Abschlussklausur Verwaltungsrecht II (VwGO) SoSe 2017, Dr. Korte Lösungsskizze: A) Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs (kann auch als Zulässigkeitsvoraussetzung geprüft werden): I. Aufdrängende Sonderzuweisung Aufdrängende Sonderzuweisungen liegen nicht vor. II. Generalklausel des 40 Abs. 1 S. 1 VwGO Die Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges richtet sich daher nach der Generalklausel des 40 Abs. 1 S. 1 VwGO. 1. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit Die streitentscheidenden Normen sind hier die 46, 48 AufenthG, die einen Hoheitsträger einseitig berechtigen (modifizierte Subjektstheorie). 2. Nichtverfassungsrechtlicher Art Die Streitigkeit ist nichtverfassungsrechtlicher Art (keine doppelte Verfassungsunmittelbarkeit). III. Abdrängende Sonderzuweisungen Abdrängende Sonderzuweisungen sind nicht gegeben. IV. Fazit: Der Rechtsweg zum Verwaltungsgericht ist nach 40 Abs. 1 S. 1 VwGO eröffnet. B) Zulässigkeit eines Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Vollzug des Ausreiseverbots und der Aufforderung zur Herausgabe des Personalausweises:
I. Statthafter Antrag 1. Statthafte Antragsart Die statthafte Antragsart richtet sich nach dem Antragsbegehren analog 88, 86, 122 Abs. 1 VwGO. Ist in der Hauptsache die Anfechtungsklage die statthafte Klageart, ist nach der (in der Klausur zu nennenden) Abgrenzungsnorm des 123 Abs. 5 VwGO vorläufiger Rechtsschutz nach der Spezialregelung des 80 Abs. 5 VwGO zu gewähren (soweit der Rechtsbehelf nicht schon nach der Grundregel des 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung hat). Bei allen anderen Klagearten richtet sich der vorläufige Rechtsschutz nach 123 Abs. 1 VwGO (Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung). Statthafter Antrag könnte hier mit Blick auf das Ausreiseverbot und die Aufforderung zur Herausgabe des Personalausweises ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage nach 80 Abs. 5, 2. Fall VwGO sein. Dann müsste in der Hauptsache die Anfechtungsklage gem. 42 Abs. 1 VwGO die statthafte Klageart sein. Das ist der Fall, wenn es der T in der Hauptsache um die Aufhebung eines belastenden Verwaltungsakts durch das Verwaltungsgericht geht. In der Hauptsache wehrt sich die T gegen das Ausreiseverbot und die Aufforderung zur Herausgabe ihres Personalausweises. Beide Anordnungen sind als belastende Verwaltungsakte isd 35 S. 1 VwVfG NRW zu qualifizieren, so dass jeweils die Anfechtungsklage in der Hauptsache die richtige Klageart ist. 2. Keine aufschiebende Wirkung des statthaften Rechtsbehelfs Überdies darf die Klage der T keine aufschiebende Wirkung nach 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO entfalten. (Anmerkung: Dieser Punkt kann vertretbar auch beim allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis erörtert werden.) Die B hat gemäß 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes angeordnet. Damit ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs entfallen. Somit ist der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach 80 Abs. 5 S. 1 2. Fall VwGO der statthafte Antrag bzgl. des Ausreiseverbots und der Aufforderung zur Herausgabe des Personalausweises.
II. Antragsbefugnis analog 42 Abs. 2 VwGO T müsste analog 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt sein. Dazu müsste die Möglichkeit einer Verletzung in einem subjektiv-öffentlichen Recht bestehen. Im vorliegenden Fall ist die T als Adressatin des Bescheides vom 31. März 2017 möglicherweise jedenfalls in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt. Gute Kandidaten können hier auch Art. 11 GG ansprechen, müssen dann aber erkennen, dass es sich insoweit um ein Deutschen-Grundrecht handelt. III. Antragsgegner Antragsgegner ist analog 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO der Rechtsträger, dessen Behörde die Vollzugsanordnung/den Verwaltungsakt erlassen hat. Handelnde Behörde war hier die nach dem Sachverhalt zuständige Ausländerbehörde der Stadt B. Rechtsträger (Körperschaft) ist daher die Stadt B. IV. Beteiligungs-(Beteiligten-) und Prozessfähigkeit, 61, 62 VwGO T ist als natürliche bzw. nach bürgerlichem Recht geschäftsfähige Person nach 61 Nr. 1 VwGO beteiligungs- und nach 62 Abs. 1 Nr. 1 VwGO prozessfähig. Die Stadt ist nach 61 Nr. 1 VwGO (juristische Person des öffentlichen Rechts) beteiligungsfähig und muss im Prozess gem. 62 Abs. 3 VwGO durch ihren gesetzlichen Vertreter vertreten werden (OBM; siehe 63 Abs. 1 GO NRW). V. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis 1. Vorherige Einlegung eines Rechtsbehelfs erforderlich? Umstritten ist, ob der Antragsteller zumindest zeitgleich einen Rechtsbehelf isd 80 Abs. 1 VwGO eingelegt haben muss, dessen aufschiebende Wirkung wiederhergestellt werden soll. Es spricht viel dafür, dies mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG und die gesetzliche Regelung über die einmonatige Klagefrist des 74 Abs. 1 VwGO zu verneinen. Hierfür streitet im Übrigen auch der eindeutige Wortlaut des 80 Abs. 5 Satz 2 VwGO, so dass auch ein Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung eines noch zu erhebenden Rechtsbehelfs zulässig ist. Hier hat die T gleichzeitig Klage erhoben, so dass der Streit letztlich dahinstehen kann
2. Klage nicht offensichtlich unzulässig Das Rechtsschutzbedürfnis fehlt, wenn die gleichzeitig erhobene Klage offensichtlich unzulässig ist. Dafür findet sich kein Anhalt. 3. Vorheriger Antrag nach 80 Abs. 6 VwGO? Ein erfolglos durchgeführtes Aussetzungsverfahren ist nur in den Fällen nach 80 Abs. 6 VwGO erforderlich. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. VI. Ergebnis: Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der gleichzeitig erhobenen Klage gegen den Bescheid der B vom 31. März 2017 ist zulässig. C) Begründetheit des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Vollzug des Ausreiseverbots und der Aufforderung zur Herausgabe des Personalausweises: Prüfungsmaßstab (von den Studenten/-innen zu nennen): Der Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen, ist begründet, wenn die Anordnung der sofortigen Vollziehung aus formellen Gründen fehlerhaft ist (formelle Rechtswidrigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung) oder wenn das Interesse des Betroffenen an dem einstweiligen Nichtvollzug das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt (materielle Rechtswidrigkeit der Vollziehungsanordnung). I. Formelle Rechtmäßigkeit der Vollziehungsanordnung 1. Zuständigkeit Zuständig für die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist die Behörde, die den/die zu vollziehenden Verwaltungsakt/e erlassen hat. Das ist vorliegend die Ausländerbehörde der Stadt B.
2. Verfahren Eine Anhörung nach 28 Abs. 1 VwVfG NRW ist bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung nach überwiegender Auffassung nicht erforderlich; es handelt sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht um einen Verwaltungsakt, sondern um ein rein prozessuales Instrument, mit dem die Wirkungen des Suspensiveffekts nach 80 Abs. 1 VwGO beseitigt werden. 3. Form Nach 80 Abs. 3 S. 1 VwGO ist eine besondere schriftliche Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung erforderlich. Es genügt nicht, dass die Ausführungen für den Erlass des zugrundeliegenden Verwaltungsaktes wiederholt werden; vielmehr müssen sich aus der Begründung die Besonderheiten des Einzelfalles ergeben, die ein Abweichen vom gesetzlichen Regelfall Klage hat gem. 80 Abs. 1 VwGO aufschiebende Wirkung rechtfertigen. Dies wird hier mit der besonderen Gefährlichkeit der T und der Sicherstellung der Strafverfolgung bezogen auf beide Regelungen ausreichend dargelegt. II. Materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung: Die materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung ist gegeben, wenn die anzustellende Interessenabwägung ein überwiegendes Vollzugsinteresse ergibt. Folgender Maßstab für die Interessenabwägung sollte gesehen werden: Ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig, überwiegt in aller Regel das öffentliche Interesse an der Vollziehung des Verwaltungsaktes das Privatinteresse, vorläufig von der Vollziehung des Verwaltungsaktes verschont zu bleiben. Ist dagegen der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig, geht immer das Privatinteresse vor, weil an der Vollziehung rechtswidriger Verwaltungsakte (in einem Rechtsstaat) niemals ein öffentliches Interesse bestehen kann. Sind hingegen die Erfolgsaussichten offen, so ist im Rahmen einer nicht nur an den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens orientierten Interessenabwägung zu entscheiden, welches Interesse schwerer wiegt.
1. Offensichtliche Rechtmäßigkeit/Rechtswidrigkeit des Ausreiseverbots? a) Ermächtigungsgrundlage Ermächtigungsgrundlage für das Ausreiseverbot ist 46 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. b) formelle Rechtmäßigkeit aa) Zuständigkeit Die Ausländerbehörde der Stadt B ist nach dem Sachverhalt zuständig. bb) Verfahren Eine Anhörung nach 28 Abs. 1 VwVfG NRW hat nicht stattgefunden. Vertretbar dürfte sein, einen Fall des 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW anzunehmen. Zumindest aber wäre der Anhörungsmangel heilbar (vgl. 45 VwVfG NRW). cc) Form Die nach 20 OBG NRW erforderliche Schriftform ist gewahrt. c) materielle Rechtmäßigkeit des Ausreiseverbots Tatbestand des 46 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i. V. m. 10 Abs. 1 Satz 2, 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG: Es müssen Tatsachen vorliegen, die die Annahme begründen, dass die T die innere oder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet. Die Studenten/-innen sollten die Begriffe der inneren und äußeren Sicherheit sowie der Belange der Bundesrepublik Deutschland definieren können. Spezialkenntnisse werden insoweit nicht vorausgesetzt. Gute Kandidaten werden erkennen, dass der Begriff der äußeren und inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland enger zu verstehen ist als die öffentliche Sicherheit nach dem allgemeinen Gefahrenabwehrrecht. Ein normativer Anhalt findet sich in 92 Abs. 3 Nr. 2 StGB. Die Gefährdung der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland setzt voraus, dass die Sicherheit der Einrichtungen des Bundes und der Länder, der Amtsführung ihrer Organe und des friedlichen und freien Zusammenlebens der Bewohner, ferner die Sicherheit lebenswichtiger Verkehrs- und Versorgungseinrichtungen gefährdet ist und diese Gefährdung die bloße Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit in
erheblichem Maße übersteigt (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 02.09.2008 1 A 161/06 -, juris). Der Begriff der inneren Sicherheit umfasst von daher primär Bestand und Funktionstüchtigkeit des Staates (vgl. BayVGH, Beschluss vom 05.03.2015 10 Cs 14.2244 -, juris). Die äußere Sicherheit meint primär die Fähigkeit der Bundesrepublik, sich gegen Angriffe und Störungen von Außen zu verteidigen. Als eine Gefährdung erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland können Handlungen gewertet werden, die geeignet sind, dem internationalen Ansehen Deutschlands zu schaden (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 07.02.2017 23 K 524.15 -, juris, gewaltbereite Fussballfans; OVG NRW, Urteil vom 04.05.2015 19 A 2097/14 -, juris, Unterstützung des Jihad). Entscheidend ist die Frage, ob allein der Umstand einer Beschuldigtenstellung in einem Verfahren nach 129a StGB ohne jede nähere Angabe zum genauen Tatvorwurf eine ausreichend konkrete Tatsache im Sinne der Ermächtigungsgrundlage ist. (Vgl. dazu OVG Bremen, Beschluss vom 28. März 2017 1 LA 23/16 -, juris; OVG NRW, a.a. O.). Insoweit ist mit entsprechender Begründung jedes Ergebnis vertretbar. Gelangen die Studenten/-innen zu einer unzureichenden Tatsachengrundlage, ist der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig, so dass das Privatinteresse der T eindeutig überwiegt, mit der Folge, dass der Antrag begründet ist. Gelangen sie zu einer ausreichenden Tatsachengrundlage, ist im Weiteren das auf der Rechtsfolgenseite der B eingeräumte Ermessen zu überprüfen. Letztlich dürfte dann von einer offensichtlichen Rechtmäßigkeit des Ausreiseverbots auszugehen sein. Folge wäre, dass der Antrag dann unbegründet wäre. Gelangen die Studenten/-innen weder zu einer offensichtlichen Rechtswidrigkeit, noch zu einer offensichtlichen Rechtmäßigkeit des Ausreiseverbots, haben sie eine von den Erfolgsaussichten in der Hauptsache unabhängige allgemeine Interessenabwägung vorzunehmen. Hier stehen sich vermeintliche Sicherheitsinteressen und Strafverfolgungsinteressen der Bundesrepublik
Deutschland und Freizügigkeitsinteressen der T gegenüber. Zu beachten ist, dass die T nicht erklärt hat, gegenwärtig oder in Kürze eine Ausreise zu beabsichtigen. 2. Offensichtliche Rechtmäßigkeit/Rechtswidrigkeit der Aufforderung zur Herausgabe des Personalausweises: a) Ermächtigungsgrundlage Ermächtigungsgrundlage für die Anordnung ist 48 Abs. 1 Ziffer 1 AufenthG. b) formelle Rechtmäßigkeit Insoweit gelten die Ausführungen zur formellen Rechtmäßigkeit des Ausreiseverbots entsprechend. c) materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung zur Herausgabe des Personalausweises Tatbestand des 48 Abs. 1 Ziffer 1 AufenthG: Auf der Tatbestandsebene werden die Studenten/-innen zu klären haben, ob auch ein Personalausweis als Pass im Sinne der Norm anzusehen ist, was allerdings auf der Hand liegen dürfte. Die Gegenansicht ist mit entsprechender Begründung vertretbar. Qualifiziert man den Personalausweis nicht als Pass im Sinne der Norm, fehlt es an der Tatbestandsverwirklichung. Die Aufforderung zur Herausgabe des Personalausweises ist dann offensichtlich rechtswidrig. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wäre begründet. Qualifiziert man den Personalausweis mit der hier vertretenen Ansicht als Pass im Sinne der Norm, teilt die Herausgabeanordnung das rechtliche Schicksal des Ausreiseverbots. Wenn das Ausreiseverbot vollziehbar ist, stellt die Aushändigung des Personalausweises sicher eine zur Sicherung von Maßnahmen nach dem AufenthG erforderliche Maßnahme dar. Insoweit kommt es nur auf eine konsequente Gedankenführung an.