Psychiatrie und Ethik: Eine spannungsreiche, aber unverzichtbare Beziehung

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Transkript:

Psychiatrie und Ethik: Eine spannungsreiche, aber unverzichtbare Beziehung Paul Hoff Fortbildungsveranstaltung Ethik in der Psychiatrie Luzerner Psychiatrie 19. März 2015

Agenda Psychiatrie ein Fach mit vielen Facetten Sensibilisierung für ethische Fragen: Erwünschte Nebenwirkung des KESR Autonomie, Urteilsfähigkeit, Diagnose Zwang in der Psychiatrie: Verboten, erlaubt, geboten? Résumé

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Die zwei Gesichter der Psychiatrie Heilkunst? Wissenschaft Subjekt Individuelles Vorgehen Reproduzierbarkeit weniger wichtig Primat des Qualitativen Enge Vernetzung mit allen Humanwissenschaften Objekt Gesetzmässiges Vorgehen Reproduzierbarkeit entscheidend Primat des Quantitativen Enge Vernetzung mit den Naturwissenschaften, vor allem der Biologie

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KESR stimuliert die Debatte zu... Zwang im Gesamtgebiet der Medizin z.b. Überarbeitung der SAMW-Richtlinien Zwang in der Psychiatrie, im Lichte von - Recovery / Empowerment / peer involvement - Identitätsfragen der beteiligten Berufsgruppen Schnittstellenproblemen Klinik / Praxis / Wohneinrichtung ( geeignete Einrichtung ) Patientenverfügungen...

Agenda Psychiatrie ein Fach mit vielen Facetten Sensibilisierung für ethische Fragen: Erwünschte Nebenwirkung des KESR Autonomie, Urteilsfähigkeit, Diagnose Zwang in der Psychiatrie: Verboten, erlaubt, geboten? Résumé

Medizinethische Grundprinzipien (nach Beauchamp & Childress, 2009)! Respekt vor der Autonomie des/der Patienten/-in Gebot, nicht zu schaden Gebot, zum Wohl des/der Patienten/-in zu handeln Gebot der fairen Verteilung von Nutzen, Risiken und Kosten im Gesundheitswesen

Autonomie psychische Erkrankung (I) «Autonomie» als bloss theoretischer Rahmen ist in der Medizinethik ungenügend. Gerade in der Psychiatrie braucht es die Adaptation auf die konkrete Situation der betroffenen Person. (Beispiel: «shared clinical decision making»)

Autonomie psychische Erkrankung (II) Diese personenzentrierte Anpassung des Autonomiekonzeptes wird heute meist als «assistierte Autonomie» bezeichnet. Sie hat auch zum Ziel, die Häufigkeit von Zwangsmassnahmen zu verringern.

Urteilsfähigkeit (I) - aus der Sicht des Psychiaters - Urteilsfähigkeit, als Voraussetzung der Handlungsfähigkeit, ist als zentraler Rechtsbegriff auch im medizinischen Kontext von hoher Bedeutung. Kernelement ist die Fähigkeit, eine Situation korrekt aufzufassen, zu verstehen und sinnvolle Konsequenzen aus ihr zu ziehen.

Urteilsfähigkeit (II) - aus der Sicht des Psychiaters - Bezüglich Vorhandensein oder Fehlen eine absolute Grösse. Eine Person ist in einer konkreten Entscheidsituation entweder urteilsfähig oder urteilsunfähig. Bezüglich des Sachverhaltes, um den es geht, eine relative Grösse. Eine leicht demente Person kann urteilsunfähig mit Blick auf eine komplexe Finanztransaktion sein, zugleich (!) aber urteilsfähig mit Blick auf eine Zahnextraktion.

Urteilsfähigkeit (III) - aus der Sicht des Psychiaters - Psychopathologischer Befund, spezielle Erhebungsbögen und Angaben von Angehörigen sind wesentliche Entscheidkriterien. Unmittelbare Rückschlüsse von der psychiatrischen Diagnose auf die Urteilsfähigkeit sind in keinem Fall zulässig (gilt auch für gravierende Diagnosen wie Schizophrenie oder Alzheimer-Demenz).

Urteilsfähigkeit (IV) - aus der Sicht des Psychiaters - Bei urteilsfähigen Personen ist eine Zwangsbehandlung ( Behandlung ohne Zustimmung ) grundsätzlich unzulässig. Bei urteilsunfähigen Personen ist sie unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich zulässig und ethisch vertretbar, aber keineswegs automatisch qua Urteilsunfähigkeit.

Was kann eine psychiatrische Diagnose nicht leisten?! Vollständige Erklärung einer psychischen Krankheit Unmittelbare therapeutische Konsequenzen Entscheidungshilfe im wissenschaftlichen Methodenstreit Unmittelbare Übersetzbarkeit in Rechtsbegriffe und ethische Normen

Agenda Psychiatrie ein Fach mit vielen Facetten Sensibilisierung für ethische Fragen: Erwünschte Nebenwirkung des KESR Autonomie, Urteilsfähigkeit, Diagnose Zwang in der Psychiatrie: Verboten, erlaubt, geboten? Résumé

Zwang - ein heterogenes Feld Einweisung, Rückbehaltung gegen den Willen Behandlung gegen den Willen Freiheitseinschränkende Massnahmen Einige Grauzonen, zum Beispiel...... wenn, dann-verknüpfungen... psychologischer Druck... indirekter Zwang

Ein Dilemma Mit Berufsrolle schwer vereinbar, aber oft typische Notfallsituationen mit dringendem Handlungsbedarf Ambivalente Einstellung der Gesellschaft zur Psychiatrie - Delegation von heiklen Problemen an die Psychiatrie und zugleich - Misstrauen gegenüber der Psychiatrie

und eine Herausforderung Anspruch des Pat. auf Behandlung, auch wenn krankheitsbedingt nicht oder eingeschränkt urteilsfähig Rechtlich Behandlungspflicht (ärztliche Garantenstellung) Aufbau einer tragfähigen Beziehung trotz diametral unterschiedlicher Interessen

Im Kontext des neuen KESR (Januar 2013): Vollständige Revision der Richtlinien «Zwangsmassnahmen in der Medizin» Neufassung geht jetzt in die (fach-)öffentliche Vernehmlassung

Agenda Psychiatrie ein Fach mit vielen Facetten Sensibilisierung für ethische Fragen: Erwünschte Nebenwirkung des KESR Autonomie, Urteilsfähigkeit, Diagnose Zwang in der Psychiatrie: Verboten, erlaubt, geboten? Résumé

Résumé (I) Ethische Fragen und Abwägungen sind notwendige Elemente jeder psychiatrischen Tätigkeit. Dies kann nicht konfliktfrei sein, im Gegenteil: Oft muss zwischen fast gleichwertigen, sich aber wechselseitig ausschliessenden Zielen ausgewählt werden.

Résumé (II) Ethische Fragen müssen konsequent (auch) innerhalb der Psychiatrie diskutiert werden. Sie können nicht vollständig an «die Ethiker» delegiert werden. Alle in der Psychiatrie tätigen Berufsgruppen sollten das KESR instrumentalisieren, um eine fundierte und nachhaltige Debatte über Autonomie und Zwang zu fördern.

Die WFW-Balance (I) We Wi Fä Wissen Fähigkeiten Werte

Die WFW-Balance (II) We Wissen Fähigkeiten Werte Wi Medizin als Handlung Fä

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Burghölzli im Frühling