Neurogene Blasenfunktionsstörung Dr. Mark Koen, FEAPU, Abteilung für Kinderurologie, KH der Barmherzigen Schwestern, Seilerstätte, 4010 Linz Die neurogene Blasenfunktionsstörung stellt eine der seltenen Ursachen der kindlichen Harninkontinenz dar. Dieser Störung, die sowohl die Füllungsphase als auch die Entleerungsphase der Blase betreffen kann, liegen Grunderkrankungen, die mit Störungen der Neuralrohrentwicklung (dysraphische Hemmungsfehlbildung des Rückenmarks und der Wirbelsäule) einhergehen, zu Grunde. Zu diesen zählen die Spina bifida occulta bzw. aperta (SB), die Myelocele sowie die Meningomyelocele (MMC). Das Ausmaß der daraus resultierenden neurogenen und motorischen Defizite kann vielfältig sein und korreliert im Wesentlichen mit der Komplexität und der Läsionshöhe des vorliegenden Neuralrohrdefektes. Die Inzidenz dieser Fehlbildungen in Mitteleuropa beträgt 0,05-0,1%. Die Diagnose wird in der Regel intrauterin mittels Ultraschall gestellt. Neuralrohrdefekte werden unmittelbar postpartal neurochirurgisch versorgt. Der oft vergesellschaftete Hydrozephalus wird während der ersten Lebenstage mit der Anlage eines ventriculoperitonealen Shunts behandelt. Urologische Probleme, die in erster Linie die Blasenentleerung betreffen, bedürfen postpartal selten einer akuten Intervention. Nicht weniger wichtig ist aber ihre genaue und rechtzeitige Diagnostik sowie therapeutisches Management um Spätfolgen möglichst gering zu halten. Ein individualisiertes und dem Alter angepasstes diagnostisches Schema macht dieses möglich. Die Komplexität der Fehlbildungen macht eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Neonatologen, Neurochirurgen, Neuropädiatern, Kinderurologen, Kindernephrologen, Kinderorthopäden, Kinderchirurgen und Kinder- und Jugendpsychologen unerlässlich; nur so ist eine ganzheitliche Betreuung dieser Patienten zu gewährleisten, Die funktionellen Störungen der Blase und des Schließmuskels können sekundäre Veränderungen des oberen und unteren Harntrakts verursachen. Die neurogenen Blasen- und Sphinkterdysfunktionen werden folgenderweise klassifiziert: Typ 1: Detrusorüberaktivität und Sphinkterüberaktivität Typ 2: Detrusorunteraktivität und Sphinkterunteraktivität Typ 3: Detrusorüberaktivität und Sphinkterunteraktivität Typ 4: Detrusorunteraktivität und Sphinkterüberaktivität
Typ 1 Typ 2 Typ 3 Typ 4 Diagnostik: Die urologische Erstuntersuchung beinhaltet: Anamnese: Miktionsverhalten des Neugeborenen Eventuelle Harnwegsinfekte in der ersten Phase des Lebens Läsionshöhe (evtl. MRT der Wirbelsäule) Durchgeführte Eingriffe (neurochirurgische Operationen, Shunt-Legung, etc.) Begleiterkrankungen Stuhlanamnese Klinische Untersuchung: Urologischer und neurologischer Status Ultraschall des Harntrakts: (Nieren, Blase, Hoden) Laboranalyse: (Nierenfunktionsparameter, Elektrolyte, Urinanalyse etc.)
Videourodynamik Fakultativ: DMSA, MAG III Die oben genannten Untersuchungen sollten drei, sechs und zwölf Monate nach der Erstuntersuchung wiederholt werden (fakultativ DMSA, MAG III). Das schnelle Wachstum des Kindes und die damit verbundene funktionelle Entwicklung der Blase im ersten Lebensjahr machen diese engmaschigen Kontrollen notwendig. Anamnese Status Ultraschall Labor Urinanalyse Videourodynamik DMSA/ Mag 3 Erst- US X X X X X X n. 3 Mon. X X X X X X X n.6 Mon. X X X X X X n.12 Mon. X X X X X X (X) 2.LJ X X 3 monatl. ½ jährl. monatlich 1x jährlich 3.LJ X X ½ jährl. ½ jährl. monatlich 1x jährlich 3.-7. LJ X X ½ jährl. ½ jährl. monatlich 1x jährlich ab 7.LJ Individuell (I) I I I I I (X) Tab. 1: Diagnostik und follow-up Modell bis zum Schulalter.
Videourodynamik: Die Untersuchung dient zur zeitgleichen Evaluierung der Blasenfunktion, den Druckverhältnissen in der Blase und der Sphinkterfunktion, weiters der Bildgebung (Blasenform, Blasenhals, evtl. bestehender vesicorenaler Reflux VRR). Dabei sollten Parameter wie funktionelle Blasenkapazität, Compliance, leak-point-pressure, Flow/EMG bestimmt und Phänomene wie Detrusorhyperaktivität, Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, Harnverlust etc. registriert werden. Management und Therapie: Ziel der Behandlung ist die Nierenfunktion zu erhalten und nach Möglichkeit eine Harn- und Stuhlkontinenz zu erreichen. Detrusorhyperaktivität und Sphinkterdyssynergie oder Sphinkter-Insuffizienz bedingt durch die neurogene Störung verursachen eine Inkontinenz. Die Detrusorhyperaktivität und ein erhöhter leak-point-pressure schädigen den Detrusor und führen letztendlich zum Elastizitäts- bzw. Complianceverlust, Fibrosierung und Detrusorhypertrophie. Die daraus resultierende intermittierende wie permanente intravesicale Drucksteigerung führt zu einem sekundären VRR mit konsekutiver Dilatation des oberen Harntrakts. Rezidivierende Harnwegsinfekte und Nierenfunktionsverlust können folgen. Aus den oben genannten Gründen ist eine rasche und effiziente Diagnostik und Therapie von großer Bedeutung. Während in den 80er und 90er Jahren der frühe Beginn der konservativen Therapie mit CIC (intermittierenden Selbstkatheterismus) und anticholinerger Therapie noch nicht etabliert waren, ist diese Therapie heute unumstritten. Konservative Therapie: Das Ziel ist es den physiologischen Druck in der Blase zu erhalten, sowie eine adäquate Blasenentleerung zu erreichen. Das Erstere erfolgt durch orale Gabe von Anticholinergika, bei Problemen mit der oralen Gabe (z.b. Schluckstörung etc.) sowie einer Unverträglichkeit kann Oxybutinin aber auch durch eine intravesicale Instillation appliziert werden. Diese medikamentöse Therapie wird von einem intermittierenden Fremdkatheterismus z.b. durch einen Elternteil (IFK) und später von einem intermittierenden Selbstkatheterismus (CIC oder ISK) begleitet. Die Frequenz des Katheterismus muss dem Alter des Patienten und dem Typ der vorliegenden Störung angepasst werden. Eine sorgfältige Einschulung der Eltern und später des Patienten ist wesentlich. Zur konservativen Therapieeinstellung von MMC-
Kindern gehört eine Stuhlregulierung, diese sollte parallel zu den vorhin genannten Maßnahmen erfolgen, (z.b. Irrigation, Glycerinzäpfchen, Laxantien etc.). Minimal invasive Therapie: Bei Versagen der konservativen Therapie kommen minimal invasive Methoden wie die Injektion des Detrusors und/oder des Sphinkters mit Botulinumtoxin-A zum Einsatz. Damit kann eine vorübergehende (9-12 Mon.) Hemmung der Detrusorhyperaktivität erreicht werden. Die Therapie ist wiederholbar sowie nebenwirkungsarm, eine Vollnarkose ist jedoch notwendig. Operative Therapie: Beim Versagen dieser therapeutischen Maßnahmen müssen invasivere Eingriffe durchgeführt werden, damit kann der erhöhte Druck in der Blase gesenkt, die Blasenkapazität erhöht, sowie die sogenannte soziale Kontinenz erlangt werden. Ileumaugmentation, Detrusorektomie (Autoaugmentation) in Verbindung mit einer Faszienzügel- oder Blasenhalsplastik, artifizielle Sphinkter bei männlichen und Slingverfahren bei weiblichen Patienten im Adoleszentenalter, sind dabei die gängigen Methoden. Ist auf Grund von anatomischen Verhältnissen oder bei Patienten aus Ländern mit niedrigem medizinischem Standard ein Katheterismus nicht möglich kann auch eine kontinente Harnableitung durchgeführt werden. Bei Rollstuhlpatienten erleichtert eine Appendicovesicostomie nach Mitrofanoff oder nach Monti mit einem kontinenten Nabel- oder Unterbauchstoma das Katheterisieren im Sitzen. Die Entscheidung zur Operation sollte in erster Linie nach klinischen Kriterien, aber auch vom Leidensdruck des Patienten bezüglich Kontinenz abhängig gemacht werden. Eine gute Compliance des Patienten ist dafür die Voraussetzung. Über das erhöhte Risiko bezüglich der Entstehung eines Adenokarzinoms im Falle einer Augmentation mit Darmsegmenten muss aufgeklärt werden, postoperative endoskopische Kontrollen sind bei diesen Patienten obligatorisch.
Abb. 2 Ileumaugmentation, und Appendicovesicostomie Insbesondere Patienten in der Pubertät benötigen psychologische Unterstützung hinsichtlich des Selbstwertgefühls und der Abnabelung von den Eltern.. Diese Probleme müssen im Rahmen der Betreuung thematisiert und gegebenenfalls einer professionellen Therapie zugeführt werden. Eventuelle Probleme mit der Sexualität gehören ebenso besprochen und nach Möglichkeit gelöst. Das gemeinsame Ziel aller beteiligten Fachrichtungen ist die soziale Integration wie Unabhängigkeit, sowie physische Mobilität zu fördern. Dies ist nur im Rahmen einer interdisziplinären Betreuung unter Einbeziehen des Patienten und dessen Angehörigen möglich. Um Patienten möglichst viel Zeit und Mühe zu ersparen müssen Untersuchungen zeitlich optimiert und örtlich zentralisiert durchgeführt werden.. Ein häufig auftretendes organisatorisches Problem ist die oft nicht ausreichende Versorgung dieser Patientengruppe im Erwachsenenalter. Um diese spezifische Betreuung weiterhin gewährleisten zu können, ist eine rechtzeitige Kontaktaufnahme und Übergabe des Patienten an eine versierte und interessierte Erwachsenenurologie von großer Bedeutung.