Familie im Wandel Entgrenzung von Arbeit und Familie im Rahmen des Seminars Gesellschaftliche Bedingungen des Lehrens und Lernens in der Schule Erika Schulze, 27. April 2010
Die Entgrenzung der Arbeit Das fordistische Modell Mit dem Industriekapitalismus entwickelte sich eine Trennung zwischen zwei Sphären - der Arbeit (verstanden als Erwerbsarbeit, die mit Geld abgegolten wurde) und dem Leben (alle sonstigen Tätigkeiten) Der Arbeitszeit, die zunehmend über Tarifverträge und Gesetze geregelt wurde, stand prinzipiell eine eigenständige und faktisch ebenfalls regulierte Sphäre der so genannten Freizeit gegenüber Diese Trennung von Arbeit und Leben ging einher mit einer ungleichen Aufteilung der Aufgaben zwischen den Geschlechtern - der Mann wurde zum Ernäherer, die Frau war als Hausfrau und Mutter, bestenfalls als Teilzeit- Zuverdienerin konzipiert
Die Entgrenzung der Arbeit Das fordistische Modell Auch in räumlicher Hinsicht vollzog sich eine Trennung: So gab es einerseits Orte der Erwerbsarbeit (betriebsbezogen), andererseits spezifische Räume, die anderen, nicht explizit zweckrationalen Tätigkeiten dienten. Für den einzelnen gab es damit den Raum der Erwerbstätigkeit einerseits, den privaten Raum andererseits (für die Erholung, den Konsum, dem Familienleben, der Intimität) Über die Dimensionen Zeit und Raum waren im Fordismus Grenzen zwischen den Sphären identifizierbar, die sich - aus heutiger Sicht - auch als rigide Beschränkungen des in den jeweiligen Bereichen Möglichen und ihres Austauschs interpretieren lassen: limitierende, zugleich aber genau dadurch auch ermöglichende und schützende Strukturen. Diese boten einen verlässlichen und somit entlastenden Rahmen für berufliches wie privates Handeln und hierauf bezogene alltägliche und biographische Entscheidungen. (Jürgens/ Voß 2007:5)
Die Entgrenzung der Arbeit Das postfordistische Modell Die fordistische Trennung von "Arbeit und Leben" gerät seit einigen Jahren durch Strukturwandlungen und Veränderungen - in der Arbeitswelt wie auch im Nicht- Erwerbsarbeitsbereich unter Druck In der Erwerbssphäre lassen sich zunehmende Entgrenzungsprozesse auf verschiedenen Ebenen beobachten. Unter Beibehaltung alter Organisationsprinzipien bilden sich zugleich flexiblere Formen der Arbeitsorganisation heraus. Im Arbeitsleben sind vielfache Veränderungen zu konstatieren Die Grenzen zwischen Arbeit und Leben, Privatem und Öffentlichem, Arbeitszeit und Freizeit werden dabei zunehmend porös
Die Entgrenzung der Arbeit Tiefgreifende Wandlungsprozesse Die Erwerbsarbeit wird zugleich intensiver und subjektiver - Beschäftigte sollen zunehmend nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern ihr gesamtes persönliches Potential einsetzen Lebensentwürfe und Einstellungen von Frauen zu Elternschaft und Erwerbstätigkeit haben sich grundlegend gewandelt. Das für den weiblichen Lebenslauf vorherrschende Phasenmodell wird zunehmend abgelöst durch ein Nebeneinander von Beruf und Familie Die Lebensläufe haben sich zudem verändert: Ausbildungszeiten verlängern sich und die Berufseinstiege werden "prekärer"; gleichzeitig verlagern sich Eheschließung und Familiengründung auf einen späteren Zeitpunkt.
Die Entgrenzung der Arbeit Tiefgreifende Wandlungsprozesse Seit den 80er Jahren wird eine weitreichende Flexibilisierung der Arbeitszeit sichtbar. So sind inzwischen mehr als die Hälfte der abhängig Beschäftigten in der BRD nicht mehr innerhalb eines Normalarbeitstages tätig (Schicht-, Wochenend-, Nachtarbeit; Phasenmodelle) Durch Informations- und Kommunikationstechnologien erfährt auch der Arbeitsort eine Flexibilisierung - z.b. durch Teleheimarbeit oder auch Außendiensttätigkeiten. Die berufliche Mobilität nimmt zu.
Die Entgrenzung der Arbeit Tiefgreifende Wandlungsprozesse Das so genannte Normalarbeitsverhältnis hat in den vergangenen Jahrzehnten zugunsten atypischer Beschäftigungsformen an Bedeutung verloren. Arbeitzeiten: Einerseits arbeiten Hochqualifizierte und Führungskräfte immer länger, regelmäßige Wochenarbeitszeiten zwischen 55 und 70 Stunden sind nichts Außergewöhnliches. Andererseits wachsen vor allem in Dienstleistungsbranchen gerade die Teilzeit- und Minijobs, während Vollzeitjobs abgebaut werden. Erwerbsarbeit ist in den letzten Jahrzehnten darüber hinaus zeitlich flexibler und unregelmäßiger geworden. Das gilt für die Arbeitszeit im Tages- und Wochenverlauf wie für die lebenszeitliche Verteilung von Arbeit durch diskontinuierlichere Erwerbsbiographien. Der allgemeine Trend zur Ausweitung von Schicht-, Nacht- und Wochenendarbeit sowie zur Vertrauensarbeitszeit ist dabei mit höheren gesundheitlichen Belastungen verbunden. (Jurczyk, Schier 2007:12)
Familie als Herstellungsleistung Der Wandel von Familie Gesellschaftliche Transformationsprozesse haben dazu geführt, dass Familie im alltäglichen und biographischen Handlen immer wieder als Ganzes gemeinschaftlich hergestellt werden muss (Doing Family) In Familien treffen mehrere individuelle Lebensführungen mit unterschiedlichen Strukturen, Bedürfnissen und Interessen aufeinander, die miteinander ausbalanciert werden müssen. Sie werden in permanenter Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu einer - mehr oder weniger -gemeinsamen Lebensführung verschränkt, die Familie alltäglich und biografisch als spezifisches System konstituiert und nicht als eine Addition von Menschen. Dieses System ist fragil und wechselhaft, es basiert auf Interaktionsprozessen zwischen den familialen Akteuren, die sich zu Handlungsmustern verdichten, und kommt nicht ohne ein Minimum gemeinsamer Handlungen, Ressourcen, Emotionen und Deutungen aus. (Jurczyk, Schier 2007:10)
Familie als Herstellungsleistung Die Entgrenzung von Familie Darüber hinaus ist auch die Familie von deutlichen Wandlungsprozessen gekennzeichnet; u.a.: Haushalts- und Familienformen haben sich pluralisiert und sind dynamischer geworden Die Erwerbsbeteilgung der Mütter steigt kontinuierlich an; langsam aber stetig erfährt auch die Teilhabe von Vätern an der Elternzeit eine Steigerung Die gesellschaftlichen Ansprüche an die Eltern erhöhen die Anforderungen in den Familien Die Entgrenzung von Familie (...)- liegt zudem häufig quer zu Prozessen der Entgrenzung von Arbeit. So verknüpfen sich in den einzelnen Familien Prozesse der Entgrenzung von Familie mit denen des Erwerbsbereichs über die Erwerbskonstellationen der Familienmitglieder und die spezifischen Familienkonstellationen auf ganz bestimmte Art und Weise. Damit bilden sich - blicken wir auf den Alltag einzelner Familien -sehr komplexe, jeweils spezifische familiale "Gemengelagen" der doppelten Entgrenzung. (Jurczyk, Schier 2007:10)
Familie als Herstellungsleistung Herausforderungen für die Herstellung von Familie Die Transformationen machen es zunehmend erforderlich, die Lebensbereiche Erwerbsarbeit, Familie, Freizeit selbst zu gewichten. Den "überschwappenden" Ansprüchen der Erwerbsarbeit müssen somit nicht nur aktiv zeitliche, sondern auch räumliche Grenzen gesetzt werden. Die Koordination der unterschiedlichen Raumzeitpfade sowie die Synchronisierung von freien Zeiten der Familienmitglieder werden zunehmend zu anspruchsvollen Gestaltungsleistungen. Gemeinsame Zeit muss heutzutage oft erst gefunden, ja geplant werden. Raum-zeitliche Entgrenzungsprozesse des Erwerbsbereichs bedingen, dass Familie heute zunehmend in den Zeitlücken der Erwerbsarbeit gelebt werden muss.
Familie als Herstellungsleistung Die doppelte Entgrenzung erfordert von Familien neue Gestaltungsleistungen im Rahmen ihrer alltäglichen Lebensführung. Dies gilt für die zeitlichen Rahmungen des Familienlebens wie für die Quantität und Qualität der räumlichen Kopräsenz. Permanent wechselnde Arbeitszeiten, die oft mit erhöhten psychischen und physischen Belastungen einhergehen, erschweren verbindliche Beziehungen und verlässliche Fürsorgeleistungen. Die Ausdünnung gemeinsamer Anwesenheiten und Aktivitäten über einen längeren Zeitraum hinweg macht es schwer, Familie als lebendiges Ganzes wahrzunehmen. Damit verschwindet tendenziell die Selbstverständlichkeit von Gelegenheiten für ein Doing Family, die Möglichkeit der Beiläufigkeit der sozialen Interaktionen droht verloren zu gehen. (Jurczyk, Schier 2007:17) In Familien sind Reflexionsprozesse darüber zu erkennen, wie die verbleibende knappe gemeinsame Zeit als Familie am besten gestaltet werden kann. Die wenige Familienzeit wird möglichst qualitativ hochwertig sowie sehr gezielt genutzt. Knappe Familienzeit führt so zu einer reflektierteren und planenderen Gestaltung des gemeinsamen Alltags und geht durchaus manchmal mit einem subjektiv intensiveren Erleben von Elternschaft einher. (Jurczyk, Schier 2007:16)
Literatur Jürgens, Kerstin/ G.Günter Voß (2007): Gesellschaftliche Arbeitsteilung als Leistung der Person. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 34/2007, S. 3-9) Jurczyk, Karin/ Michaela Schier (2007): Familie als Herstellungsleistung in Zeiten der Entgrenzung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 34/2007, S. 10-17)
Zur Diskussion Welche Risiken, aber auch welche Chancen sind für die Familie/ die einzelnen Familienmitglieder mit diesen Entwicklungen verbunden? Welche Konsequenzen erwachsen für das Bildungssystem aus diesen Transformationen? - in der Organisation der Bildungsinstitutionen - im Umgang mit den SchülerInnen - im Umgang mit den Eltern - für den sozialwissenschaftlichen Unterricht