I. Die deutschen Staaten und die europäische Industrialisierung. 1

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Transkript:

Inhaltsverzeichnis Geschichte kompakt.......................... VII I. Die deutschen Staaten und die europäische Industrialisierung. 1 II. Die leichtindustrielle Phase der Industrialisierung (1770 1840).......................... 13 1. Die institutionelle Revolution................ 15 1.1. Agrarreformen und Agrarrevolution........... 18 1.2. Die Aufhebung der Zunftverfassung........... 27 1.3. Die Herstellung eines einheitlichen Wirtschaftsraumes. 29 2. Erste regionale Ansätze moderner industrieller Entwicklung. 34 3. Die sozialen Folgen...................... 40 III. Die schwerindustrielle Phase der Industrialisierung (1830 1890).......................... 51 1. Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex....... 51 1.1. Die Transportrevolution................. 55 1.2. Der Steinkohlenbergbau................. 63 1.3. Die Eisen- und Stahlindustrie.............. 71 1.4. Der Maschinenbau................... 77 1.5. Das Geld- und Bankwesen............... 79 2. Die Entstehung montanindustrieller Führungsregionen... 84 3. Die sozialen Folgen...................... 93 IV. Die Industrialisierungsphase der neuen Industrien (1880 1914).......................... 101 1. Die nachlassende Dynamik der alten Führungssektoren.. 103 2. Die neue Rolle des Staates.................. 111 3. Der Führungssektorkomplex der neuen Industrien..... 121 4. Die regionale Verbreitung der Industrialisierung....... 132 5. Die sozialen Folgen...................... 137 V. Schlussbetrachtung....................... 141 Literatur................................ 144 Orts- und Sachregister......................... 151 V

III. Die schwerindustrielle Phase der Industrialisierung (1830 1890) 1. Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex In der deutschen Wirtschaftsgeschichtsschreibung der klassischen Phase der Industrialisierung von den n bis in die 1870er Jahre, der auch als Industrielle Revolution oder Take-off -Phase bezeichneten Periode, hat sich die bei dem schwerindustriellen Führungssektorkomplex ansetzende Erklärung für die erfolgreiche nachholende Industrialisierung der Zollvereinsstaaten weitgehend durchgesetzt. Der Begriff des Führungssektors ist der Entwicklungsökonomie entlehnt und bezeichnet den strategischen Kern des Industrialisierungsprozesses. Die Textilindustrie konnte im deutschen Fall trotz einiger bemerkenswerter Ansätze in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rolle eines Führungssektors nicht spielen. Das Wachstum war in der Durchbruchphase der Industrialisierung selbst in den expandierenden Bereichen der Textilindustrie zu einem nicht unerheblichen Teil extensiv. Obwohl die Mechanisierung der Textilindustrie in allen Bereichen seit der Jahrhundertmitte deutliche Fortschritte erzielte und sich das Wachstum in allen Produktbereichen bei gleichzeitig deutlich steigender Arbeitsproduktivität spürbar beschleunigte, erreichten auch die Baumwollspinnereien und Webereien als die modernsten Teilbranchen keine mit der Eisen- und Stahlindustrie oder gar dem Maschinenbau vergleichbare Spitzenstellung auf dem Weltmarkt. Die Lokomotivfunktion in der Industrialisierung der Zollvereinsstaaten übernehmen vier Branchen: der Steinkohlenbergbau, die Eisen- und Stahlindustrie, der Maschinenbau und die Eisenbahnen. Wegen der starken wechselseitigen Verflechtung der Branchen spricht man auch von einem Führungssektorkomplex, in dessen Zentrum die Eisenbahnen standen: zum Bau und Betrieb von Eisenbahnen benötigte man Stahl, Steinkohle und Lokomotiven; für die Stahlproduktion benötigte man Steinkohle und für die Produktion von Steinkohle benötigte man Förderanlagen, Pumpen und andere Maschinen. Für alle Industrien, die genannten und die meisten anderen, standen die Eisenbahnen schließlich als Transportmittel zur Verfügung, das durch die Verbilligung der Transportkosten die erreichbaren Märkte vergrößerte und damit einen weiteren Impuls zur Ausweitung der Produktion lieferte. Einen Ausschnitt der wechselseitigen Verflechtung des Führungssektorkomplexes zeigt das folgende Input-Output-Schema (s. Seite 52). So wurde etwa in den sechziger Jahren 25% der Leistungsabgabe der Eisenbahnen vom Steinkohlenbergbau nachgefragt, während umgekehrt 27% der Stahlproduktion von den Eisenbahnen nachgefragt wurden. Die dominante Stellung innerhalb des Führungssektorkomplexes hatten zweifellos die Investitionen in den Eisenbahnbau inne. Die Investitionen in den Steinkohlebergbau und in die Eisen- und Stahlindustrie müssen dagegen eher als eine Reaktion auf die expandierende Eisenbahnnachfrage interpretiert werden. Verflechtung der Führungssektoren Führungssektor Eisenbahn 51

III. Die schwerindustrielle Phase (1830 1890) Lieferung von/an in % Eisenbahn Kohlenbergbau Stahlproduktion Hochöfen Eisenbahn 0 1 25 Kohlenbergbau 0 2 3 7 7 7 5 12 30 Stahlproduktion 32 36 27 Hochöfen 84 88 92 Quelle: Fremdling, Technologischer Wandel und internationaler Handel, Tab. 58, S. 336. Wachstum Gesamtwirtschaftliches Gewicht Im Folgenden soll deshalb das Führungssektorkonzept am Beispiel der Eisenbahnen genauer betrachtet werden. Nach der auf den amerikanischen Ökonomen Walt Rostow (1916 2003) zurückgehenden Theorie muss ein Sektor folgende Kriterien erfüllen, um als ein Führungssektor bezeichnet werden zu können: 1. ein überdurchschnittliches Wachstum, 2. ein großes und zunehmendes gesamtwirtschaftliches Gewicht, 3. sinkende Produktionspreise bzw. steigende Produktqualität aufgrund von Produktivitätsfortschritten sowie 4. starke Ausbreitungseffekte ( spread effects ) vom Wachstumssektor ausgehend auf andere (abhängige) Sektoren. Alle diese Kriterien wurden in den Staaten des Deutschen Zollvereins während des dritten Viertels des 19. Jahrhunderts fast lehrbuchartig durch den Eisenbahnsektor erfüllt: 1. Die Indikatoren für das Wachstum des Sektors weisen sämtlich eine auch im Vergleich zur Gesamtwirtschaft expansive Tendenz auf. Die Entwicklung der Kapazitäten (Streckenlänge) ist ebenso erstaunlich wie die Entwicklung der Leistungsabgabe (geleistete Tonnen- und Personenkilometer) und das Wachstum der im Eisenbahnbetrieb Beschäftigten (s. Tab. 3). 2. Die außergewöhnlich expansive Tendenz des Wachstums macht aber erst der Vergleich zur Gesamtwirtschaft deutlich. Denn dank des im Vergleich zur Gesamtwirtschaft überdurchschnittlich schnellen Wachstums stieg 52

Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex III. Tabelle 3: Streckenlänge, Beschäftigtenzahl und Leistungsabgabe der deutschen Eisenbahnen 1840 1880 Jahr Streckenlänge (in km) Beschäftigte a Güterverkehr (in Mio. tkm) Personenverkehr (in Mio. pkm) 1840 1850 1860 1870 1880 469 5.856 11.089 18.667 30.125 1.600 26.100 85.600 161.000 272.800 b 3 303 1.675 5.876 13.039 62 783 1.733 4.447 6.479 a ohne Beschäftigte im Eisenbahnbau b 1879 Quelle: Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum, Tab. 2, S. 17, Tab. 7, S. 24; Ziegler, Eisenbahnen und Staat, Tab. A2, S. 551 ff. auch das gesamtwirtschaftliche Gewicht des Eisenbahnsektors. Das galt zum einen für die Beschäftigten (bei Bau und Betrieb), deren Anteil an den Beschäftigten der Gesamtwirtschaft von unter einem Prozent in den vierziger Jahren auf rund 3% in den siebziger Jahren stieg. Noch eindrucksvoller ist der Bedeutungszuwachs des Kapitalstocks, dessen Anteil am Kapitalstock der Gesamtwirtschaft von knapp 3% um 1850 auf etwa 10% Mitte der siebziger Jahren anstieg. Die Ursache für das überdurchschnittliche Kapazitätenwachstum und für die steigende gesamtwirtschaftliche Bedeutung von Kapitalstock und Beschäftigten im Eisenbahnsektor waren die seit der zweiten Hälfte der vierziger Jahre extrem hohen Nettoinvestitionen, die nach einer Schätzung von Rainer Fremdling bereits in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre einen Anteil von bis zu 20% der Nettoinvestitionen der Gesamtwirtschaft erreicht haben könnten. Zwischenzeitlich sank dieser Anteil zwar auf etwa 12% zu Anfang der fünfziger Jahre und zu Anfang der sechziger Jahre ab, aber insgesamt scheint bis Mitte der siebziger Jahre ein anhaltend gutes und nur kurzzeitig unterbrochenes Investitionsklima geherrscht zu haben. 3. Die Frachttarife der deutschen Eisenbahnen sanken während der vierziger bis sechziger Jahre beträchtlich. Zu Beginn des Eisenbahnzeitalters hatten sich die Tarife an den Transportpreisen der Landfuhrwerke orientiert. Es zeigte sich jedoch sehr schnell, dass Tarifsenkungen zu einer deutlichen Steigerung des Transportaufkommens führten, wodurch die Kapazitäten der Infrastruktur, etwa durch eine dichtere Zugfolge, besser ausgelastet wurden. Umgekehrt führte die rasch steigende Nachfrage nach Transportdienstleistungen dazu, dass die Kapazitätsgrenzen überschritten wurden. Um die Nachfrage zu befriedigen, mussten dann weitere Investitionen erfolgten, solange die Kapazitätserweiterung gleichzeitig eine bessere Verzinsung des investierten Kapitals versprach. Teilweise war die Steigerung der Transportkapazitäten bereits beim Bau der Bahnen von den Bahngesellschaften erwartet worden. Da aber der Bahnbau die veranschlagten Kosten in der Regel deutlich überstieg, hatte Transportpreissenkungen 53

III. Ausbreitungseffekte Vorwärtskopplung Rückwärtskopplung 54 Die schwerindustrielle Phase (1830 1890) man zunächst auf den vollen Ausbau der Kapazitäten verzichtet. So ist etwa zu erklären, dass zahlreiche Bahnstrecken zunächst nur eingleisig betrieben wurden, der Unterbau der Trassen aber schon für den späteren zweigleisigen Ausbau ausgelegt worden war. Durch die Verlegung des zweiten Gleises konnte deshalb relativ schnell und mit vergleichsweise geringem Investitionsaufwand eine deutliche Steigerung der Transportkapazitäten erreicht werden. Eine weitere wesentliche Ursache für die Transportkostensenkungen bildete der technische Fortschritt. In diesem Zusammenhang sind in erster Linie die verbesserten Signal- und Bremstechniken zu nennen, die zusammen mit dem zweigleisigen Ausbau der wichtigsten Strecken eine schnellere Zugfolge ermöglichten. Daneben stieg aber auch die Leistungsfähigkeit von Lokomotiven und Güterwaggons, so dass Steigungen leichter überwunden werden konnten und die Tonnage der Nutzfracht pro Zug vergrößert werden konnte, was sich gerade mit dem Beginn des Transports von Massengütern besonders positiv bemerkbar machte. Auch die Nutzungsdauer verschiedener Eisenbahnkomponenten erhöhte sich, indem beispielsweise die Stahlqualität der Schienen verbessert und die Haltbarkeit der Schwellen durch eine spezielle Imprägnierung erhöht wurde. 4. Durch die Senkung der Frachttarife wurden die Eisenbahnen in die Lage versetzt, Wachstumsimpulse für andere Sektoren zu geben. Durch die verbilligte Transportmöglichkeit konnten zunächst Produzenten und (Groß-)- Händler von mittelwertigen Zwischenprodukten und Fertigwaren (etwa Textilien) ihre Absatzmärkte erweitern, und mit der Zeit folgten dann auch mittelwertige und seit den sechziger Jahren auch geringwertige Massengüter (wie etwa die Steinkohle), die wesentlich für das anhaltend hohe Wachstum der Transportleistungen von Eisenbahnen bis in die siebziger Jahre hinein verantwortlich waren. Dadurch kam den Eisenbahndienstleistungen ein Vorleistungscharakter ( Vorwärtskopplungseffekt ) zu, der von der neueren Forschung als ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Wachstums- und Modernisierungsimpuls für andere Sektoren angesehen wird. Annähernd ebenso bedeutsam für den gesamtwirtschaftlichen Ausbreitungseffekt der Eisenbahnen wie die Vorwärtskopplungseffekte waren die aus der realen Investitionsnachfrage resultierenden Impulse ( Rückkopplungseffekte ). Von der Nachfrage des expandierenden Eisenbahnsektors profitierten in erster Linie die Eisen- und Stahlindustrie (Schienen), der Maschinenbau (Lokomotiven) und der Steinkohlenbergbau (Kohle als Antriebsenergie), aber auch andere Branchen wurden erfasst. Das galt insbesondere für die Bauwirtschaft und die Baustoffindustrie, welche die Baumaterialien für die Trassen und die Bahnhöfe lieferte. Auch die Nachrichtentechnik profitierte vom Eisenbahnbau, indem mit dem Netzaufbau der Eisenbahnen gleichzeitig ein Netz von Telegraphenleitungen zur besseren Zugleitung entlang der Trassen gezogen wurde. Von der Eisenbahnnachfrage gingen aber nicht nur direkt, sondern auch vermittelt über die anderen Industrien des schwerindustriellen Führungssektorkomplexes Impulse zur Ausweitung und Modernisierung von Zuliefererindustrien aus. So wurden etwa die Holzindustrie und die Forstwirt-

Der schwerindustrielle Führungssektorkomplex schaft einmal direkt durch Rückkopplungseffekte von der Eisenbahnnachfrage erfasst, indem für die neu errichteten Eisenbahnstrecken neben den Stahlschienen auch gewaltige Mengen von Holzschwellen benötigt wurden. Zum anderen erhöhte sich die Holznachfrage aber auch indirekt durch die Eisenbahnnachfrage, indem der Ausbau der Tiefbauzechen im Steinkohlenbergbau große Mengen von Grubenholz erforderte. III. 1.1. Die Transportrevolution Damit die Eisenbahnen diese Funktion als Führungssektor der Industrialisierung in den deutschen Staaten so erfolgreich ausfüllen konnten, bedurfte es bestimmter Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, die keineswegs in allen europäischen Ländern gegeben waren und die erklären können, weshalb die Staaten des Deutschen Zollvereins gerade während des schwerindustriellen Zyklus der europäischen Industrialisierung so erfolgreich nachholend industrialisierten. Im Folgenden sollen insbesondere zwei Aspekte deutlich werden, welche die Qualität des Eisenbahnwesens als Führungssektor erklären: erstens der frühzeitige und im kontinentaleuropäischen Vergleich rasend schnelle Aufbau des Netzes, und zweitens die Fähigkeit der deutschen Industrie, in relativ kurzer Zeit selbst in der Lage zu sein, die Komponenten der Eisenbahnen in erstklassiger Qualität herzustellen und damit nicht nur vom Import ausländischen Materials unabhängig zu werden, sondern ihrerseits zu einem der weltweit größten Exporteure von Stahl (Schienen) und Maschinen (Lokomotiven) aufzusteigen. Theoretisch ist es vorstellbar, dass die deutschen Staaten in Erkenntnis des Entwicklungspotentials, das in den Eisenbahnen steckte, damit begannen, Eisenbahnen als infrastrukturelle Vorleistung zu bauen. Damit könnte dann eine Entwicklung ausgelöst worden sein, bei der die reale Transportnachfrage relativ schnell in die infrastrukturelle Vorleistung hineinwuchs und bald weitere Investitionen erforderlich machte. Eine solche Vorstellung hat allerdings mit der Wirklichkeit überhaupt nichts gemein. Denn erstens erkannten in den dreißiger Jahren nur sehr wenige Zeitgenossen auch nur ansatzweise die Chance, durch den Bau von Eisenbahnen den industriellen Vorsprung Englands zu verkürzen, und zweitens hatten die deutschen Staaten zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal theoretisch die Möglichkeit, Eisenbahnen in der Größenordnung zu bauen, wie es dann innerhalb von nur zwei Jahrzehnten bis zu Beginn der fünfziger Jahre tatsächlich geschah. Die Verkehrsverhältnisse in Deutschland im 18. Jahrhundert waren selbst gemessen an dem niedrigen wirtschaftlichen Entwicklungsniveau der deutschen Staaten völlig unangemessen gewesen. Bis in die Zeit der napoleonischen Besetzung Westdeutschlands gab es so gut wie keine leistungsfähigen Kunststraßen. Abgesehen von einigen älteren Straßen im deutschen Südwesten gingen die ersten Impulse zum Bau von Fernstraßen von den Franzosen aus, die bereits in den ersten Jahren der napoleonischen Besatzung versuchten, die annektierten westdeutschen Gebiete durch verbesserte Fernstraßenbau 55