Wissenschaftstheorie und Ethik

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Transkript:

Wissenschaftstheorie und Ethik Kritischer Rationalismus (KR) Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 1

Wissenschaftstheorie - Vorlesung 2 und 3 [Vorlesung 1: 1. Einführung 2. Biografisches] Vorlesung 2 + 3: 3. Die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 2

3. Die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus 3.1 Der Wissenschaftsbegriff Steht in einer Tradition, die als positivistisch bezeichnet wird. (i) Ziel: Abgrenzung von philosophischer Spekulation, von religiösem Glauben, allgemein: von der Metaphysik. (ii) Orientierung an der formalen Logik: die Wissenschaften (Theorien) werden als Systeme von Aussagen betrachtet (iii) Gesellschaftspolitisches Ziel: Aufklärung über die soziale Umwelt, insbesondere über die politischen Verhältnisse Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 3

3. Die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus 3.2 Der Theoriebegriff (i) Theorien müssen explizit sprachlich dargestellt oder darstellbar sein. (ii) Sie behaupten etwas, nämlich die Existenz von Sachverhalten (sie schreiben keine Handlungen vor) (iii) Die wichtigste Funktion: Sachverhalte zu erklären. (Dazu gehört auch die Prognose.) (iv) Theorien haben die Form von All-Sätze oder können in diese Form gebracht werden. (v) Die wesentlichen Behauptungen empirischer Theorien werden durch synthetische Sätze formuliert. Das steht in Zusammenhang mit: Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 4

Eine Erkenntnis der modernen Wissenschaftstheorie: Wissenschaftliche Sätze sind entweder analytisch (wie die in der Mathematik), dann spielt die Erfahrung bei ihrem Beweis keine Rolle, oder sie sind synthetisch, dann müssen sie auf Erfahrung beruhen. Das muss erläutert werden! Dazu ein Exkurs: Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 5

Exkurs: Analytische und synthetische Sätze Analytische Urteile (Sätze) drücken im Prädikat einen gedanklichen Inhalt aus, der im Begriff des Subjekts bereits enthalten ist. Beispiel 1: >>Ein Politiker ist ein Mensch.<< Beispiel 2: >>Ein Rabe ist ein Vogel.<< Synthetische Urteile (Sätze) drücken im Prädikat einen gedanklichen Inhalt aus, der im Begriff des Subjekts (noch) nicht enthalten ist. Beispiel: >>Die Ökonomie ist überwiegend eine empirische Wissenschaft.<< Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 6

Exkurs: Erkenntnisse a priori und a posteriori Erkenntnisse a priori sind solche, die schlechterdings von aller Erfahrung unabhängig stattfinden. Ihnen sind empirische Erkenntnisse, oder solche, die nur a posteriori, d.i. durch Erfahrung, möglich sind, entgegengesetzt. (I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. Einleitung nach Ausgabe B.) Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 7

Exkurs: Analytische und synthetische Sätze sowie Sätze a priori und a posteriori Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 8

Erläuterung zur Kreuztabelle (1) Um die Wahrheit eines analytischen Satzes einzusehen, brauchen wir keine Erfahrung. Es genügt, wenn wir die Sprache beherrschen. Beispiel: Wie viel Prozent aller Junggesellen sind unverheiratet? Antwort: 100 Prozent. Um das einzusehen, brauchen wir keine soziologische Untersuchung. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 9

Erläuterung zur Kreuztabelle (2) Die Gültigkeit synthetischer Sätze stützt sich auf Erfahrung. Beispiel: Wie viel Prozent der Bevölkerung sind männlich und unverheiratet? Das kann man nur mit empirischen Methoden herausfinden. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 10

Erläuterung zur Kreuztabelle (3) Analytische Sätze werden sicherlich im Zusammenhang mit Erfahrungen gebildet. Aber ihre Gültigkeit kann unabhängig von jeder Erfahrung eingesehen werden. Beispiel: Die Summe der Innenwinkel eines Dreiecks ist auf der Ebene gleich 180 Grad. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 11

Erläuterung zur Kreuztabelle (4) Eine der wichtigeren Fragen der Philosophie: Gibt es synthetische Urteile a priori? Antworten: I. Kant sagt, ja. Diese stützen sich auf die Eigenart des menschlichen Erkenntnisvermögens. Die meisten modernen Philosophen sagen: nein. Synthetische Sätze, insofern sie in der Philosophie vorkommen, müssen auf Erfahrung gestützt werden. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 12

Erläuterung zur Kreuztabelle Zum Punkt 4: Wenn Ökonomen Sätze, die im Rahmen gewisser Theorien a priori gültig sind, den Politikern ohne Weiteres als Richtschnur des Handelns empfehlen, machen sie einen doppelten Fehler: Sie ignorieren die Empirie und verwechseln Theorien mit Programme. Hin und wieder anzutreffendes Beispiel: die Unterstellung, dass der Mensch ein Nutzen maximierendes Wesen ist. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 13

Exkurs: Analytische und synthetische Sätze sowie Sätze a priori und a posteriori Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 14

Exkurs: Analytische und synthetische Sätze Wissenschaftliche Sätze sind entweder analytisch (wie die in der Mathematik), dann spielt die Erfahrung bei ihrem Beweis keine Rolle, oder sie sind synthetisch, dann müssen sie auf Erfahrung beruhen. Die Möglichkeit von synthetischen Sätzen a priori wird von der modernen Wissenschaftstheorie verneint. Daraus folgt die Ablehnung des Apriorismus durch die moderne Wissenschaftstheorie. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 15

Zu 3. Die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus 3.2 Der Theoriebegriff (Fortsetzung) (vi) Empirische Sätze gelten a posteriori. Sie müssen sich auf die menschliche Erfahrungswelt beziehen. (vii) Für die Beziehung zwischen den Aussagen ist die formalen Logik (insb. die Aussagenlogik) zuständig. Eine Konsequenz ist: Theorien dürfen in sich nicht widersprüchlich sein. (viii) Theorien müssen in die Form einer Implikation p q (eine wenn-dann-beziehung) gebracht werden können. Darin drückt sich die Bedingtheit der behaupteten Zusammenhänge aus. (ix) Theorien müssen sich als All-Sätze formulieren lassen. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 16

Exkurs: Die logische Implikation Die Implikation ist eine logische Beziehung, die man umgangssprachlich durch einen Wenndann-Satz ausdrücken kann und die formal so geschrieben wird: p q, sprich: p impliziert q. Beispiel: Wenn es regnet, wird die Erde nass. Wenn der Mond aus grünem Käse ist, ist 7 eine Primzahl. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 17

Exkurs: Die logische Implikation p und q sind logische Variable, in die Aussagen eingesetzt werden können. p heißt Vorderglied und q Hinterglied. Die Implikation ist kein logischer Schluss, kann aber Teil eines Schlusses sein, z.b.: p p q q Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 18

Exkurs: All-Sätze und singuläre Sätze Singuläre Sätze sind solche, deren Satzsubjekt ein Eigenname ist oder durch raum-zeitliche Koordinaten eindeutig bestimmt ist. Beispiel: Gerhard Schröder war Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. All-Sätze beziehen sich auf eine potenziell unendlich große Klasse von Gegenständen. Beispiel: Alle Schwäne nicht nur die heute auf der Erde lebenden, sondern auch die der Vergangenheit und Zukunft. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 19

Theorie-Merkmal (ix) Theorien sind All-Sätze oder lassen sich in die Form von All-Sätzen bringen. Beispiele: Die Sonne geht (immer!) im Osten auf. (Alle) Hunde bellen. (Alle) Schwäne sind weiß. Der Konsum (der Haushalte) steigt mit dem (permanenten) Einkommen. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 20

Korrekte Formulierung von Theorien Um die Bedingtheit wissenschaftlicher Theorien zum Ausdruck zu bringen, kann man sie in eine Implikation umformen. Außerdem sollte die Formulierung ein All-Satz sein. Die Theorie Schwäne sind immer weiß wäre korrekt wie folgt zu formulieren: Für alle x gilt: Wenn x ein Schwan ist, dann ist x weiß. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 21

3. Die Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus 3.3 Das Induktionsprinzip (Übersicht) - Das Problem der Begründung von Theorien - Definitionen der Induktion - Funktionen der Induktion - Analyse des Induktionsprinzips - Varianten, das Induktionsprinzip zu begründen - Gründe, das Induktionsprinzip zu verwerfen - Konsequenzen Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 22

3.3.1 Das Problem der Begründung von Theorien Das generelle Problem der Begründung von Theorien besteht darin, dass All-Sätze durch menschliche Erfahrung, die immer nur endlich viele Fälle umfasst, nicht begründet werden können. Beispiel: Die Sonne geht immer im Osten auf. Können wir da ganz sicher sein? Frage: Lässt sich dieses Problem durch logisches Schließen lösen? Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 23

Das Problem der Begründung von Theorien Der logische Empirismus (Wiener Kreis) glaubte, das Begründungsproblem von Theorien durch die Methode der Induktion zu lösen. Die Induktion ist ein Schluss von endlich vielen singulären Sätzen auf einen All-Satz. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 24

Definition und Funktion der Induktion Vom Standpunkt des logischen Empirismus sollen empirische Theorien durch einen logischen Schluss von empirischen (singulären) Sätzen auf einen All-Satz zustande kommen, der dann die Theorie darstellt. Dieser logische Schluss heißt Induktion und wird durch das folgende Prinzip geregelt: Das Induktionsprinzip: IP: a(1), a(2),..., a(n) für alle i: a(i) Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 25

Funktion der Induktion: Begründung von Theorien Das Induktionsprinzip, wenn es gültig wäre, würde bewirken, dass wir aufgrund der im Vorderglied formulierten endlichen Erfahrung zu der im Hinterglied formulierten Theorie, die besagt, dass das durch das Prädikat a beschriebene Merkmal universell bezüglich aller bezeichneten Objekte gilt, übergehen können, und zwar in einer völlig legitimen Weise. Es wäre DAS fundamentale Merkmal empirischer wissenschaftlicher Forschung. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 26

3.3.2 Kritik des Induktionsprinzips Popper lehnt die Charakteristik der empirischen Wissenschaften durch das Induktionsprinzip ab. Das Induktionsprinzip ist überflüssig und führt zu logischen Widersprüchen. Das bedarf der Erläuterung: Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 27

Analyse des Induktionsprinzips Das IP ist selbst ein Satz, und zwar ein synthetischer, da aus dem Vorderglied der Implikation ohne das IP - nicht das Hinterglied geschlossen werden kann. Das IP läßt sich auf beliebige Mengen von singulären Sätzen anwenden, es ist also ein universeller Satz (ein All-Satz). Folglich ist das IP im Sinne des hier unterstellten Wissenschaftsbegriffes eine Theorie (ein bedingter synthetischer All-Satz). Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 28

Analyse des Induktionsprinzips Darüber hinaus hat das IP so wie jede andere Theorie auch einen Handlung leitenden Charakter, wenn es in einen bestimmten Kontext eingebunden wird zum Beispiel den naheliegenden Kontext, dass Theorien aufzustellen (zu begründen) sind. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 29

Poppers Problematisierung des IP Wenn das IP eine Theorie ist, dann stellt sich bezüglich des IP dieselbe Frage wie bei allen (anderen) Theorien auch: Wie kann es begründet werden? Allgemeine Antwort: Durch Induktion! Durch welches IP? Durch dasselbe! logischer Zirkel der Selbstbegründung Durch ein anderes unendlicher Regress Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 30

Poppers Problematisierung des IP Wenn das IP ein Prinzip a priori wäre, könnte es mit dem Kantschen Apriorismus begründet werden, dann ist aber keine Abgrenzung von der Metaphysik mehr möglich. Wird das IP als eine dogmatische Setzung angesehen, ist keine Abgrenzung gegenüber dem Dogmatismus und dem (weltanschaulichen) Fundamentalismus mehr möglich. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 31

Zusammenfassende Einschätzung der Induktion Die Methode, die das IP beschreibt, kann im Rahmen des oben skizzierten Wissenschaftsbegriffes nicht begründet werden. Will man die Anforderungen an den Wissenschaftsbegriff nicht aufweichen, ist das IP nicht zu rechtfertigen. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 32

Konsequenzen aus der Hinfälligkeit der Induktion Es ist nicht möglich, mit Hilfe der Induktion vom Einzelnen auf das Allgemeine zu schließen. Es ist nicht möglich, mit Hilfe der Induktion von endlich vielen singulären Sätzen zu einem (zusammenfassenden, verallgemeinernden) ) All-Satz überzugehen. Es ist nicht möglich, mit Hilfe der Induktion die Gültigkeit von Theorien zu begründen. Theorien können generell nicht anhand von empirischen Sätzen begründet werden, da sie weit (unendlich weit) über jede empirische Basis hinausgehen. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 33

Was nun? Ist das Wissenschaftsspiel mit der Hinfälligkeit der Induktion am Ende? Ohne Theorie keine Wissenschaft. Aber Theorien können nicht begründet werden. Und unbegründete Theorien gehören nicht zur Wissenschaft, sondern zur spekulativen Metaphysik. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 34

3.3.3 Poppers Lösung des Problems Das IP wird zur Abgrenzung der Wissenschaft von der Metaphysik nicht gebraucht. Es ist überflüssig. Poppers Lösung des eben aufgezeigten Problems besteht zunächst also darin, es links liegen zu lassen, es zu umgehen. Die Sicherstellung der Wissenschaftlichkeit empirischer Theorien durch die Induktion ist gescheitert. Wir brauchen eine andere Methode und ein anderes Kriterium für die Abgrenzung wissenschaftlicher Theorien. Beides wird durch Poppers Wissenschaftstheorie geliefert. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 35

Allgemeine Schlussfolgerung Eine allgemeine Konsequenz aus der Unmöglichkeit der Legitimation von Theorien und der Überflüssigkeit des Induktionsprinzips besteht darin, dass Theorien empirisch nicht begründet werden können und demzufolge auch nicht begründet werden müssen. Wenn man den Begriff der Begründung trotzdem verwenden will, so muss er etwas anderes als bedeuten als eine Theorie legitimieren, indem man sie mit Hilfe von Fakten untermauert. Doz. Dr. Georg Quaas: Vorlesung zur Wissenschaftstheorie und Ethik 36