Überlegungen zur Leistungsfähigkeit Sozialpädagogischer Lebensgemeinschaften

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Transkript:

Überlegungen zur Leistungsfähigkeit Sozialpädagogischer Lebensgemeinschaften Klaus Wolf Inhalt: 1. Anforderung an alle Formen der Betreuung, die einen neuen Lebensmittelpunkt anbieten 2. Besonderheiten der prof. Lebensgemeinschaften 3. Professionalitätsgewinne 4. Qualitätsmerkmale 1 Anforderung an alle Formen der Betreuung, die einen neuen Lebensmittelpunkt anbieten In sozialpädagogischer Denkart verstehe ich alle Heimerziehungsarrangements also auch professionelle Lebensgemeinschaften als Orte, an denen Kindern und Jugendlichen Ressourcen für die Lösung von Entwicklungsaufgaben zugänglich gemacht werden, darüber hinaus vielleicht auch ihren Eltern und anderen Menschen, die mit ihnen zu tun haben, Ressourcen für die Bewältigung von Problemen, die mit dem Aufwachsen dieser Kinder zu tun haben. Professionelle Lebensgemeinschaften müssen zwei Elemente miteinander verbinden: 1. sie sollen möglichst normale Lebensorte für Kinder und Jugendliche sein oder werden, und 2. sie sollen zugleich ein von sozialpädagogischen Profis angelegtes Lernfeld sein. 1.1 Lebensgemeinschaften als normale Orte Professionelle Lebensgemeinschaften sollen sich nicht grundsätzlich von anderen Lebensorten unterscheiden, an denen Kinder und Jugendliche in einer Gesellschaft aufwachsen so eine der zentralen Anforderungen an eine lebensweltorientierte Betreuung. Sie hat sich aus der Kritik an der Anstaltserziehung entwickelt. Kinder entwickeln in ihrem Lebensfeld Strategien, mit denen sie dort zielgerichtet handeln können, und sie entwickeln Deutungsmuster, mit denen sie sich diesen Ausschnitt der Welt erklären und die ihnen hier als Orientierungsmittel dienen können. Das Lebensfeld kann in diesem Sinne auch immer als ein Lernfeld betrachtet werden: Was kann man hier lernen, was ist hier relevant? Wenn ein ganz andersartiges Lebensfeld arrangiert wird oder sich als unbeabsichtigte Folge von Organisationsentscheidungen ergibt, lernen die Menschen hier Strategien und sie eignen sich Deutungsmuster an, die an anderen Orten Handeln und Orientierung nicht ermöglichen. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie etwas lernen, das sie außerhalb nicht benötigen, und dass sie hier das nicht lernen, was sie außerhalb können müssen. Wenn die Kinder einen alltäglichen Zugang auch zu anderen Lebensfeldern haben, wird dieser Nachteil gemildert oder aufgehoben. Unter günstigen Bedingungen lernen sie ein breites Spektrum an Strategien und Orientierungsmitteln, das es ihnen erleichtert, in unterschiedlichen Feldern zurechtzukommen. 1

Isolation und eine Beschränkung des Zugangs zu anderen Feldern verschärft diesen Effekt hingegen: Es entsteht ein separiertes Innen und ein andersartiges Außen, und die Welt außen erscheint auf Dauer immer fremder. Außerdem werden die Kinder von außen als andersartig betrachtet. Das erleichtert die Stigmatisierung und Selbststigmatisierung. Einerseits sollen die Kinder also an einem möglichst normalen Ort aufwachsen, andererseits aber auch an einem besonderen. Sie sollen hier besondere Ressourcen finden, etwas Seltenes, was knapp ist in der Gesellschaft und was diesen Ort zu einem macht, der darin leistungsfähig ist, Entwicklungsprozesse anzuregen (und nicht etwa: Menschen zu reparieren). Um diese Dimensionen einer pädagogischen Aufladung des Feldes geht es im Folgenden. 1.2 Professionelle Lebensgemeinschaften als besondere Orte Der Unterschied zwischen einem langweiligen und reizlosen Ort und einem anregenden, reizvollen kennzeichnet eine erste Dimension: Welche Anregungen für eine Entwicklung ihrer zum Beispiel musischen oder sportlichen Fähigkeiten finden die Kinder hier? Wird hier das Leben reichhaltig und interessant gestaltet oder verläppert es sich hier in einem banalen Alltag? Sind hier Erwachsene, die sich für meine individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten interessieren, oder haben sie auch hier den Kopf nicht frei, sich um mich zu kümmern? - so kann man aus der Kinderperspektive fragen. Im zentralen Heim waren solche Anregungen wenn es sie denn dort gab oft zentral organisiert. Es gab die Heimfußballmannschaft oder die gruppenübergreifende, heilpädagogische Töpfer-AG. Diese Organisation eines anregungsreichen Feldes ist oft nicht besonders gut gelungen und hat wenn es ganz ungünstig lief diese Art der Freizeitbeschäftigungen so diskreditiert, dass man sich davon nicht mehre erholt hat und z.b. nie wieder in seinem Leben töpfern wollte. Es hat außerdem leicht ungünstige Nebenwirkungen produziert, so die Heimfußballmannschaft eine Fixierung auf das Heim und die Identität als Heimkind. Mit der Dezentralisierung sind sie weggefallen. Jetzt so die Idee sollten die Kinder und Jugendlichen an den Angeboten des sozialen Umfeldes partizipieren. Das war und ist ein grundsätzlich sinnvoller Normalisierungsgedanke. Aber was ist daraus geworden? Man ist jetzt manchmal an ein Feld verwiesen, in dem solche Möglichkeiten fehlen, nicht nur für die Kinder, die professionell betreut werden, sondern für alle Kinder. Aber das macht es nicht weniger mangelhaft. Oder ihnen ist der Zugang zum örtlichen Sportverein versperrt, weil sie die dort gestellten Erwartungen nicht erfüllen können. Integration zu betreiben, ist ein aufwendiges Geschäft, das mit Ausschlussaktivitäten des Feldes, in das man (sich) integrieren möchte, rechnen muss. Nachdem der zentrale Organisationsrahmen entfallen ist, bleibt es neben den Attraktionen im Sozialraum den einzelnen Pädagoginnen vor Ort überlassen, wie anregungsreich das Leben hier ist. Ist die professionelle Lebensgemeinschaft lediglich ein Ort der Aufbewahrung eines zwar normalen, aber eben auch normal reizlosen Lebens, oder treffen die Kinder hier auf Pädagoginnen, die etwas zu bieten haben? Die Antwort klärt eine Dimension der pädagogischen Aufladung. Eineweitere bezieht sich auf die Zeit und das Interesse für das einzelne Kind. Trifft es hier auf Menschen, die den Kopf frei haben, um sich auf das einzelne Kind einstellen zu können, die es genau kennen und bei den alltäglichen Problemen zur Verfügung stehen? Es macht einen Unterschied, ob mich die Menschen gut kennen, ob ich gefragt werde "was ist heute los mit dir?" oder ob gar keiner merkt, dass etwas passiert ist. Es ist nicht unwichtig, ob man nur erwartet, dass ich in der Gruppe keinen Ärger mache und alles in der Schule gut geht, oder ob ich Adressaten habe für ein Gespräch über den Liebeskummer, einen ungerechten Lehrer oder 2

darüber, dass meine Mutter sich nicht gemeldet hat, obwohl sie es doch versprochen hat. Eine Aufladung mit solchen Ressourcen bedeutet, dass diese Möglichkeiten nicht dem Zufall überlassen bleiben, sondern dass hier die Erwachsenen grundsätzlich dafür Sorge tragen. Zwar kann es auch dann einmal Situationen geben, wo man das nicht findet, was jetzt gut wäre, aber wenn es grundsätzlich zu finden ist, bleibt es ein entwicklungsfördernder Ort. Eine weitere Qualität besteht darin, ob die Profis hier Konflikte moderieren können, die im Beziehungsgeflecht des Kindes und einer Familie auftreten. Es erleichtert die Bewältigung der schwierigen Loyalitätskonflikte mit der Herkunftsfamilie, wenn die Betreuerinnen damit gut umgehen können, wenn sie meine Mutter nicht herabsetzen und verächtlich über sie reden, wenn sie mithelfen, dass sie ihre Versprechen einhalten und es zu vernünftigen Absprachen kommen kann. Es ist ein Vorteil, wenn die Mitarbeiterinnen auch mit der Polizei, mit Lehrern und Jugendamtsmitarbeiterinnen kompetent umgehen können. Die Vorbereitung eines Hilfeplangespräches mit dem Jugendlichen, die Klärung und Abstimmung mit den anderen machen unsinnige Entscheidungen, falsche Schuldzuschreibungen und Eskalationen unwahrscheinlicher. Damit kein zu idyllisches Bild entsteht, sei auch betont, dass eine pädagogische Aufladung auch darin besteht, dass hier Erwachsene sind, die Konflikte aushalten und austragen können und die die Konflikte in konstruktiver Weise gestalten. Mathias Schwabe (2000) hat hierzu methodische Vorschläge ausführlich dargestellt. Dabei wird auch deutlich, wie selbstverständlich der Konflikt zum pädagogischen Alltag gehört und wie destruktiv Konflikte verlaufen, wenn die Pädagogin ihnen so lange ausweicht, wie es geht, d.h. bis ihr der Kragen platzt oder bis andere Menschen und Institutionen i.d.r. sehr hart die Grenzen setzen. Der konstruktive Umgang mit Konflikten ihre Gestaltung, das Jonglieren mit ihnen oder die Beoder Entschleunigung begünstigt neue Erfahrungen und das Lernen wichtiger Strategien. Bessere Entwicklungschancen findet man außerdem an einem Ort, der überschaubar und berechenbar ist. Ein Ort wird zum Zuhause auch dadurch, dass man dort die ritualisierten Abläufe gut kennt und sie sich zu Eigen gemacht hat und dadurch, dass die eigene Zugehörigkeit in gemeinsamen Symbolen repräsentiert ist. Ich kann nur zielgerichtet handeln und realisierbare Zukunftsvorstellungen entwickeln, wenn die Welt auch morgen ungefähr noch so ist, wie sie heute ist (Wolf 2002). Außerdem kann ich meine Aufmerksamkeit auf andere Fragen und damit auch: Entwicklungsaufgaben richten, wenn ich ein Gerüst an vorhersehbaren Strukturen, etwa des Tagesablaufes, habe. Lebe ich an einem Ort, an dem alles fließt, verbrauche ich viele Ressourcen, um die alltägliche Orientierung zu leisten. So problematisch die Reglementierungen und Ritualisierungen in der Anstalt waren, so schwierig ist es auch in einem Feld zu leben, in dem alles unberechenbar ist. Matthias Dalferth (z. B. 1999, S. 390 f) beschreibt einige Beispiele für einen zu niedrigen Standard der Ritualisierung: Kaum noch gemeinsame Mahlzeiten und kommunikative Bezugspunkte, kaum noch gemeinsame Feste (einschließlich vergessener Geburtstage) an gesellschaftlich etablierten Feiertagen (etwa Weihnachten) werden an Ausweichterminen gefeiert, oder Wochentage und Feiertage ähneln sich in ihrem Ablauf. Man mag einwenden, das sei heute in vielen Familien auch so und die professionellen Lebensgemeinschaften befinde sich somit auf der Höhe der Zeit. Hier werden solche Prozesse aber besonders prekär, weil sie viel stärker als Familien darauf angewiesen sind, zum Beispiel das Zusammengehörigkeitsgefühl erst zu entwickeln, oder ihren Mitgliedern das Angebot eines Zuhauses als Lebensmittelpunkt erst glaubhaft machen müssen: Wenn der Neue sich einfach auf meinen Platz setzt oder meinen Becher benutzt, dann hat das hier eine größere Brisanz, als wenn der Gast in einer Familie sich so verhält. Die Nachteile der Ritualisierung in Anstalten sind völlig zu Recht kritisiert worden, und eine Rückkehr ist weder zu ihren Inhalten noch zu den Prozessen ihrer Herstellung sinnvoll. Die Entwicklung an- 3

gemessener Strukturen und Rituale ist damit wiederum eine Aufgabe geworden, die die einzelne Lebensgemeinschaft leisten muss. Und wegen der Entstandardisierungen insgesamt in der Gesellschaft ist dies eine besonders anspruchsvolle Aufgabe. Wieder eine andere Dimension besteht darin, einen Raum zur Verfügung zu stellen, der durch das Nachdenken über Erziehung bestimmt (Winkler 1988: 243) ist. Dies verweist gerade auf die Unterbrechung der natürlichen Abläufe: das Nachdenken über die Erziehung und damit über die eigene Person des Erziehers oder der Erzieherin und die distanzierende Selbstreflexion. Das wird zum Beispiel an der Definition realistischer Erziehungsziele deutlich, also der Frage, ob die angestrebten Ziele an den Möglichkeiten dieses konkreten Kindes ausgerichtet werden (siehe unten). Schließlich der heikelste Punkt: die emotionale Qualität der Beziehungen. Geht es um Liebe? Können wir Liebe garantieren zu den beruflich betreuten Kindern? Das ist wohl nicht möglich aus mehreren Gründen. Immanuel Kant (1966: 532 f) schrieb: Liebe ist eine Sache der Empfindung, nicht des Wollens und ich kann nicht lieben, weil ich will, noch weniger aber, weil ich soll... mithin ist eine Pflicht zu lieben ein Unding. Dieser präzisen Argumentation sollten wir uns nicht oberflächlich entziehen. Sind professionelle Lebensgemeinschaften also lieblose Orte? Henning Trabandt (1991) hat wohlbegründet für einen bescheideneren Maßstab plädiert, nämlich Wohlwollen anzustreben. Ein wohlwollender Umgang, der die emotionale Zuwendung nicht allein danach bemisst, ob sie nun verdient ist, und sie nicht als ein funktionales Erziehungsmittel ge- und missbraucht, das wäre und ist schon eine besondere Qualität. Auch das kann man ja gerade in Lebensgemeinschaften beobachten: dass es nicht nur nach Leistung und Gegenleistung geht, sondern dass hier pädagogische Profis am Werk sind, die auch mit schwierigen Menschen freundlich und wohlwollend umgehen können. Diese Qualitäten in der Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen und ggf. auch unter den Kindern selbst, sind für das Lebensgefühl, aber auch für die Entwicklungschancen sicher besonders wichtig. 2 Besonderheiten von professionellen Lebensgemeinschaften Werner Freigang und ich (2001) haben uns bemüht, das besondere Profil unterschiedlicher Heimerziehungsarrangements herauszuarbeiten. Dabei fallen insbesondere zwei Merkmale professioneller Lebensgemeinschaften auf. 2.1 Das hohe Niveau gegenseitiger Abhängigkeit Mich hat über mehrere Jahre die Frage beschäftigt, wie Machtunterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern in unterschiedlichen Heimerziehungsarrangements entstehen, verstärkt oder abgeschwächt werden (Wolf 1999). Dabei sind komplexe Prozesse deutlich geworden, in denen Kinder von ihren Erzieherinnen und die Erzieherinnen von den Kindern auf unterschiedliche Weise und aufgrund unterschiedlicher Machtquellen abhängig sein können. Die Kennzeichnung als Abhängigkeit soll keine falschen Assoziationen auslösen. Mit dieser relativen Abhängigkeit ist gemeint, dass den Menschen nicht gleichgültig ist, was die anderen denken, fühlen und tun. Alle Menschen, die in einer Beziehung zueinander stehen, sind in diesem Sinne abhängig voneinander. 4

Die Abhängigkeit kann stark oder schwach sein, es kann eine gegenseitige starke Abhängigkeit bestehen wie oft in Liebesbeziehungen, in denen man besonders daran interessiert ist, was der andere tut, denkt und fühlt oder eine geringe. Sie kann einseitig sein der eine ist vom anderen sehr abhängig, dieser von ihm aber kaum oder es besteht ein geringes Machtdifferential, beide sind annähernd gleich abhängig voneinander. Die Abhängigkeit kann außerdem auf sehr unterschiedlichen Machtquellen beruhen. So kann der eine vielleicht auf die Versorgung durch den anderen oder auf dessen materielle Leistungen angewiesen sein und jener hat eine besondere Zuneigung zum anderen. Weitere Machtquellen sind der Einsatz körperlicher Überlegenheit, oder der von institutionalisierten Machtmitteln, oder ein Überhang an Orientierungsmitteln. Überall wo Menschen zur Befriedigung von Bedürfnissen oder zur Vermeidung von Unlust auf andere Menschen angewiesen sind, spielen solche Machtprozesse eine Rolle. Vergleicht man das Profil der gegenseitigen Abhängigkeit in unterschiedlichen Heimerziehungsformen, dann wird deutlich, dass die gegenseitige Abhängigkeit in Lebensgemeinschaften höher ist als in anderen Arrangements. Ich will das zunächst am Beispiel der Versorgung illustrieren. Mitarbeiterinnen in Lebensgemeinschaften sehen den Fleck, den ihnen die Kinder auf ihr Sofa gemacht haben, jeden Tag. Sie müssen sich schon anstrengen und komplizierte Inszenierungen kreieren, wenn sie etwas anderes essen wollen als die Kinder, und wenn das Kind die Wäsche falsch sortiert, war ihre Wäsche weiß und ist es nun nicht mehr. Das alles kann den Kolleginnen im Heim nicht passieren: Die müssen ihr Sofa zu Hause selber bekleckern, können sich sehr leicht vom Heimessen erholen, und was die Wäsche betrifft, kann schon gar nichts passieren. Während die Mitarbeiterinnen in Lebensgemeinschaften weitgehend den gleichen Lebensbedingungen unterliegen wie die Kinder auch, sind die Erzieherinnen in anderen Heimerziehungsarrangements viel unabhängiger. Sie unterliegen den Lebensbedingungen der Kinder nur zum Teil und nur solange sie selbst im Dienst sind, außerhalb des Dienstes sind sie davon unabhängig. Dabei ändert sich die Sache schon, wenn sie im Heim übernachten müssen. Dann sind die Erzieherinnen, die Nachtdienst leisten müssen, stärker auf die Lebensbedingungen angewiesen, als ihre Kolleginnen früher und erst recht als die Leitungsmitarbeiter. Auch die gegenseitige emotionale Abhängigkeit ist in Lebensgemeinschaften fast immer größer als in anderen Heimerziehungsarrangements. Dass die Kinder von den Erwachsenen emotional abhängiger sein können als in Heimgruppen, leuchtet vermutlich unmittelbar ein. Sie haben nicht die Auswahl zwischen so vielen Erwachsenen wie im Heim und was bedeutungsvoller ist die Mitarbeiterinnen können im alltäglichen Zusammenleben für die Kinder Leistungen erbringen, die anderenorts schwer zu erbringen sind. Gemütliche Situationen, in denen ein Kind nicht mit vielen anderen um die Zuneigung konkurrieren muss, ungestörte Gesprächssituationen, nicht gesondert durch Rückzug ins Erzieherzimmer organisiert, sondern sich unauffällig neben den Verrichtungen des Alltags ergebend, sind hier sehr viel wahrscheinlicher. Auch der Spielraum, persönlichen Stärken zum Tragen zu bringen, ist größer. Entlastet von einengenden Rollenvorschriften und in einem eindeutig privaten Raum handelnd, können sie Seiten von sich zeigen, die im Heim irritierend wären. Insofern haben die Erwachsenen hier mehr zu bieten und sie können damit grundsätzlich auch Wichtigeres vorenthalten. Das ist die eine Seite der Machtbalance. Aber auch die Mitarbeiterinnen sind abhängiger von den Kindern als die meisten ihrer Kolleginnen im Heim. Dieser Aspekt die emotionalen 5

Wirkungen der Kinder auf uns Erwachsene ist in der Erziehung weniger im Blick als der andere. Und natürlich haben auch die Kinder etwas zu bieten: etwa ihre unmittelbare Art, Gefühle zu zeigen, ihre Körperlichkeit im Umgang mit den Erwachsenen, ihr Witz, ihre Sprachkonstruktionen und ihre Art zu fragen und die Welt kennen zu lernen, lassen die Erwachsenen nicht gleichgültig, sondern machen einen spezifischen Reiz der Kinder aus. Auch wenn die Kinder, die sehr belastende Lebenserfahrungen gemacht haben, in ihrer Lebenslust nicht ungebrochen sind, verbleiben doch wohl immer besondere emotionale Leistungen, die die Erwachsenen sich erhalten wollen und deren Verlust Eifersucht und Verletzungen auslösen kann. In Lebensgemeinschaften erleben sich Erwachsene und Kinder damit intensiver und oft weniger gefiltert, und dies führt neben den belastenden auch zu einem größeren Spektrum schöner emotionaler Erfahrungen mit den Kindern. Kurz zusammengefasst: Wenn die Mitarbeiterinnen die Kinder verlieren, verlieren sie etwas, und sie werden nicht nur von Belastungen befreit. Diese grundsätzlich vorhandene Wechselwirkung hängt in ihrer Ausprägung im Einzelfall von vielen Faktoren ab. Die Lebenserfahrungen der Kinder und die der Erwachsenen spielen eine Rolle, etwa die Liebesbedürftigkeit, die sich Erwachsene und Kinder erhalten haben, andere wichtige Beziehungen verändern das Feld, und das Alter der Kinder und die Dauer der gemeinsamen Geschichte des Zusammenlebens führen zu unterschiedlichen Ausprägungen. Jenseits solcher Einflussfaktoren sind größere gegenseitige Abhängigkeiten und dichtere Beziehungen hier viel wahrscheinlicher als in anderen Heimerziehungsarrangements. In dieser größeren gegenseitigen Abhängigkeit liegt eine besondere Chance für günstige Lebens- und Erziehungsbedingungen und eine besondere Gefahr, wenn Lebensgemeinschaften völlig misslingen. Damit ist ein Feld konstruiert, in dem die Bedürfnisbefriedigung auch für die Erwachsenen systematisch notwendig ist. Wenn sie hier nicht erfolgen kann, an ihrem privaten Lebensort, dann bleiben nicht so viele Alternativen. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass nicht nur eine Erziehungseinrichtung konstruiert wird, in der der Zweck der Menschenveränderung dominiert, sondern zunächst ein Feld, in dem Menschen leben können, sich wohl fühlen wollen, vielleicht ein Stück schönes Leben zu realisieren suchen. 2.2 Implizite Erziehung Bei der impliziten Erziehung sollen die pädagogischen Ziele nicht in erster Linie durch einzelne pädagogische Maßnahmen erreicht werden, sondern sie sind eingebettet in das Zusammenleben (vgl. Niederberger, Bühler-Niederberger 1988). Hier kommt es sehr darauf an, wie das Kind die arrangierten Lebensbedingungen erlebt, wie es das, was die Erwachsenen tun, interpretiert, welche eigenen Gestaltungsmöglichkeiten es wahrnimmt. Nur dann so dieses Selbstverständnis ist ein pädagogischer Umgang möglich, also einer, der das Kind nicht nach einem vorher festgelegten standardisierten Bild formen will etwa als Fabrikation des zuverlässigen oder normalen oder gesunden Menschen sondern ein Umgang, der die eigene, auch eigenartige Entwicklung dieses Kindes mit Herman Nohl (1988: 169): damit es zu seiner Form komme anstrebt. Nun hat uns zu interessieren, wie die Kinder das Leben in unseren Einrichtungen wahrnehmen, was ihnen das Leben hoffentlich lebenswert macht, worunter sie bei uns leiden, welche Zukunftshoffnungen oder Ängste hier wachsen. Hierin haben professionelle Lebensgemeinschaften offensichtlich eine besondere Stärke. 6

3 Professionalitätsgewinn Wenn Lebensgemeinschaften professionell organisiert werden, verspricht man sich davon einen Vorteil. Auf welche Professionalitätsgewinne kann man dabei setzen? 3.1 Definition angemessener Erziehungsziele Die Vorstellung, man müsse Kinder nur aus schlechten in gute Verhältnisse bringen, dann seien sie geheilt und würden sich gut entwickeln, ist zu simpel und wird den Menschen nicht gerecht. Die bisherigen Lebenserfahrungen können nicht einfach vergessen, verdrängt, tabuisiert und ungeschehen gemacht werden, sondern die Deutungsmuster der Kinder und ihre Strategien sind in ihren bisherigen Lebensverhältnissen entstanden. Daher ist es angemessen, sich vorzunehmen, dass belastende Lebenserfahrungen durch menschenfreundlichere, lebensbejahende Erfahrungen ergänzt werden, dass die Kinder entlastet werden von einigen Problemen, den Kopf ein wenig freier bekommen und so neue Entwicklungen für sie möglich werden und dass sie es wagen können, aus relativ sicheren Verhältnissen zurückzublicken, manches neu zu bewerten und neu zu sortieren. Insbesondere dieses Umorganisieren von Erfahrungen, diese relative Verschiebung von Gewichten bei der Interpretation der Lebenserfahrungen, können wir anregen, begleiten, wir können dazu ermutigen und lernträchtige Lebensbedingungen schaffen. Es vorzuprogrammieren oder als Verhaltensänderung der Kinder zu organisieren, vermögen wir nicht. Unrealistische Ziele, die etwa solche Prozesse negieren, führen leicht zu Misserfolgserlebnissen für die Erwachsenen und auch, um diese ertragen zu können, zu Schuldzuschreibungen an die Kinder oder zu Versagenserfahrungen der Pädagogen mit dem damit verbundenen Motivationsverlust (vgl. Niemeyer 1993). In der Untersuchung der Planungsgruppe Petra und andere (1995), die ich aus anderen Gründen kritisiert habe (vgl. Wolf 1998), wird darauf hingewiesen, dass über 90 % der Erziehungsstelleneltern die Arbeit als sehr belastend oder z.t. sehr belastend bezeichnet und 65 % zugleich festgestellt haben, sie mache ihnen viel Freude und weitere 33 %, sie mache ihnen teilweise viel Freude. Dies interpretiere ich in diesem Sinne: Hier geht beides zusammen. Wenn aber die starke Belastung nicht durch Freude ergänzt wird, dann würde es hier besonders schnell unerträglich, da man nicht ausweichen kann in ein anderes etabliertes Lebensfeld, und da die eigene Persönlichkeit, mit Haut und Haaren oder besser formuliert, mit Seele und Körper, mit diesem Arbeitsfeld verwurzelt ist. Hierin liegt die Bedeutung einer professionellen Definition von Erziehungszielen, also einer, die Kinder nicht an Entwicklungszielen von Kindern, die gänzlich andere Lebenserfahrungen gemacht haben, misst. Ich befürchte übrigens, dass unsere Praxis der Hilfeplanung genau diesen Fehler etabliert, nämlich, sich an einem Normalitätsmodell zu orientieren etwa dem eines normalen Kindes oder dem einer normalen Familie, um die Familien und Kinder an diesem Normalitätsmodell zu messen, Defizite festzustellen und den Erfolg der pädagogischen Intervention an der Beseitigung dieser Defizite festzumachen. Dies führt eher zu unrealistischen und ungerechten Erziehungsund Entwicklungszielen, weil die bisherigen Lebenserfahrungen der Kinder dabei nicht sys- 7

tematisch berücksichtigt werden. Insgesamt gibt es also gute Gründe anzunehmen, dass gut ausgebildete Mitarbeiterinnen eher realistische, angemessene und gerechtere Ziele definieren, leichter durch Beratung und Supervision Hilfen in Anspruch nehmen können, die ihnen bei der Bewältigung und manchmal auch nur beim Aushalten schwer erträglicher Situationen und Phase nützlich sind und ihre eigenen Einstellung und Sichtweisen bearbeiten können und damit neue Erkenntnisse und neue Handlungsmöglichkeiten gewinnen. 3.2 Keine Menschenreparatur, sondern Entwicklung als Eigenleistung des Subjekts Laien sehen sozialpädagogische Institutionen oft als Reparaturbetrieb. Sie zählen auf, was alles an diesem Kind, jenem Jugendlichen oder dieser Familie nicht in Ordnung ist, was abweicht, gestört, anormal oder sonst noch unerwünscht anders ist. Die Erwartung an die Fachkräfte in den sozialpädagogischen Institutionen ist: repariert das macht sie normaler, baut die Störungen ab, redet ihnen ins Gewissen, macht halt irgend etwas, weil so, wie er oder sie jetzt ist, soll er oder sie nicht bleiben. So kann es nicht gelingen wie die Theorie weiß und die Praxis jeden Tag belegt. Es bedarf besonderen Wissens und besonderer Fertigkeiten, um Entwicklungen anzuregen. Die Notwendigkeit eines solchen Überhangs, gerade auch in einem Feld des alltäglichen Zusammenlebens, möchte ich an drei Beispielen illustrieren: 1. Das Verstehen der Kinder gelingt eben oft nicht einfach so, naturwüchsig, sondern es erfordert eine anspruchsvolle Dechiffrierung der Lebenserfahrungen der Kinder, das Entziffern der Bedeutungen ihrer zunächst merkwürdigen Verhaltensweisen, die sich dann oft als durchaus funktionale Strategien in ihrem bisherigen Lebensfeld verstehen lassen. Dort, wo das intuitive Verstehen an seine Grenzen stößt, sind solche professionellen Strategien sinnvoll und notwendig. Sie eröffnen das Verstehen im Sinne von Dechiffrieren also in seiner kognitiven Dimension, zu kapieren, was da passiert und im Sinne des Einfühlens also des emotionalen Verstehens, das eine ablehnende Haltung unwahrscheinlicher macht. Gelänge diese Dechiffrierungs- und Verstehensarbeit nicht, wird gerade das dichte Zusammenleben bei der Verflechtung von Bedürfnisbefriedigungswünschen schnell unerträglich. 2. Wenn das Kind Entwicklungsaufgaben zu einem späten Zeitpunkt nachholen muss, erfordert dies anspruchsvollere Arrangements. Die Lernhilfe wird schwieriger. Betrachten wir ein anrüchiges Beispiel. Wenn man dem Kind etwa im dritten oder vierten Lebensjahr nicht beigebracht hat, wie man sich selbst den Po abwischt und das bei dem Achtjährigen nachholen muss, dann erfordert das höhere Ansprüche an den Takt und an das Arrangieren einer Lernsituation. Wo der eine mit charakterbezogenen Kausalattribuierungen herumfuchtelt das Kind sei eben ein Ferkel, erkennt der andere eine vorenthaltene Lernchance und kann entsprechend handeln. 3. Eine Lebensgemeinschaft ist dann ein pädagogischer Ort, wenn die Ziele, die man anstrebt, an den Möglichkeiten dieses konkreten Kindes ausgerichtet werden. Man ist dann nicht darauf angewiesen, die Beurteilungskriterien aus dem Vergleich dieses Kindes mit so genannten Normalbiographien und daraus abgeleiteten Entwicklungsstandards zu gewinnen, sondern sie aus dem Vergleich mit den bisherigen Lebenserfahrungen des Kindes und seinen aktuellen Möglichkeiten herauszuarbeiten. Das erfordert fundierte Einschät- 8

zungen, was nun unter günstigen Bedingungen erreichbar ist und was wohl auch jetzt nicht erreichbar sein wird. Dieser Maßstab ist angemessen man könnte auch sagen: er ist der einzig gerechte und so wird es leichter, die manchmal klein erscheinenden Entwicklungsmöglichkeiten zu nutzen, und sie nicht zugunsten von Illusionen auf ein ganz neues Leben zu verschenken. Das ist eine Kunst. Es gelingt im Alltag so einfach nebenher nicht. Diese gerechten Maßstäbe müssen im Alltag sogar immer wieder gegen die Normalitätsforderungen anderer verteidigt werden etwa die der Nachbarn oder ganz harte Arbeit die vieler Lehrer. Nur so können Lebens- und Lernbedingungen entstehen, in denen die Kinder ohne allzu viel Druck und in relativer Angstfreiheit neue Verhaltensweisen ausprobieren können. 4 Qualitätsmerkmale Zum Abschluss möchte ich einige Merkmale benennen, die nach meinem Eindruck für die pädagogische Leistungsfähigkeit besonders relevant sind. Hier entscheidet sich, ob eher zusätzliche Probleme produziert werden oder ob die Kinder Ressourcen für die Bewältigung von Entwicklungs- und Lebensaufgaben finden. 1. Gelingt schon vor der Aufnahme eine kontinuitätssichernde Planung (vgl. Jordan 1996) oder sind ständige Beziehungsabbrüche und Ortswechsel vorprogrammiert? 2. Wird unabhängig von der Rückkehroption eine Versöhnung mit den Eltern angestrebt oder entsteht ein pathologisches Beziehungsdreieck, in dem Mitarbeiterinnen und Eltern um die Zuneigung des Kindes rivalisieren (vgl.schumann 1987)? 3. Bieten die Einrichtungen den Mitarbeiterinnen Ressourcen an, die zum Erhalt der I- dentität als sozialpädagogische Profis beitragen oder definieren sie sich immer stärker als Hausfrauen (vgl. Wolf 2002). 4. Wie steht es mit der Treue zu den Kindern auch in Krisenphasen? Werden die Kinder dann schnell verlegt, wie hoch ist die Abbruchquote (vgl. Jordan 1996)? 5. Wie erfolgt die Wiederbelegung von Plätzen? Gibt es einen Rhythmus, der auch den Ausstieg vorsieht oder starten wir erst einmal, und wie wir die Sache wieder beenden, überlegen wir erst unterwegs (vgl. Niederberger, Bühler-Niederberger 1988)? Nicht alle Qualitätsmerkmale sind immer erfüllt, auch weil es sich um einen Hochleistungsbereich handelt (und nicht nur das Feld für große Herzen). Ich habe versucht, einige sozialpädagogische Kriterien für die Beurteilung der Qualität zu nennen, aus denen sich auch Ziele für die Weiterentwicklung der eigenen Arbeit ableiten lassen. Insgesamt können professionelle Lebensgemeinschaften ein besonders wichtiges Arrangement in der Betreuung sein, die für eine Zeit einen neuen Lebensmittelpunkt anbietet. 9

Literatur Dalferth, Matthias: Zur Bedeutung von Ritualen und Symbolen in der Heimerziehung Aus: Colla, Herbert; Gabriel; Milham u.a. (Hrsg.): Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa. Handbook Residential and Foster Care in Europe. Neuwied, Kriftel (Luchterhand) 1999. S. 385-395. Freigang, Werner; Wolf, Klaus: Heimerziehungsprofile. Sozialpädagogische Portraits. Weinheim (Beltz; jetzt: Juventa) 2001. Jordan, Erwin: Situation und Perspektiven in der Pflegekinderarbeit. Aus: Gintzel, Ullrich (Hrsg.): Erziehung in Pflegefamilien. Auf der Suche nach einer Zukunft. Münster (Votum) 1996. S. 14-38. Jordan, Erwin: Vorzeitig beendete Pflegeverhältnisse. Aus: Gintzel, Ullrich (Hrsg.): Erziehung in Pflegefamilien. Auf der Suche nach einer Zukunft. Münster (Votum) 1996. S. 76-119. Kant, Immanuel: Die Metaphysik der Sitten. Darmstadt 1966. Niederberger, Josef Martin; Bühler-Niederberger, D.: Formenvielfalt in der Fremderziehung. Zwischen Anlehnung und Konstruktion. Stuttgart (Enke) 1988. Niemeyer, Christian: Markus stört. Sozialpädagogische Kasuistik von Ausgrenzungsprozessen auf attributionstheoretischer Grundlage. Aus: Peters, Friedhelm (Hrsg.): Professionalität im Alltag. Entwicklungsperspektiven in der Heimerziehung. Bielefeld (Karin Böllert) 1993. S. 37-76. Nohl, Herman: Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. 10. Aufl. Frankfurt a. M. 1988. Planungsgruppe Petra; Thurau, H.; Völker, U.: Erziehungsstellen - Professionelle Erziehung in privaten Haushalten. Eine Studie über die Leistungsmöglichkeiten der Erziehungsstellen des Landes. Frankfurt a. M. 1995. Schumann, Marianne: Herkunftseltern und Pflegeeltern: Konfliktfelder und Brücken zur Verständigung. Aus: Deutsches Jugendinstitut (DJI) (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. München (DJI Verlag) 1987. S. 60-99. Schwabe, Mathias: Eskalation und Deeskalation in Einrichtungen der Jugendhilfe. Konstruktiver Umgang mit Aggression und Gewalt in Arbeitsfeldern der Jugendhilfe. Frankfurt a. M. 2000, 2. Aufl. Trabandt, Henning: Über pädagogische und andere Liebe. In: Neue Praxis, Jg. 1991, H. 2, S. 150-156. Winkler, Michael: Eine Theorie der Sozialpädagogik. Stuttgart 1988. Wolf, Klaus: Professionelle Familienerziehung: Professionalität oder Harmonie? In: Jugendhilfe, Jg. 1998, H. 1, S. 32-42. Wolf, Klaus: Machtprozesse in der Heimerziehung. Münster (jetzt Juventa) 1999. Wolf, Klaus: Heimerziehungsarrangements als pädagogische Orte. In: Unsere Jugend, Jg. 2001, H. 7/8, S. 291-302. Wolf, Klaus: Erziehung zur Selbständigkeit in Familie und Heim. München (Juventa) 2002. Wolf, Klaus: Spezialisierte Profis oder geduldige Hausfrauen? Zum Selbstverständnis von Mitarbeiterinnen in Erziehungsstellen. In: Evangelische Jugendhilfe, 79. Jg. (2002), H. 1, S. 24-33. Autor: Prof. Dr. Klaus Wolf Universität Siegen Adolf-Reichwein-Str. 2 57068 Siegen Email: Klaus.Wolf@uni-siegen.de Homepage: www.uni-siegen.de/~wolf.inhalt.htm 10