Somatoforme Schmerzstörung

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Transkript:

Schweizerische Invaliditätstagung Lenzburg, 13. März 2008 Somatoforme Schmerzstörung - Entwicklung der Rechtsprechung - Auswirkung auf die Rechtsanwendung Jean Baptiste Huber Rechtsanwalt

Leiturteil BGE 130 V 352 Das Vorliegen eines fachärztlich ausgewiesenen psychischen Leidens mit Krankheitswert - worunter anhaltende somatoforme Schmerzstörungen grundsätzlich fallen - ist aus rechtlicher Sicht wohl Voraussetzung, nicht aber hinreichende Basis für die Annahme einer invalidisierenden Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. 2

Leiturteil BGE 130 V 352 (Forts.) Namentlich vermag nach der Rechtsprechung eine diagnostizierte anhaltende somatoforme Schmerzstörung als solche in der Regel keine lang dauernde, zu einer Invalidität führende Einschränkung der Arbeitsfähigkeit im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG zu bewirken. 3

Leiturteil BGE 130 V 352 (Forts.) Willentliche Schmerzüberwindung Wiedereinstieg in den Arbeitsprozess sind nur in Ausnahmefällen unzumutbar. Somatoforme Schmerzstörung ist nur ausnahmsweise unüberwindbar. 4

Leiturteil BGE 130 V 352 (Forts.) Voraussetzungen für Unüberwindbarkeit (sog. Foerster-Kriterien): mitwirkende, psychisch ausgewiesene Komorbidität von erheblicher Schwere, Intensität, Ausprägung und Dauer oder Vorhandensein anderer qualifizierter, mit gewisser Intensität und Konstanz erfüllter Kriterien: 5

Leiturteil BGE 130 V 352 (Forts.) 1. chronische körperliche Begleiterkrankungen und mehrjähriger Krankheitsverlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerfristige Remission; 2. ausgewiesener sozialer Rückzug in allen Belangen des Lebens; 6

Leiturteil BGE 130 V 352 (Forts.) 3. Primärer Krankheitsgewinn: verfestigter, therapeutisch nicht mehr angehbarer innerseelischer Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung ("Flucht in die Krankheit"); (nicht aber sekundärer Krankheitsgewinn!). 7

Leiturteil BGE 130 V 352 (Forts.) 4. unbefriedigende Behandlungsergebnisse trotz konsequent durchgeführter ambulanter und/oder stationärer Behandlungsbemühungen (auch mit unterschiedlichem therapeutischem Ansatz) und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen bei vorhandener Motivation und Eigenanstrengung der versicherten Person. 8

Entwicklung der Rechtsprechung? BGE 130 V 398ff.: Fachärztlich (psychiatrisch) gestellte Diagnose nach einem wissenschaftlich anerkannten Klassifikationssystem erforderlich: ICD-10 F45.4 DSM-IV 307.89 9

Entwicklung der Rechtsprechung? (Forts.) BGE 131 V 49: keine versicherte Gesundheitsschädigung bei Aggravation oder einer ähnlichen Konstellation: erhebliche Diskrepanz zwischen den geschilderten Schmerzen und dem gezeigten Verhalten oder der Anamnese; Angabe von intensiven Schmerzen, jedoch vage Charakterisierung; keine medizinische Behandlung und Therapie in Anspruch genommen; demonstrativ vorgetragene Klagen wirken auf den Sachverständigen unglaubwürdig; Behauptung schwerer Einschränkungen im Alltag, psychosoziales Umfeld jedoch weitgehend intakt. 10

Entwicklung der Rechtsprechung? BGE 132 V 65: Analoge Anwendung der Rechtsprechung auf die Fibromyalgie. Es ist nicht Sache der Verwaltung oder des Richters, eine nach einem anerkannten Klassifikationssystem gestellte Diagnose in Frage zu stellen. 11

Entwicklung der Rechtsprechung? (Forts.) Unveröffentlichte Urteile: Grundsätzlich: Fortführung der in BGE 130 V 352 festgehaltenen Rechtsprechung; Kaum Urteile, in denen eine invalidisierende somatoforme Schmerzstörung direkt anerkannt wurde. 12

Entwicklung der Rechtsprechung? (Forts.) Zahlreiche Rückweisungen zur weiteren Abklärung: Psychiatrisches Gutachten erforderlich bei Hinweisen auf somatoforme Schmerzstörung; Wenige inhaltliche Präzisierungen und Ergänzungen. 13

Entwicklung der Rechtsprechung? (Forts.) I 611/03 vom 16. Juni 2004: Zusätzlich zu den in BGE 130 V 352 genannten Foerster-Kriterien: auffällige vorbestehende Persönlichkeitsstruktur ; Verdeutlichend: Verlust der sozialen Integration: Ehescheidung, Arbeitsplatzverlust, sozialer Rückzug, Verlust persönlicher Interessen 14

Entwicklung der Rechtsprechung? (Forts.) I 655/03 vom 6. Mai 2004: Je stärker psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren im Vordergrund, desto ausgeprägter muss eine fachärztlich festgestellte psychische Störung von Krankheitswert vorhanden sein. Von depressiven Verstimmungszuständen klar unterscheidbare andauernde Depression im fachmedizinischen Sinne oder vergleichbarer psychischer Leidenszustand. 15

Entwicklung der Rechtsprechung? (Forts.) I 514/06 vom 25.05.2007, 9C_286/2007 vom 07.01.2008 (unter Berufung auf BGE 127 V 294): Keine Krankheit, wenn psychosoziale und soziokulturelle Faktoren selbständige und direkte Ursache der Arbeitsunfähigkeit; Führen solche Umstände zu einer eigentlichen Beeinträchtigung der psychischen Integrität, indem sie einen verselbstständigten Gesundheitsschaden aufrechterhalten oder den Wirkungsgrad seiner Folgen verschlimmern, können sie sich mittelbar invaliditätsbegründend auswirken. 16

Entwicklung der Rechtsprechung? (Forts.) I 33/06 vom 9. Januar 2007: Somatische und psychische Befunde dürfen nicht isoliert betrachtet werden (sofern zusammenwirkend). Interdisziplinäre Begutachtung erforderlich. 17

Entwicklung der Rechtsprechung? (Forts.) Fazit: In BGE 130 V 352 festgehaltene Rechtsprechung wird fortgeführt; Einzelne Präzisierungen; Verdeutlichung, dass zur Beurteilung der Anerkennungsbedingungen eine psychiatrische Begutachtung erforderlich ist. 18

Auswirkungen der 5. IV-Revision? Art. 7 ATSG Erwerbsunfähigkeit (01.01.2008) 1 Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt. 2 Für die Beurteilung des Vorliegens einer Erwerbsunfähigkeit sind ausschliesslich die Folgen der gesundheitlichen Beeinträchtigung zu berücksichtigen. Eine Erwerbsunfähigkeit liegt zudem nur vor, wenn sie aus objektiver Sicht nicht überwindbar ist. 19

Auswirkungen der 5. IV-Revision? (Forts.) Weitere Verschärfung der Praxis? Vollständige Ausblendung soziokultureller und psychosozialer Aspekte? Vermutlich nicht: in Botschaft vom 22.6.2005 wird ausdrücklich Bezug genommen auf BGE 127 V 294 und BGE 130 V 352 20

Auswirkungen der 5. IV-Revision? (Forts.) Art. 59 IVG 2bis Die regionalen ärztlichen Dienste stehen den IV- Stellen zur Beurteilung der medizinischen Voraussetzungen des Leistungsanspruchs zur Verfügung. Sie setzen die für die Invalidenversicherung nach Artikel 6 ATSG4 massgebende funktionelle Leistungsfähigkeit der Versicherten fest, eine zumutbare Erwerbstätigkeit oder Tätigkeit im Aufgabenbereich auszuüben. Sie sind in ihrem medizinischen Sachentscheid im Einzelfall unabhängig. 21

Auswirkungen der 5. IV-Revision? (Forts.) Tragweite von Art. 59 Abs. 2bis IVG noch offen. 22

Auswirkungen der 5. IV-Revision? (Forts.) Aber: Kreisschreiben über das Verfahren in der Invalidenversicherung (KSVI) Gültig ab 1. Januar 2008 Rz 2075 Hält der RAD nach Kenntnisnahme der ärztlichen Berichte eine medizinische Begutachtung für nötig, so führt er diese entweder nach Art. 49 Abs. 2 IVV selbst durch oder gibt der IV-Stelle eine entsprechende Empfehlung unter Nennung der begutachtenden Person/Stelle sowie den zu klärenden Fragen ab. 23

Prognose: Die schon bislang ausserordentlich strenge Praxis wird sich durch den Einsatz der RAD nochmals verschärfen; Dies ist das erklärte Ziel der 5. IV-Revision. 24