2 Wie gut ist Ihr aktuelles Recruitingmanagement? Recruiting gehört weder zum Tagesgeschäft noch zur Kernkompetenz von Vertriebsführungskräften. Dafür hat man ja schließlich die Personalabteilung. Die Frage ist, wie aktiv der Vertrieb sich in den Bewerbungsprozess einbringen muss, um dort mögliche Fehlentscheidungen zu vermeiden. Seit vielen Jahren bekomme ich in Seminaren zum Vertriebsrecruiting Informationen von Vertriebsführungskräften zu dieser Thematik und zwar nicht nur über das Bewerbungsmanagement im eigenen Unternehmen, sondern auch über Erfahrungen, die Teilnehmer als Bewerber für Vertriebsjobs bei anderen Firmen gemacht haben. Diese Informationen sind ein Indiz dafür, dass in vielen Firmen der Prozess der Suche, Auswahl, Einstellung und Einarbeitung neuer Vertriebsmitarbeiter zu stiefmütterlich behandelt wird dies trotz der nicht zu leugnenden Erkenntnis, dass die Performance von Vertriebsmitarbeitern entscheidend für den Erfolg von Unternehmen ist. Bei allen Zwängen des Tagesgeschäfts sollte sich der Vertrieb immer bewusst machen, dass die Entscheidung, wen man sich als Mitarbeiter ins Unternehmen holt, die wichtigste Entscheidung im Personalbereich überhaupt ist. Fehlentscheidungen sind fatal Fehlentscheidungen haben sowohl monetäre als auch nicht-monetäre Konsequenzen: Sie kosten (viel) Geld und Zeit für zusätzliche Rekrutierungs- und Einarbeitungsprozesse. Sie haben negative Wirkung bei Kunden ( Bei Ihnen ist wohl alle paar Monate jemand anderes zuständig? ). Sie haben negative Effekte für die Führungskraft, da viel Zeit und Energie für zusätzliche Kontroll-, Motivations- und Redelegationsaktivitäten geopfert werden muss. 17
Wie gut ist Ihr aktuelles Recruitingmanagement? 2.1 Besteht in Ihrem Unternehmen Optimierungsbedarf? Es gibt 13 Fragen, die sich Unternehmer und Vertriebsführungskräfte stellen sollten, um sich darüber klar zu werden, wie effizient ihre Rekrutierungsprozesse sind 1. Der folgende Kurztest gibt Ihnen Aufschluss darüber, ob in Ihrem Unternehmen eventuell Optimierungsbedarf im Recruitingprozess besteht. Beantworten Sie hierzu die Fragen. Fragenkatalog: Optimierungsbedarf im Recruitingprozess Ja Nein 1 Fühlen sich Top-Verkäufer von uns angesprochen? 2 Suchen wir in bzw. mit den richtigen Medien? 3 Entwickelt der Vertrieb das Anforderungsprofil für seine Mitarbeiter? 4 Sind unterschiedlich interpretierbare Begriffe im Anforderungsprofil (z. B. Flexibilität) zu den Herausforderungen im Vertrieb klar definiert / konkretisiert? 5 Haben die erfolgsrelevanten Vertriebskriterien im Anforderungsprofil genügend Gewicht? 6 Fühlen sich Top-Verkäufer während unseres Bewerbungsprozesses weiterhin positiv angesprochen? 7 Ist der Vertrieb im Bewerbungsgespräch nicht nur Beisitzer eines Personalmitarbeiters, sondern hat er eine aktive Rolle? 8 Wird ein Zweitgespräch geführt und / oder ein Einzelassessment genutzt? 9 Ist (besonders hinsichtlich der erfolgsrelevanten Vertriebskriterien ) die Vergleichbarkeit der Bewerber gesichert? 10 Wird konkretes Verhalten in der Vergangenheit hinterfragt? 11 Werden Lern- und Entwicklungsbereitschaft bzw. -fähigkeit hinterfragt? 12 Werden neue Mitarbeiter in angebrachtem Ausmaß eingearbeitet? Hält man sich die Tür offen zu geeigneten Bewerbern, die dieses Mal nicht zum Zug kamen? 1 siehe zur Thematik auch: Siegl, Heinz, Stiefkind Recruiting?, Der Vertriebsspezialist, Frühjahr 2013, S. 4 bis 5. 18
Besteht in Ihrem Unternehmen Optimierungsbedarf? 2 Auswertung: Haben Sie Fragen mit Nein beantwortet, könnte bei diesen Aspekten Potenzial hinsichtlich der Vertriebsorientierung beim Recruiting bestehen. Frage 1: Fühlen sich top-verkäufer von uns angesprochen? Egal, unter welcher Berufsbezeichnung Vertriebsmitarbeiter gesucht werden beim Recruiting geht es in der Regel auch um die Suche nach guten Verkäufern. Top-Verkäufer sind rar und begehrt. Sie können sich aussuchen, für wen sie arbeiten wollen. Neben einer attraktiven Tätigkeit, Entwicklungsmöglichkeiten und den Verdienstchancen erfährt hier auch Ihr Employer Branding (Arbeitgeber als Marke, Arbeitgeberimage) steigende Bedeutung. Sie finden in diesem Buch viele Anregungen für den Prozess des Vertriebsrecruitings. Wenn sich allerdings die Kandidaten, die Sie als Wunschkandidaten bzw. Top-Performer einschätzen, nicht bei Ihnen, sondern eher bei einem besser beleumundeten Wettbewerber bewerben, bringt Ihnen auch der beste Rekrutierungsprozess nichts. Viele Tipps für ein besseres Employer Branding finden Sie im Kapitel 5. Frage 2: Suchen wir in bzw. mit den richtigen Medien? Wo informiert sich unsere Zielgruppe? Klassisch in den Printmedien oder eignen sich die verschiedenen Möglichkeiten des Internets besser? Sind soziale Netzwerke wie XING oder Facebook zweckdienlich oder doch besser die Direktansprache? In den letzten Jahrzehnten haben sich die Medien als Werkzeuge für das Recruiting stark geändert. Im Kapitel 6.4.2 lesen Sie mehr darüber, welche Medien sich für Recruitingprozesse eignen. Frage 3: Entwickelt der Vertrieb das Anforderungsprofil? Häufig entwickelt die Personalabteilung anhand einer Stellenbeschreibung das Anforderungsprofil einer Stelle. Da der Vertrieb jedoch sehr viel besser weiß, wie der Job läuft und wie die Kunden ticken, sollten Anforderungen vom Vertrieb oder im Teamplay gemeinsam mit der Personalabteilung festgelegt werden. 19
Wie gut ist Ihr aktuelles Recruitingmanagement? Die wichtigsten Aspekte eines solchen Anforderungsprofils. sollten auch in den Text einer Stellenanzeige bzw. Ausschreibung eingehen und im Auswahlprozess hinterfragt werden. Mehr dazu lesen Sie im Kapitel 6.2. Frage 4: Sind Anforderungen, die unterschiedlich interpretierbar sind, für den Vertrieb konkretisiert? Ein Anforderungsprofil setzt sich zusammen aus verschiedenen Begriffen. Hier ist zu konkretisieren, was solche Begriffe konkret bezogen auf die Anforderungen im Vertrieb bedeuten. BEISPIEl So zum Beispiel für den Begriff Flexibilität: In welcher Hinsicht wird vom Kandidaten Flexibilität erwartet? Der Begriff kann im Vertrieb vieles beinhalten: Bereitschaft zum Umzug, Einsetzbarkeit in unterschiedlichen Aufgabenbereichen, Flexibilität im Umgang mit unterschiedlichen Kundentypen. Erst nach dieser Klärung können Fragestellungen oder Inhalte für Einzelassessments entwickelt werden, die später zu aussagekräftigen Informationen über einen Bewerber führen. Dies ist besonders wichtig, wenn Personen in die Vorbereitung des Auswahlprozesses eingebunden werden, die an der Erstellung des ursprünglichen Anforderungsprofils nicht beteiligt waren. Hier geht das Buch einen Schritt weiter als beim klassischen Anforderungsprofil: mit dem im Kapitel 6.3 dargestellten Anforderungsprofil PLUS werden die Begriffsdefinitionen in einem ersten Schritt konkretisiert. Die Ausführung weiter oben, dass der Vertrieb beteiligt sein muss, gilt hier umso mehr je konkreter die Definitionen werden, desto wichtiger ist der Input des Vertriebs beim Anforderungsprofil PLUS. BEISPIEl: Anforderungsprofil / Anforderungsprofil PlUS So kann einer der möglichen Aspekte des Begriffs Verkaufsgeschick im Anforderungsprofil darin liegen, bei Neukunden einen positiven ersten Eindruck zu erzeugen. Da auch die Bestandskunden für Ihre neuen Mitarbeiter neue Kunden sind, ist dieser Aspekt nicht zu vernachlässigen. Je nachdem, wie Sie erster Eindruck definieren, geht die Konkretisierung im Anforderungsprofi PLUS weiter. Hier können unter anderem körpersprachliche (Blickkontakt, Händedruck, offene Haltung, Spiegeln ) oder optische Aspekte (passende Bekleidung, gepflegtes Aussehen ), das Beherrschen von Benimm- und Verhaltensregeln oder Kommunikationsfähigkeiten (verbaler Einstieg, der Situation entsprechender Small Talk ) wichtig sein. 20
Besteht in Ihrem Unternehmen Optimierungsbedarf? 2 Frage 5: haben die erfolgsrelevanten Vertriebskriterien im Anforderungsprofil genügend gewicht? Erfolgsrelevante Kriterien beziehen sich auf die Frage Was unterscheidet Top- Verkäufer vom Durchschnitt? Dies ist der zweite Schritt zum Anforderungsprofil PLUS. Es sollte hierzu folgende Frage geklärt werden: Welche der Konkretisierungen ist erfolgsrelevant bzw. erfolgskritisch? BEISPIElE Ich habe schon des Öfteren Seminarteilnehmer sagen hören: Wenn mir ein Bewerber nicht richtig in die Augen schauen kann und / oder einen sehr laschen Händedruck (à la toter Fisch) hat, wird er diese negative Wirkung auch bei Kunden haben und kommt deshalb für mich nicht in Frage. Bei Führungskräften mit dieser Einstellung wäre dieser Punkt somit ein erfolgskritisches Kriterium. Der Begriff Kundenorientierung im Anforderungsprofil ist vielseitig interpretierbar. Ein denkbarer erfolgskritischer Aspekt im Vertrieb ist hierbei z. B. die Qualität der Bedarfsermittlung beim Kunden. Dadurch wird nicht nur die Richtung zum optimalen Angebot bestimmt durch Interesse an der Situation und den Bedürfnissen des Kunden wird auch Vertrauen aufgebaut. Vertriebsmitarbeiter, die vorschnell in die Angebotsphase übergehen, erfüllen diesen erfolgskritischen Faktor nicht. Eine Konkretisierung des Anforderungsprofil-Begriffs Abschlusssicherheit kann im Erkennen von Kaufsignalen eines Kunden liegen. Wer diesen erfolgskritischen Faktor erfüllt, bereitet zum geeigneten Zeitpunkt den Abschluss vor wer nicht, argumentiert wahrscheinlich weiter und versucht, die Restmunition, die er noch hat, zu verschießen. Neben der Tatsache, dass die Argumente den Kunden dann möglicherweise nicht mehr sonderlich interessieren, da er innerlich schon zugestimmt hat, besteht die Gefahr, dass Themen angesprochen werden, die den Kunden wieder unsicher werden lassen könnten (siehe hierzu auch Kapitel 6.3.1 ff.). Frage 6: Fühlen sich top-verkäufer auch während des Bewerbungsprozesses positiv angesprochen? Natürlich wollen Sie Bewerbern auf den Zahn fühlen und einen Blick hinter deren Fassade werfen. Vernünftige Bewerber akzeptieren dies auch solange sie es als fair empfinden. Negativbeispiele sind hier so genannte Stressfragen, die unter die Gürtellinie gehen, oder (tiefen-)psychologische Tests oder Fragebögen, die als übertrieben ausgefallen empfunden werden. Wenn Sie im Lauf des Bewerbungs- 21
Wie gut ist Ihr aktuelles Recruitingmanagement? prozesses feststellen, dass Sie einen Bewerber unbedingt haben wollen, wäre es doch schade, wenn er sich wegen solcher negativen Eindrücke inzwischen schon mental für andere Optionen beim Wettbewerb entschieden hätte. Hier kommt wieder der Begriff Employer Branding ins Spiel. Wenn Sie sich bezüglich Ihres Arbeitgeberimages positiv positioniert haben, muss sich dies auch im Bewerbungsprozess niederschlagen (siehe hierzu auch Kapitel 5.4). Frage 7: Ist der Vertrieb im Bewerbungsprozess nicht nur Beisitzer, sondern hat er eine aktive Rolle? Hier sind Teamplay und Absprache der Rollen gefragt. Das Know-how im Personalbereich (z. B. zu rechtlichen Aspekten) und im Vertrieb (Job und Kunden) sollten sich ergänzen. Die Förderung dieser aktiven /aktiveren Rolle ist eines der Hauptziele des Buches (siehe z. B. das Kapitel 7). Frage 8: Wird ein Zweitgespräch geführt und / oder ein Einzelassessment genutzt? Ein Eindruck nach dem Erstgespräch ist gut, die nochmalige Kontrolle dieses Eindrucks ist besser. Im Zweitgespräch können weitere Fragen gestellt werden (oder schon gestellte zur Überprüfung von Widersprüchen nochmals; Stichwort: Lügen haben kurze Beine). Auch kann der Eindruck weiterer Interviewer eingeholt werden. In einem Einzelassessment können in praxisorientierten Rollenspielen, Präsentationen oder Übungen weitere vertriebsorientierte Informationen gewonnen werden (siehe hierzu das Kapitel 9). Frage 9: Ist die Vergleichbarkeit der Bewerber gesichert? Zumindest die Kernfragen und -aufgaben (Einzelassessment) sollten so gestellt und dokumentiert werden, dass die Antworten der Bewerber hierauf vergleichbar werden (siehe hierzu das Kapitel 8). Auch mögliche Bewertungsfehler, z. B. durch Beeinflussung der Wahrnehmung (Wahrnehmungsverzerrungen), sollte man sich bewusst machen und so die Qualität der Vergleichsergebnisse erhöhen (mehr dazu im Kapitel 7.11). 22
Besteht in Ihrem Unternehmen Optimierungsbedarf? 2 Frage 10: Wird konkretes Verhalten des Bewerbers in der Vergangenheit hinterfragt? Fragen nach dem Motto Was würden Sie tun, wenn?, bringen erfahrungsgemäß weniger Informationen als Fragen nach konkretem Verhalten des Bewerbers in der Vergangenheit. Menschen sind Gewohnheitstiere, und die Wahrscheinlichkeit, dass Verhalten immer wieder ähnlich reproduziert wird, ist hoch. Neben dem Anforderungsprofil PLUS finden Sie im Buch eine weitere Methode zur Optimierung des Informationsgehalts die Fragetechnik PLUS bzw. SUSIVEL-Methode (siehe hierzu z. B. das Kapitel 7.6). Frage 11: Werden lern- und Entwicklungsbereitschaft bzw. -fähigkeit hinterfragt? Viele Branchen unterliegen einem dynamischen Wandel mit stets neuen Herausforderungen. Wenn dies der Fall ist, ist nicht nur die bisherige Weiterbildung von Bewerbern zu hinterfragen, sondern auch, wie diese initiiert wurde. Inwieweit ist Eigeninitiative zur Weiterbildung vorhanden? Oder ging die Initiative (nur) vom (ehemaligen) Arbeitgeber aus? In der SUSIVEL-Methode ist dieser Aspekt schon berücksichtigt (siehe hierzu z. B. Kapitel 7.6). Frage 12: Werden neue Mitarbeiter gut eingearbeitet? In der Integrations- und Einarbeitungsphase entscheidet sich vieles, was die kommende Qualität der Performance neuer Mitarbeiter ausmacht. Hier ist die Vertriebsabteilung in der Pflicht. Auch dem Employer Branding kommt in dieser Phase Bedeutung zu. Es wäre doch schade, zuerst viel Geld und Energie in den Bewerbungsprozess zu stecken und dann mangels adäquater Einarbeitung gute Mitarbeiter wieder zu verlieren (siehe hierzu näher Kapitel 11). Frage 13: hält man sich die tür offen zu geeigneten Bewerbern, die dieses Mal nicht zum Zug kamen? Bei künftigem Personalbedarf ist es Gold wert, wenn Sie potenzielle Bewerber haben, die Ihren Auswahlprozess eigentlich positiv absolviert haben, und denen dennoch ein anderer Bewerber vorgezogen wurde. Wenn Sie diesen Pool nutzen, können Sie mit etwas Glück den Aufwand für neue Bewerbungsprozesse minimieren und so viel Arbeit und Geld sparen (siehe zum Thema auch Kapitel 4.7). 23