Einführende Beispiele und vollständige Induktion. Mathematische Modellierung Das Ziel der mathematischen Modellierung ist die verlässliche Vorhersage des Verhaltens eines zumeist naturwissenschaftlichen oder ökonomischen Systems. Beispielsweise modellierte Galileo Galilei im Jahre 90 den Fall eines Körpers aus einer zum Erdboden gemessenen Höhe h. Er sagte voraus, dass zum Zeitpunkt t die Höhe dieses Körpers durch die Formel h(t) = h gt beschrieben wird, wobei g 9.8 m der Fallbeschleunigung der Erde entspricht. Insbesondere ist h(t) nach sec diesem Modell unabhängig von der Masse des Körpers. Abbildung : Galileo Galilei Die Vorgehensweise zur Aufstellung eines mathematischen Modells ist die folgende:. Aneignung der wissenschaftlichen Grundlagen durch Beobachtungen und Messreihen sowie Studium früherer Ergebnisse. Mathematische Modellierung durch Einführung mathematischer Variablen als Platzhalter für relevante Gröÿen wie z.b. Zeit, Temperatur, Wellenlänge, elektrische Ladung, Rendite von Wertpapieren, etc. 3. Mathematische Analyse, d.h. Bestimmung der Lösung des formulierten mathematischen Problems und/oder Herleiten von interessanten Eigenschaften. 4. Modellkritik durch Abgleich der Ergebnisse mit der Realität oder neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen In der Regel erweist sich aufgrund der Erkenntnisse aus Punkt 4 das Modell als verbesserungswürdig. Bei den Fallgesetzen Galileis drängt sich etwa die Kritik auf, dass ein Blatt Papier (auf der Erde) nicht dieselbe Fallzeit wie ein Betonklotz hat. Darum muss zur Beschreibung der Situation auf der Erde ein Korrekturterm zur Berücksichtigung von atmosphärebedingten Reibungseekten eingeführt werden. Galileo Galilei (64-64), bedeutender italienischer Physiker mit Beiträgen u.a. in den Bereichen Kinematik und Astronomie, Hauptwerk: Discorsi e dimostrazioni matematiche, intorno a due nuove scienze.
= kompliziertere Modellierung ist erforderlich = kompliziertere Gleichungen und Lösungsverfahren müssen entwickelt werden = Stimulation für mathematische Forschung Gerade im Bereich der mathematischen Modellierung zeigt sich, dass die meisten alltäglichen Situationen zu kompliziert sind, um eine geschlossene Lösung angeben zu können; kein Mathematiker könnte beispielsweise eine verlässliche Vorhersage der zeitlichen Entwicklung der Temperaturverteilung auf dem Karlsruher Marktplatz abgeben. Im Laufe dieses Kurses werden wir vorwiegend Modelle aus der Populationsdynamik untersuchen, deren Lösungen wir auch tatsächlich berechnen können; erst gegen Ende werden wir zunehmend mit Situationen konfrontiert sein, in denen das zugrunde liegende Modell bis heute Gegenstand der Forschung ist und keine explizite Lösung existiert.. Wachstum einer Bakterienkultur Unser erstes Ziel ist die Voraussage der Entwicklung einer Bakterienkultur in einer Petrischale oder konkret: Wie groÿ ist die Bakterienpopulation gemessen durch den von Bakterien bevölkerten Flächeninhalt nach t Stunden? Abbildung : Entwicklung einer Bakterienkultur Modellierung: t : Zeit in Stunden X t : Flächeninhalt der Bakterienkultur nach t Stunden in mm X 0 : Population zu Beginn
Messungen legen die folgende Vermutung nahe (r > 0): X t+ X t = rx t bzw. X t+ = ( + r)x t (t N 0 ) Analyse: X = ( + r)x 0 X = ( + r)x = ( + r) ( + r)x 0 = ( + r) X 0 X 3 = ( + r)x = ( + r) ( + r) X 0 = ( + r) 3 X 0 Wir erhalten daher die Formel X t = ( + r) t X 0 (t N 0 ) Jetzt lassen sich weitere Fragen beantworten. Zum Beispiel: Zu welchem Zeitpunkt überdeckt die Population erstmals eine Fläche von 0mm, wenn sie zu Beginn 0mm bedeckte und r = 0. gilt? Das mathematische Modell liefert die Antwort: 0 = X t = ( + r) t X 0 = 0. t = =. t = log() = t log(.) = t = log() log(.) 8.87 Graphisch lässt sich dies anhand des folgenden Schaubilds erkennen, wobei hier die diskreten Zustände bei t = 0,,,... durch Linien verbunden wurden: 3
¼ ½¼ ½ º ¾ Abbildung 3: Beispiel für r = 0. und X 0 = 0 Modellkritik: Tatsächlich wird die Entwicklung einer Bakterienkultur jedoch eher durch das folgende Schaubild beschrieben: ¼ ½¼ ½ ½¼ Abbildung 4: realistisches Beispiel für r = 0. und X 0 = 0 Das Modell müsste daher noch verbessert werden, um die Entwicklung über den Zeitpunkt t = 0 hinaus korrekt zu schreiben. Dabei ist zu berücksichtigen:. Die Petrischale ist nicht unendlich groÿ, d.h. eine wachstumsbeschränkende Bedingung muss in das Modell integriert werden.. Fehler durch Diskretisierung der Zeit (?) 3. Das Modell ist lediglich zur Beschreibung des Beginns der Entwicklung verwendbar. Später werden wir sehen, welch verheerende Auswirkungen der begrenzende Faktor X t auf die Dynamik des Systems haben kann. 4
.3 Kaninchen-Population nach Fibonacci: Das folgende Modell zur Beschreibung einer Kaninchenpopulation geht auf Leonardo von Pisa 3 zurück. Es beruht auf den folgenden Grundannahmen:. Es gibt ein Kaninchenpaar zu Beginn.. Jedes Kaninchenpaar bringt ab dem zweiten Monat monatlich ein Paar zur Welt. Die Entwicklung lässt sich folgendermaÿen veranschaulichen: Abbildung : Leonardo von Pisa 4 3 ÓÖØÔ ÒÞÙÒ Ã Ò Ò ÒÔ Ö ÓÖØÔ ÒÞÙÒ ÙÒ Ã Ò Ò ÒÔ Ö Ð Ã Ò Ò ÒÔ Ö Ã Ò Ò Ò ÐØ ÖÒ¹Ã Ò Ò Ò Ò Ö 0 0 3 4 Abbildung 6: Schematische Veranschaulichung des Fibonacci-Modells Wie erhalten somit die sogenannte Fibonacci-Folge,,, 3,,... und es drängt sich die Frage auf, wie diese Folge fortzusetzen ist. Modellierung: t : Zeit in Stunden X t : Anzahl der Kaninchenpaare nach t Monaten X 0 = Da alle Kaninchenpaare der Vorgeneration überleben, gilt X t+ = X t + x, wobei x 0 die Anzahl der neugeborenen Kaninchenpaare ist. Alle Kaninchenpaare, die Monate alt 3 Leonardo von Pisa (ungefähr 80-0), einer der herausragendsten Mathematiker des Mittelalters, förderte die Verbreitung des arabischen Zahlensystems und hielt die Regeln der Arithmetik (Rechenregeln) in seinem Hauptwerk liber abbaci für die Nachwelt fest. Diesem Werk entstammt auch das hier zitierte Modell der Kaninchen-Population.
oder älter sind - dies sind X t Stück - bringen ein Kaninchenpaar zur Welt. Es folgt X t+ = X t + X t (t N) X 0 =, X = Analyse: Zur Lösung der obigen Gleichung machen wir den folgenden Ansatz: X t = λ t. X t+ =X t + X t (t N) = λ t+ = λ t + λ t (t N) = λ = λ + bzw. λ λ = 0 = λ, = ± ( ) 4 ( ) Problem: Weder X t = λ t noch X t = λ t erfüllt X =. Lösung: Betrachte stattdessen X t = aλ t + bλ t für a, b R. Dann gilt immer noch X t+ = X t + X t, denn = ± X t+ = aλ t+ + bλ t+ = aλ t λ + bλ t λ = aλ t (λ + ) + bλ t (λ + ) = aλ t + aλ t + bλ t + bλ t = ( aλ t + bλ t ) ( + aλ t + bλ t ) = X t + X t. Die zu erfüllenden Anfangsbedingungen X 0 = und X = bestimmen a und b: X 0 =, X = = a + b =, aλ + bλ = Ergebnis unserer Untersuchungen ist die sogenannte = b = a, aλ + ( a)λ = = a = λ = + λ λ = b = a = + = 6
Formel von Binet X t = + ( + ) t + ( ) t Ein mathematisch rigoroser Beweis folgt später in allgemeinerem Rahmen. Modellkritik:. Die Population wächst über alle Maÿen.. Die Zeitpunkte der Reproduktion sind deterministisch. 3. Die Anzahl der Nachkommen ist deterministisch. 4. Das Sterben der Kaninchen wird nicht berücksichtigt.. Die Nachkommenschaft ist nur sehr vereinfacht durch Pärchen modellierbar..4 Spinnennetz-Diagramme Spinnennetz-Diagramme dienen zur graphischen Veranschaulichung der Entwicklung einer rekursiv denierten Folge X t+ = f(x t ) mit einem gegebenen Anfangswert X 0. Beispiel: X t+ = 0.8X t 0., X 0 = Es ist immer zunächst Graph der Funktion f, in unserem Fall f(x) = 0.8x 0., sowie die Diagonale in ein Koordinatensystem einzuzeichnen: ܵ Abbildung 7: Diagonale und f(x) = 0.8x 0. 7
Dann wird folgendermaÿen verfahren: Schritt 0 : Start im Punkt (X 0, f(x 0 )) = (X 0, X ). Im Beispiel: (, 0.9). Schritt : Waagrechte auf Diagonale, d.h. auf den Punkt (X, X ), und anschlieÿend Senkrechte auf das Schaubild der Funktion ziehen. Wir benden uns im Punkt (X, f(x )) = (X, X ). Im Beispiel: ( 0.9, 0.6). Schritt : Waagrechte auf Diagonale und wieder Senkrechte auf das Schaubild der Funktion ziehen. Wir benden uns im Punkt (X, f(x )) = (X, X 3 ). Im Beispiel: (0.6, 0.96).... Auf diese Weise lassen sich somit schnell Folgenglieder ermitteln und eine Einschätzung abgeben, ob und wenn ja gegen welchen Grenzwert die Folgeglieder konvergieren. ܵ Abbildung 8: Spinnennetz-Diagramm zu f(x) = 0.8x 0. und X 0 = Im Beispiel konvergiert die Folge oenbar gegen den Schnittpunkt des Schaubilds von f mit der Diagonalen. Es handelt sich um ein generelles Prinzip, dass Grenzwerte solcher Folgen dem Schnittpunkt von Diagonale und Schaubild von f entsprechen. Die Berechnung des Grenzwertes erfolgt daher über die Lösung der Gleichung X = f(x ) (Grenzwertgleichung) (.) Im Beispiel: X = 0.8 X 0., der Grenzwert der Folge X t ist daher X = 8. 8