Verstehen und Handeln von der Gesellschaftsdiagnose zum Therapieerfolg 4. Symposium des Schweizer Expertennetzwerks für Burnout Bern, 05.11.2015 Nicht schnell genug? In welchen Zeiten leben wir? Zeitsouveränität, Multitasking, Verfügbarkeit Hartmut Rosa, MWK Erfurt/Friedrich-Schiller-Universität Jena
In welchen Zeiten leben wir? Überblick I.) Dynamische Stabilisierung: Die Eskalationslogik der Moderne II.) Ursachen, Formen und Folgen sozialer Beschleunigung III.) Beschleunigungskrisen IV.) Drifter, Surfer, Depressive: Entfremdungskrisen V.) Schlussfolgerungen für Therapie und Prävention
In welchen Zeiten leben wir? I. Dynamische Stabilisierung: Die Eskalationslogik der Moderne Modernity is about the Acceleration of Time (Peter Conrad, 1999) Eine Gesellschaft ist modern, wenn sie sich nur dynamisch zu stabilisieren vermag, d.h. auf Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung angewiesen ist, um sich zu erhalten und zu reproduzieren.
In welchen Zeiten leben wir? I. Dynamische Stabilisierung: Die Eskalationslogik der Moderne Modernity is about the Acceleration of Time (Peter Conrad, 1999) Die Umstellung auf das Prinzip dynamischer Stabilisierung lässt sich seit dem 18. Jahrhundert beobachten: - in der Wirtschaft (G W- G ) - in der Wissenschaft (Wissen als Schatz als Programm) - in Politik (Demokratie) und Recht (Gesetzgebung) - in Kunst/Literatur (Innovation/Originalität statt Mimesis)
In welchen Zeiten leben wir? I. Hinter multiplen Modernen und vielfältigen Kapitalismen: Ein stahlhartes Gehäuse: Der Eskalationslogik der Moderne - Steigerung zur Systemerhaltung Wachstum Innovationsverdichtung Beschleunigung
In welchen Zeiten leben wir? II. Soziale Beschleunigung Die Eskalationslogik der Moderne wird in der Zeitdimension zum Problem, denn: Güter, Kontakte und Optionen lassen sich grenzenlos vermehren Zeitressourcen nicht; sie müssen verdichtet werden Zeit vergeht schneller (Wahrnehmung) Zeit wird knapper (Zeit als Rohstoff)
In welchen Zeiten leben wir? II) Soziale Beschleunigung: Drei Dimensionen der Dynamisierung der Welt 1. Technische Beschleunigung Transport, Kommunikation, Produktion Dimensionen der Beschleunigung 3. Beschleunigung des Lebenstempos Mehr tun und erleben in weniger Zeit 2. Beschleunigung des sozialen Wandels Gegenwartsschrumpfung,rutschende Abhänge Soziale Beschleunigung: Das immer schnellere In-Bewegung- Setzen der materiellen, sozialen und geistigen Welt
Surfer, Drifter, Depressive III. Warum die Eskalationslogik zum Problem wird: Beschleunigungskrisen Es wird immer schwieriger, die Dynamisierung in Gang zu halten - Wer/Was zu langsam ist, wird abgehängt: 1) Immer mehr Energie : Die Öko-Krise 2) Mitbestimmung dauert zu lange : Die Demokratiekrise 3) Das Virtuelle ist schneller : Die Finanzmarktkrise 4) In mir steht alles still : Die Psychokrise Vierfache Desynchronisation!
In welchen Zeiten leben wir? Exkurs: Konsequenzen für die professionellen Akteure: - Praxis-Wissen veraltet immer schneller (Regeln, Akteure etc.) - Ziele, Instrumente und Methoden stehen unter Dauerrevision - Entwertung von Erfahrung und Expertise - Entfremdung (fehlende Anverwandlung) von: Kollegen, Klienten/Kunden/Patienten; Raum, Aufgaben, Werkzeugen, Zielen - Unmögliche Zielsetzung ( Reparaturbetrieb ) Resonanzverlust! Besteht das Ziel des professionellen Handelns darin, Menschen fit fürs Hamsterrad zu machen?
2) Veränderte Anerkennungsmuster Vom positionalen zum performativen Kampf um Anerkennung: Die Facebook-Logik! Surfer, Drifter, Depressive IV. Schuldige Subjekte, verstummte Resonanzachsen: Entfremdungskrisen 1) Veränderte Identitätsmuster Vormoderne: Wer ich bin, steht fest Klassische Moderne: Finde Deinen Platz! Spätmoderne: Vermeide Positionierungen! Von der stabilen zur performativen Identität (Surfer, Drifter, Fundi, Depressiver)
Surfer, Drifter, Depressive 3) Die Produktion schuldiger Subjekte Die To-do-Liste ist niemals abgearbeitet Muße wird kategorial unmöglich quantified self : Unabschließbare Optimierungszwänge ( Aporien der Perfektionierung ; King/Gerisch/Rosa) 4) Verlust der Fortschrittsperspektive: Immer schneller laufen, um den Platz zu halten Angst, abgehängt zu werden (nicht einmal der Körper kann uns stoppen ) Vom Fortschritt zum rasenden Stillstand
Surfer, Drifter, Depressive 5) Spätmoderne Subjektivität: Vier (fünf) Muster performativer Identität 1. Der Surfer/Wellenreiter: Er springt je nach Wind und Strömung von Welle zu Welle und bleibt oben hat aber keine Richtung (K. Gergen) Variante: Flipperspieler: Hält seine Bälle im Spiel und setzt darauf, dass einer davon den großen Gewinn einfährt 2. Der Drifter: Verliert die Kontrolle über sein Leben und wird vom Schicksal herumgestoßen (R. Sennett) 3. Der Fundamentalist: Versucht eine performative, anachronistische Verankerung seines Lebens in transzendenter Stabilität (Gott, Nation; performative Radikalisierung: Terrorist) (M. Castells) 4. Der Depressive: Erschöpftes Selbst Burn-out Subjekt: Zeitlicher Erstickungsanfall (R. Levine).
6) Entfremdung: Wenn die Welt stumm wird - Resonanz und Entfremdung als Grundkategorien der Weltbeziehung (Wüsten und Oasen) - Burnouterfahrungen als Verstummen der Resonanzachsen: - Es kommt nichts zurück Surfer, Drifter, Depressive In mir ist alles stumm, kalt, leer draußen ebenso - Fehlende Anverwandlung von Weltausschnitten ( Beziehung der Beziehungslosigkeit) Time to move Zynische Weltbeziehung; Suizid, Depression
Surfer, Drifter, Depressive 7) Wer hat hier eigentlich Therapiebedarf?? Wie krank ist eine Gesellschaft, die auf die Frage: Wann ist die Wirtschaft groß genug / der Wettbewerb hart genug / die Innovationsfähigkeit hoch genug? schlicht: Niemals! Antworten kann?
Surfer, Drifter, Depressive Epilog Die Rolle von Medizin und Psychotherapie Was machen eigentlich Sie in diesem Spiel? a) Psychotherapie als Optimierungsagentur? b) Psychotherapie als Coping-Strategie/Reparaturbetrieb? c) Psychotherapie als Hort des Widerstands? Oder geht es Ihnen wie Ödön von Horváth / der Katze?
Beschleunigung und Entfremdung Eigentlich bin ich ganz anders nur komme ich so selten dazu! Vielen Dank für die Resonanz!