Inklusion und spezialisierte psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung

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Transkript:

1 Prof. Dr. Klaus Hennicke Vortrag zum 10. Jahrestag der Tagesklinik Bernsteinstraße am 1.12.2017 in Stuttgart Inklusion und spezialisierte psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung Die deutsche Psychiatrie hat sich mit der ansonsten epochalen Psychiatrie-Enquete 1975, also jetzt vor gut 40 Jahren, aus der Zuständigkeit für Menschen mit geistiger Behinderung bekanntlich verabschiedet. Ein nicht ganz unlogischer Schritt auf dem historischen Hintergrund der ungeheuren Verbrechen der deutschen Psychiatrie an Menschen mit Behinderungen vor und zur Zeit des Nationalsozialismus und weiterhin danach in den Schlangengruben der Oligophrenieabteilungen der Landeskrankenhäuser und mancher Behindertenanstalten. Beides hallt bis heute nach. Wir verfügen in Deutschland über keine positive psychiatrische Tradition im Umgang mit geistig behinderten Menschen, und nur wenige engagierte Träger, Kliniken und Einrichtungen der Behindertenhilfe und Organisationen haben sich aus dieser Tradition lösen können. Im Rahmen der sog. Enthospitalisierung auch ein Stück Ergebnis der Psychiatrie-Enquete - erfolgte die eher freundliche Übernahme der Zuständigkeit und damit der Definitionsmacht für die Belange von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung durch die Heil- und Sonderpädagogik bzw. die pädagogisch dominierte Behindertenhilfe. Dies führte zu sehr fruchtbaren und für die Betroffenen und ihre Familien segensreichen Entwicklungen. Die internationalen sozialpolitischen Bewegungen der Normalisierung der Lebensbedingungen und der Integration in die Gemeinden, der Autonomie und Selbstbestimmung behinderter Menschen und schließlich die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2009 in Deutschland boten dafür den Rahmen. Inklusion wurde zum pädagogischen und zivilgesellschaftlichen Programm. Aber auch die andere Seite dieser Entwicklungen wurde deutlich: Das Leben in der Gemeinde bedeutete auch sich gegenüber den wirklichen Risiken der modernen Gesellschaft behaupten zu müssen, was nicht allen gelingt und wozu zusätzliche Hilfen notwendig werden, dass die nicht barrierefreie Inanspruchnahme vornehmlich privater Gesundheitsdienstleister kaum ohne zusätzliche personelle und finanzielle Unterstützung realisiert werden kann, dass die mangelhafte Expertise eben dieser Dienste für die besonderen Belange und Voraussetzungen von Menschen mit geistiger Behinderung eben ein mangelhaftes Versorgungsniveau zur Folge hat. Es wurden drastisch die Grenzen für selbstbestimmtes Leben für beeinträchtigte Menschen in der komplexen Welt der modernen kapitalistischen Leistungsgesellschaft aufgezeigt. Und die erhofften Einsparungen resp. Verbilligungserwartungen einer so modernisierten Behindertenhilfe haben sich nicht erfüllt. Ich glaube, die öffentliche Debatte um die UN-Konvention und ihr Kernanliegen der Inklusion in den letzten Jahren hat dazu geführt, dass die Ansprüche der betroffenen Kinder und ihrer Familien, der betreuenden Einrichtungen, der Förderschulen und der Behindertenhilfe an differenzierte Erklärung und Therapie erheblich gestiegen sind. Es kann nicht mehr so einfach wie früher behauptet werden,

2 die ungewöhnlichen Lebensäußerungen der intellektuell Beeinträchtigten seien nur Ausdruck ihrer eingeschränkten Denkmöglichkeiten, ihre häufigen expansiv-aggressiven Verhaltensweisen seien eine typische Wesenseigenschaft von geistig Behinderten, ihre autistischen oder besser autismiformen Äußerungsformen seien ebenso nur ihrer verqueren Hirnfunktion geschuldet. Es wird immer deutlicher oder besser gesagt selbstverständlicher, dass Kinder- und Jugendliche mit Intelligenzminderung in gleicher Weise an sich, ihrem Leben und an der Welt wie jedes Kind auf dieser Welt leiden können und sich dieses Leiden in Verhaltensauffälligkeiten und Symptomen ausdrückt, die in besonderer Weise durch die Intelligenzminderung ausgestaltet werden: Beeinträchtigte Kinder trauern oder ängstigen sich oder werden wütend genauso wie nicht beeinträchtigte Kinder, sie drücken ihr inneres Erleben aber häufig ganz anders aus, als wir es gewohnt sind oder in der Weiterbildung gelernt haben. Dies macht es so schwierig, die Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen wirklich zu differenzieren und zu verstehen, und gleichzeitig so leicht, die Verhaltensweisen einfach auf die geistige Behinderung zurückzuführen. Die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sich mit wenigen Ausnahmen diesen Bewegungen und fachlichen Diskursen kaum geöffnet. Im Großen und Ganzen beruhigte man sich damit, dass diese Kinder und Jugendlichen bei den Pädagogen, bei den Ergotherapeuten, in den SPZs, in der Frühförderung ja gut aufgehoben seien, zudem unser Sozialrecht SGB XII/SGB IX einen soliden Unterstützungsrahmen abgibt. Das System der Förderschulen ist darüber hinaus ein verlässliches tagesstrukturierendes Angebot für diese Kinder, auch für die schwierigen und seelisch kranken, was sicherlich nicht Auftrag der Förderschulen als Bildungseinrichtung ist. Es gab keinen unmittelbaren Anlass für die deutsche Kinder- und Jugendpsychiatrie, sich mit den seelischen Problemen intelligenzbeeinträchtigter Kinder und Jugendlicher auseinanderzusetzen. Es ist daher kein Zufall, dass die wenigen epidemiologischen Studien in Deutschland zu Verhaltensauffälligkeiten bei intellektuell beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen fast ausschließlich von sonderpädagogischer Seite durchgeführt wurden. Selbst die eindeutigen Forderungen im Art. 25 der UN-Konvention hinsichtlich der gesundheitlichen Versorgung, nämlich eine Versorgung nach den üblichen Standards in allen Regelangeboten der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu gewährleisten, sowie die Notwendigkeit der Schaffung spezieller Angebote wegen der Behinderung, die über das übliche Maß hinausgehen, verhallen in unserem Fach weitgehend ungehört oder verlieren sich im Gestrüpp der Klagen, dass irgendjemand daran schuld sei: Krankenkassen, Einrichtungsträger, kommunale Politik oder schlichtweg: Solche Spezialangebote sind einfach zu teuer und die Klientel ist doch eigentlich gut versorgt! Allerdings: Mit dem doch hartnäckig sich breitmachenden Inklusionsgedanken bröckelt diese restriktive Haltung, denn es lässt sich nicht mehr so einfach weghören/wegsehen:

3 Klagen der Eltern, dass sie außer vielleicht Medikamente vom Hausarzt keine wirklichen Hilfen finden und sogar abgewiesen werden, Klagen der Förderschulen, dass in vielen Fällen die Grenzen der Beschulbarkeit erreicht sind und bei den externen Hilfen weder Interesse noch Expertise zu finden ist, die Klagen der ambulanten und stationären Behindertenhilfe, die keine verbindlichen Kooperationen aus Mangel an Ärzten mit Interesse und Expertise etablieren können, das Wissen um den oftmals maß- und kopflosen Einsatz von Psychopharmaka bei Verhaltensauffälligkeiten, und nicht nur in der stationären Behindertenhilfe, die hohen Prävalenzen psychischer Störungen, die auch international epidemiologisch allemal bestätigt sind. (Übrigens erstmals in den 1970er Jahren, als Sir Michael Rutter in der berühmten Ilse-of-Wright- Studie eine Prävalenz von 50 % in dieser Personengruppe feststellte) Die evidente Überforderung der Regelangebote der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die den komplizierten Anforderungen verhaltensauffälliger und psychische kranker Patienten mit Intelligenzminderung nicht gewachsen sind. Die Idee der Inklusion als menschenrechtliche Forderung der uneingeschränkten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben macht unmissverständlich deutlich, dass hier Menschen versuchen, ein Leben unter widrigen Umständen zu gestalten, Menschen mit besonderen Bedürfnissen und Wünschen, Menschen mit einer Seele, die den gleichen Respekt erwarten, vor allem aber verdienen für ihre unglaublichen und manchmal wirklich kreativen Anstrengungen, in dieser für sie schwierigen Welt doch zurechtzukommen. Und vor allem wird auch deutlich, dass Teilhabe unmittelbar an eine hinreichende seelische Gesundheit gebunden ist. Dabei geht es nicht um geringe soziale Kompetenzen, um mangelhafte Copingfähigkeiten, um eingeschränkte exekutive Funktionen, um Kommunikationsschwierigkeiten, also um so genannte behinderungsbedingte Probleme, die sämtlich im guten sonderpädagogischen, wirklich inklusiven Rahmen aufgefangen werden könnten, sondern um emotionale Befindlichkeiten, Ängste, Unsicherheiten, Impulskontrollprobleme, unsinnig wirkende Rituale und Stereotypien, Aktualisierungen belastender oder traumatischer Erfahrungen in affektiven Ausnahmezuständen, psychotische Verkennungen, katatone Rückzüge, schwere Selbstverletzungen, überbordende Zwänge, dysfunktionale Verhaltensstrategien als Überbleibsel früher Entwicklungsphasen und vieles mehr, also um die besonderen Ausdrucksformen seelischer Probleme und psychiatrischer Symptomatik. Diese machen die Nutzung inklusiver Angebote schwierig bis unmöglich. Nur unter der Voraussetzung hinreichender seelischer Gesundheit ist es überhaupt denkbar, dass intellektuell beeinträchtigte Menschen in der Lage sind, sich ihren möglichen Anteil an der Teilhabe in der modernen Gesellschaft zu sichern. Diese Voraussetzungen zu schaffen ist natürlich erstmal nicht Aufgabe der Psychiatrie, sondern Aufgabe vor allem der Familie, der Frühförderung, der Kindergärten und Schulen. Auch sollte nicht die Kompensation der behinderungsbedingten Einschränkungen im Vordergrund stehen (wie es ein primär medizinischer Zugang für richtig hält, z.b. in den SPZs), sondern um die Unterstützung der Entwicklung zu einer mit sich und der Welt im Reinen lebenden Persönlichkeit mit einer Beeinträchtigung.

4 Maßstab kann nicht die gesellschaftliche Durchschnittsnorm sein, sondern die den eigenen individuellen Möglichkeiten entsprechende Normalität, also eine individuelle Normalität. Für die Eltern und für die Kinder sollte nicht der ständige Vergleich mit den so genannten gesunden Kindern der Maßstab sein, sondern die Entwicklungsmöglichkeiten, die das Kind mit seinen je individuellen Einschränkungen hat. Natürlich wird man seines Lebens nicht froh, wenn man ständig darauf gestoßen wird, nicht so klug und leistungsfähig zu sein wie andere Kinder. Auch das muss dringend in der Inklusionsdebatte berücksichtigt werden. Dafür müssen die Eltern und betreuenden Pädagogen die Einschränkungen kennen und nicht wie es in der fundamentalistischen Inklusionsdebatte gefordert wird jegliche Diagnostik verweigern, aus einer vorweg genommenen Unterstellung, man würde jemanden damit diskriminieren. Primäre Aufgabe der Psychiatrie und Psychotherapie wäre also, Kindern und Jugendlichen und vor allem ihren Familien dabei zu helfen, die in Unordnung geratenen seelischen Prozesse soweit zu ordnen, dass ein hinreichend sicheres und zufriedenes Leben, Lernen und Arbeiten unter den jeweiligen angemessenen Bedingungen möglich ist. Diese hochkomplexe Aufgabe kann wie schon angedeutet nur eine spezialisierte Kinder- und Jugendpsychiatrie leisten, weil zu den üblichen Entwicklungsrisiken, denen alle Kindern und Jugendlichen in der Gesellschaft ausgesetzt sind (z.b. körperliche und seelische Belastungen, Gewalterfahrungen, Traumatisierung, familiäre Krisen, Trennungs-/Verlusterfahrungen) besondere Bedingungen dazu kommen, nämlich die körperlichen, biologischen und neuropsychologischen Voraussetzungen intelligenzgeminderter Kinder, die in ganz spezieller Weise Einfluss nehmen auf die Wahrnehmung und Verarbeitung der Erfahrungen von sich selber und von der Welt, und die enormen Herausforderungen (häufig Überforderungen) der Eltern und der Familien, die notwendigen Bindungsmöglichkeiten, die emotionale Beziehungsgestaltung sowie die komplizierten Erziehungsanforderungen zu gewährleisten, was für sich genommen bereits hohe Risiken mit sich bringen kann, sowie schließlich die ausgrenzenden sozialen Bedingungen der modernen Gesellschaft, die per se ein hohes Maß an unvermeidlichen Barrieren bedeuten, mit denen kognitiv beeinträchtigte Menschen zurechtkommen muss. Solche komplizierten Anforderungen sind nur zu bewältigen auf Basis erheblicher klinischer Erfahrung, gründlichen kinder- und jugendpsychiatrischen Wissens mit intensiver Untermauerung durch entwicklungspsychologisches Wissen, mit unbedingtem Respekt vor den enormen Leistungen der Familien, die es fertig bringen, diese Kinder trotz erschwerter Bedingungen zu versorgen, zu erziehen und auch zu lieben, aber denen es auch manchmal zu viel werden kann und darf, sowie schließlich mit gründlichen Kenntnissen der regionalen Versorgungslandschaft der Jugendund Behindertenhilfe. Die intensive Kooperation mit den Förderschulen ist selbstverständlich.

5 Vor allem aber: Kindern und Jugendlichen mit intellektuellen Beeinträchtigungen sollte ein Erfahrungsraum zur Verfügung stehen, besonders natürlich dann, wenn sie sowieso durcheinander, desorientiert, verstört und ratlos sind, innerhalb dessen sie sich wieder als wirksam und kompetent erleben können. Das gelingt leichter auf spezialisierten Klinikstationen (und wahrscheinlich auch in speziellen schulischen- und Förderkontexten). Viele Kinder und Jugendliche kommen wie erwähnt aus Situationen, in denen sie einer am gesellschaftlichen Durchschnitt orientierten Normalität hinterher hecheln, ohne dass sie je für sie erreichbar ist. Wir müssen Gelegenheiten schaffen für individuelle Erfolge, aber auch genügend Raum schaffen für die Erfahrung von Einschränkung und Akzeptanz des Unerreichbaren. Und wir müssen lernen, bei diesen Kindern nicht mehr zu allererst von der Behinderung her zu denken, also auf die manifesten Beeinträchtigungen zu fokussieren, wie es üblicherweise geschieht, sondern von den seelischen Problemen besonderer Menschen auszugehen, die mit sich und der Welt Probleme entwickeln können, wie alle Kinder auch. Von daher ist das gern benutzte Etikett vom Systemsprenger schrecklich unpassend, weil es nicht darum gehen kann, neue Versorgungssysteme vorzuhalten, wo diese Chaoten, Störer, Monster untergebracht werden können, sondern es geht um die Nutzung bewährter Systeme für seelisch kranke Menschen (wie eben genau diese Tagesklinik), die die üblichen, aber spezialisierten, mit besonderer Expertise ausgestatteten Betreuungs- und Behandlungsangebote brauchen, um mit sich wieder einigermaßen ins Reine zu kommen. Inklusive Bedingungen im Kindergarten, in der Schule, in Teilen gesellschaftlicher Angebote können hilfreich sein, sie können aber auch destruktiv wirken, wenn die Voraussetzungen nicht stimmen. Jede Förderschule geistige Entwicklung in Berlin hat mittlerweile spezielle Angebote für Rückkehrer aus der Inklusion. Man kann sich leicht vorstellen wie es diesen Kindern und ihren Eltern damit geht! Es ist ein Irrglaube anzunehmen, Leben, Lernen oder Arbeiten unter inklusiven Bedingungen selbst in der Idealform macht automatisch zufrieden. Die Beeinträchtigungen bleiben und beschränken die Möglichkeiten der Aktivität und Teilhabe, die immer ihre subjektive Wirkung entfalten, wie im Modell der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) beschrieben. Inklusion ist eine individuelle Möglichkeit, kein zu erzwingendes Ziel. Inklusion muss den Rahmen für das individuelle Wohlbefinden des Kindes leisten, sonst macht Inklusion keinen Sinn! Die Schaffung der Rahmenbedingungen ist selbstverständlich staatliche Aufgabe und darf nicht auf die Zivilgesellschaft abgewälzt werden Die Versorgungslogik einer Tagesklinik ist nicht die, so zu tun als ob sie die Probleme für den Betroffenen und seinem Lebenskontext bewältigen könne - wie manchmal dem vollstationären Rahmen unterstellt wird. Im Gegenteil: Sie unterstützt ihn und seine wichtigen Bezugspersonen dabei, eigene Mittel und Wege zu finden, im wirklichen Leben zurechtzukommen. Darin eine unbotmäßige Individualisierung, Medikalisierung oder gar Psychiatrisierung angeblich sozial verursachter Probleme zu sehen - wie so oft anmaßend behauptet wird ist ziemlich abwegig. Dass dieses hochspezialisierte Angebot der TK Bernsteinstr. so lange und so erfolgreich Bestand hat in diesem Minenfeld der Inklusionsdebatte, wie es Otto Speck einmal formuliert hat, ist das Verdienst des qualifizierten Teams,

6 der beiden Träger und wahrscheinlich auch von manchen politisch Verantwortlichen in der Stadt, vor allem aber ein Verdienst der Familien und Patienten, die offensichtlich das Angebot für sich nutzen können. Denn es ist nicht leicht, als Familie mit einem behinderten Kind auch noch die verruchte Psychiatrie in Anspruch zu nehmen. Ihnen allen sei Dank. Prof. Dr. med. Klaus Hennicke Dipl. Soziologe, Facharzt für Kinder-, Jugendpsychiatrie und psychotherapie klaus.hennicke@posteo.de