Der Hund, die Nacht und das Messer

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Transkript:

arius von ayenburg Der Hund, die Nacht und das esser 1

2008 Als unverkäufliches anuskript vervielfältigt. Alle Rechte am Text, auch einzelner Abschnitte, vorbehalten, insbesondere die der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Buchpublikation und Übersetzung, der Übertragung, Verfilmung oder Aufzeichnung durch Rundfunk, Fernsehen oder andere audiovisuelle edien. Das Vervielfältigen, Ausschreiben der Rollen sowie die Weitergabe der Bücher ist untersagt. Eine Verletzung dieser Verpflichtungen verstößt gegen das Urheberrecht und zieht zivil- und strafrechtliche Folgen nach sich. Die Werknutzungsrechte können vertraglich erworben werden von: henschel SCHAUSPIEL arienburger Straße 28 10405 Berlin Wird das Stück nicht zur Aufführung oder Sendung angenommen, so ist dieses Ansichtsexemplar unverzüglich an den Verlag zurückzusenden. F1 2

PERSONEN Der Der Polizist Der Patient Der Arzt Der Hund Diese fünf Rollen werden vom gleichen Schauspieler gespielt. Die jüngere Schwester Die ältere Schwester Der Verbrecher Diese fünf Rollen werden von der gleichen Schauspielerin gespielt. Der Anwalt Die Krankenschwester 3

K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das esser, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Franz Kafka, Der Proceß 4

Die Sackgasse Als ich zuletzt auf die Uhr geschaut hab, war es ein Uhr achtunddreißig, eine heiße Augustnacht. Ich habe keine Ahnung, wie ich hierhergekommen bin, zu Abend hab ich uscheln gegessen, die Straße sieht aus wie mit dem Staubsauger abgezogen, ringsum sind alle Kunststoffjalousien herabgelassen, die Häuser stehen grau mit geschlossenen Gesichtern und strahlen die Wärme vom Tag ab, als hätten sie Fieber. Unter einer Straßenlaterne schau ich auf die Uhr, aber ich kann das Zifferblatt nicht erkennen. Ich weiß nicht, wo ich bin, hinten hat sich die Straße zu einer Sackgasse verschlossen, an der auer steht eine Kiste mit Kies zum Streuen gegen die Eisglätte, aber jetzt ist es heiß. In meinem Rücken spricht plötzlich ein ann. * * * Guten Abend. (Nichts. Der hat eine abgerissene Hundeleine in der Hand.) Haben Sie meinen Hund gesehen? Ich bin nicht aus der Gegend, ich habe mich verirrt. (Der pfeift.) Hören Sie? (an hört jetzt in der Ferne einen Hund heulen.) Das ist er. Er hat sich losgerissen. Diesen Sommer sind die Wölfe tiefer in die Stadt gekommen. Das ist nicht gut. Es lockt ihn. (Er pfeift. Der Hund heult.) Er hat schon lang kein Futter mehr gekriegt, man sieht die Rippen unter seinem Fell. Andre Hunde wären schwach und krank geworden, aber er wird jeden Tag stärker, seine Augen haben geflackert, und die Schenkel vibrierten vor Wut. (Er pfeift.) Wollen Sie nicht aufhören mit dem Pfeifen. Es ist so laut. 5

Sonst hört er es nicht. Helfen Sie mir? (Er pfeift. hält sich die Ohren zu. an hört den Hund leiser heulen.) Er entfernt sich. Können Sie mir sagen, wo wir sind? Gern, ich bin schon immer hier gewesen. (Er pfeift. hält sich die Ohren zu. an hört kaum noch den Hund.) Er ist weg. Sie haben mir nicht geholfen. Wahrscheinlich ist er bei den Wölfen. Einmal hab ich ihn erst nach Wochen zurückgekriegt, da war ihm die Pfote gebrochen und das Ohr zerrissen. (Er pfeift.) Wie? Sie pfeifen so schrecklich. Aber vielleicht war er das gar nicht, und ich hatte seither einen falschen Hund. Ich will nach Hause. Das ist schlimm. Sie haben sich verirrt. Wo sind wir? Ich seh kein Straßenschild. Sind Sie allein? Ich hatte Freunde, wir haben uscheln gegessen. Im August? Aber mir fallen die Gesichter grad nicht ein. Dann wartet niemand auf Sie? Wer? Keine enschenseele. Kommt hier nie ein Auto vorbei? Und niemand ruft die Polizei. 6

Warum die Polizei? Ich will bloß nach Hause. Ich helf Ihnen. Treten Sie aus dem Schein der Straßenlaterne. Aber hier kann ich Ihr Gesicht besser sehen. Das brauchen Sie nicht. Ich kenn den Weg. Sie wissen gar nicht, wer ich bin. Das muß ich nicht. Ich habe das hier. (Er zieht ein langes, blankes esser.) Halten Sie still, ich bring Sie heim. So schlimm wird es nicht sein, oder? (Versucht zu lachen.) eine Schwestern haben Hunger. Ihre Schwestern? Haben Sie keine? Was? Keine Schwestern? Bleiben Sie da stehen. Sie brauchen nicht zu schreien. Hier ist niemand. Hinter den Jalousien ist alles leer. Da sind noch nicht mal Wohnungen. Halten Sie still, sonst tut es weh. (Er schlägt mit dem esser nach und verpaßt ihm einen Schnitt quer über den Bauch.) Au. Sie sind bloß erschrocken. Den Schnitt merk ich kaum, aber alle Gefäße in meinem Körper sind plötzlich entzündet und krampfen. Ich will die Augen aufreißen, aber die sind schon offen. Das war glatt, aber nicht tief genug. 7

(Er holt noch einmal aus. greift nach seinem Arm und nimmt ihm das esser aus der Hand. Es geht schnell und leicht, ohne Kampf.) Was wollen Sie von mir? Ich habe Hunger. Ich rieche dein Blut. Ich rieche deine Angst. Du machst mich heiß. (Er schlägt nach.) Kommen Sie nicht näher. Ich habe jetzt das esser. Das war dumm von dir. Ein glatter Schnitt, und alles wäre vorbeigewesen. Jetzt muß ich dich reißen wie ein wildes Tier. Ich schlage meine Klauen in deinen Nacken. (Er schlägt nach.) (Leise, kraftlos.) Hilfe. Ist jemand hier. Hier bin nur ich. ein Hund ist bei den Wölfen in den Vorstädten. (Der stürzt sich auf und in das esser, das hält. Der hängt sterbend über s Arm.) Wenn der orgen dämmert, wird er zurückkehren an seinen Napf, der leer sein wird. Noch ehe die Sonne über der Siedlung aufsteigt und die Straßen aufs neue erhitzt, wird er dich gefunden haben. Er riecht mein Blut, das jetzt von deine Händen fließt. Das wollt ich nicht. Ich hole einen Arzt. Das Krankenhaus ist voller Sand. Der kommt durch die zerbrochenen Scheiben von der Steppe. Den Ärzten knirscht er zwischen den Zähnen, und ihre Augen sind rot. Die meisten sind schon fortgegangen in die großen etropolen, die andern sind vertrocknet. Vielleicht hält noch einer den letzten Posten vor der Wüste, hat sich im Keller verbarrikadiert und nascht von den Präparaten. Sie müssen nicht sterben. Doch, muß ich. Tu ich. Habs schon getan. Hast du getan. (Er rührt sich nicht mehr.) * * * 8

Sie täuschen sich in mir, ich hab noch nie einen enschen getötet, ich bin nicht jemand, der so was macht. Das esser laß ich stecken in Ihrem Bauch, es sitzt sowieso zu fest. Ich schau meine Hände an, aber ich seh nur die Flüssigkeit, die sich darauf bewegt wie muskulöse Schlangen. Ich heb den Kopf, und jetzt schaut ein halbverschattetes Straßenschild durch die dürren Zweige, und das Straßenschild sagt Papegaai Straat zu mir. Ich schwitze. (an hört in der Nähe das Heulen von Wölfen.) Der ann liegt am Boden. Ich muß hier weg. 9