungskindern wirklich Folgen der Scheidung? Passives genetisches Modell: Genetische Disposition der Eltern für Eigenschaften (wie Aggression) ist Ursache der Scheidung und durch Vererbung auch Ursache der Verhaltensprobleme der Kinder Eher nicht bestätigt (z.b. D` Onofrio et al., 2007) 20
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