MORALISCHE INTUITION UND ETHISCHE RECHTFERTIGUNG

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Bert Heinrichs MORALISCHE INTUITION UND ETHISCHE RECHTFERTIGUNG Eine Untersuchung zum ethischen Intuitionismus ethica

Heinrichs Moralische Intuition und ethische Rechtfertigung

ethica Herausgegeben von Dieter Sturma und Michael Quante

Bert Heinrichs Moralische Intuition und ethische Rechtfertigung Eine Untersuchung zum ethischen Intuitionismus mentis MÜNSTER

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort Einbandgestaltung unter Verwendung eines Fotos von Christina Güldenring Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. = ethica, Band 28 Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlorfrei gebleichtem und alterungsbeständigem Papier ISO 9706 2013 mentis Verlag GmbH Eisenbahnstraße 11, 48143 Münster, Germany www.mentis.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen ist ohne vorherige Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten ISBN 978-3-89785-325-6

Für Anna und Matthias

Inhaltsverzeichnis Vorwort...................................... 9 1. Einleitung: Das Revival des ethischen Intuitionismus................................. 11 2. Vorbemerkungen zur Begriffsgeschichte und zur Verwendungsweise............................. 29 2.1 Begriffsgeschichte............................... 29 2.2 Verwendungsweisen des Begriffs.................... 34 3. Metaethische Einordnung des ethischen Intuitionismus................................. 37 3.1 Vorbemerkungen: Probleme metaethischer Begriffe..... 37 3.2 Grundlegende metaethische Unterscheidungen......... 40 3.2.1 Die semantische Ebene: Deskriptivismus Emotivismus Präskriptivismus, Kognitivismus Nonkognitivismus............................... 40 3.2.2 Die ontologische Ebene I: Realismus Konstruktivismus............................... 46 3.2.3 Die ontologische Ebene II: Nicht-naturalistischer Realismus Naturalismus......................... 54 3.2.4 Eine alternative Einteilung: Subjektivismus Intersubjektivismus Objektivismus................. 58 3.2.5 Die epistemologische Ebene I: Unmittelbarer mittelbarer Erkenntniszugang...................... 60 3.2.6 Die epistemologische Ebene II: Ethischer Intuitionismus moral sense -Theorien.............. 64 3.2.7 Die motivationale Ebene: Internalismus Externalismus.. 66 3.3 Die metaethische Verortung des ethischen Intuitionismus.................................. 69 3.4 Formen des klassischen Intuitionismus als Variationen eines epistemologischen Themas.................... 72 3.4.1 Ontologische Variationen: Generalismus Partikularismus; Monismus Pluralismus............. 72 3.4.2 Normative Variationen: Deontologie Konsequentialismus Tugendethik.................. 74

8 Inhaltsverzeichnis 4. Der klassische ethische Intuitionismus........... 77 4.1 Vorläufer des klassischen Intuitionismus.............. 77 4.1.1 Edward Herbert of Cherbury...................... 77 4.1.2 Ralph Cudworth................................ 84 4.1.3 Richard Price................................... 94 Exkurs: Die Unterscheidung von Intuitionismus und Induktivismus bei Mill............................ 109 4.2 Der klassische Intuitionismus...................... 113 4.2.1 Henry Sidgwick................................. 113 4.2.2 George Edward Moore........................... 129 4.2.3 Harold Arthur Prichard........................... 148 4.2.4 William David Ross.............................. 161 4.3 Zwischenergebnis: Systematische und historische Bezüge........................................ 178 4.4 Die Kritik am klassischen ethischen Intuitionismus...... 186 5. Aktuelle Versuche einer Fortentwicklung des ethischen Intuitionismus....................... 201 5.1 Jonathan Dancys ethischer Partikularismus............ 202 5.2 Sabine Roesers affectual intuitionism................ 206 5.3 Michael Huemers Intuitionismus.................... 210 5.4 Robert Audis value-based Kantian intuitionism....... 213 5.5 Zusammenfassung und Ausblick.................... 221 6. Grundzüge einer Ethik der Person................. 225 6.1 Der ontologische Zuschnitt einer Ethik der Person...... 227 6.1.1 Minimalrealismus............................... 227 6.1.2 Konstruktivismus............................... 240 6.2 Der epistemologische Zuschnitt einer Ethik der Person... 258 6.3 Das Problem moralischer Motivation................ 284 6.4 Ein kurzer Vergleich mit Audis Kantian intuitionism... 290 6.5 Die Anforderungen der angewandten Ethik........... 292 6.6 Schlussüberlegungen: Probleme hybrider Theoriekonstellationen........................... 293 7. Fazit und Ausblick............................. 297 Literaturverzeichnis........................... 299 Personenregister................................ 313

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 2012/2013 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Habilitationsschrift angenommen worden. Den Gutachtern sowie den übrigen Mitgliedern des Fakultätsrats danke ich für ihr konstruktives Engagement im Rahmen des Verfahrens. Mein besonderer Dank gilt Professor Dieter Sturma, der mein Habilitationsgesuch gegenüber der Fakultät vertreten hat. Darüber hinaus hat er mir in seiner Funktion als Direktor des Deutschen Referenzzentrums für Ethik in den Biowissenschaften (DRZE) die Möglichkeit eröffnet, die Arbeit neben meinen anderen Verpflichtungen über einen längeren Zeitraum kontinuierlich voranzutreiben. Inhaltlich habe ich enorm von Anregungen und Diskussionen von unterschiedlicher Seite profitiert. Mein Hauptdank gilt wiederum Professor Sturma, der mein Interesse an metaethischen Fragestellungen geweckt hat und der mir wichtige Impulse für die inhaltliche Ausrichtung der Arbeit gegeben hat. Dr. Jörg Löschke und Dr. Lisa Tambornino haben frühere Fassungen des Manuskripts gelesen und wertvolle Hinweise zur Verbesserung gegeben. Auch meine übrigen (derzeitigen und früheren) Kolleginnen und Kollegen am DRZE sowie am Institut für Wissenschaft und Ethik (IWE) haben durch viele Diskussionen die Überlegungen, die ich in dieser Arbeit anstelle, wesentlich beeinflusst. Besonders erwähnen möchte ich Professor Dietmar Hübner (jetzt Universität Hannover), mit dem ich in zahllosen Gesprächen viele Probleme, die in dieser Arbeit zur Sprache kommen, intensiv diskutieren konnte. Sein argumentativer Scharfsinn hat mich vor etlichen Irrtümern bewahrt. Den Studierenden, die in den vergangenen Jahren an meinen Seminaren zu ethischen und metaethischen Themen teilgenommen haben, danke ich für ihr beharrliches Nachfragen, das mich dazu gebracht hat, meine philosophischen Auffassungen zu präzisieren. Dankbar bin ich auch dafür, dass ich Teile dieser Arbeit auf Konferenzen bzw. im Rahmen von Institutskolloquien in Den Haag, Hannover und Bern präsentieren durfte. Die kritischen Einwände der Zuhörer waren für die Finalisierung der Arbeit sehr hilfreich. Maike Gersdorff, Lorina Buhr und Nermeen Bashier sowie das Bibliotheks-Team des DRZE Claudia Leuker, Stefan Gellner, Frank Weber und Klaus Lehmkuhl haben mich bei der Literaturrecherche tatkräftig unterstützt; Dr. Ulrich Marder und Markus Franke von der Digitalen Abteilung des DRZE haben unschätzbaren IT-Support geleistet. Hanna Schmitt hat mich bei der Durchsicht der Druckfahnen unterstützt. Allen Genannten gilt

10 Vorwort mein Dank dafür, dass ihre Unterstützung es mir ermöglicht hat, mich ganz auf den Inhalt der Arbeit zu konzentrieren. Schließlich möchte ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen vom DRZE und IWE für die einzigartige Arbeitsatmosphäre bedanken, die zum Gelingen des Projekts ganz wesentlich beigetragen hat. Es ist nicht zuletzt den Geschäftsführern, Herrn PD Dr. Dirk Lanzerath (DRZE) und Herrn PD Dr. Michael Fuchs (IWE), zu verdanken, dass die beiden Bonner Institute ein so förderliches Umfeld für die philosophische Auseinandersetzung bieten. Beiden bin ich darüber hinaus für ihre langjährige Unterstützung zutiefst verbunden. Den Herausgebern, Professor Sturma und Professor Quante, danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe ethica, dem mentis Verlag für die gute Zusammenarbeit im Rahmen der Drucklegung. Auch meinem privaten Umfeld, insbesondere meiner Frau sowie meinen Eltern und Schwiegereltern, möchte ich für die Anteilnahme und die Hilfe danken, ohne die ich diese Arbeit niemals hätte zu Ende bringen können. Zuletzt danke ich Christina Güldenring für die Erlaubnis, eine ihrer Fotografien als Titelbild für dieses Buch verwenden zu dürfen.

1. Einleitung: Das Revival des ethischen Intuitionismus Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich innerhalb der Moralphilosophie eine Teildisziplin entwickelt, die sich mit metatheoretischen Fragen befasst. In dieser Perspektive steht nicht die Frage im Zentrum, welche moralischen Urteile sich rechtfertigen lassen, sondern ob bzw. wie sich ethische Rechtfertigungsansprüche überhaupt einlösen lassen. Diese Teildisziplin der Moralphilosophie wird als Metaethik bezeichnet. 1 Die Metaethik ist also, wie man auch sagen kann, mit»second order questions«befasst, während sich die normative Ethik mit»first order questions«beschäftigt. 2 Theorieansätze werden dabei daraufhin untersucht, auf welche Weise sie Rechtfertigungsansprüche zu befriedigen versuchen. 3 Die Metaethik bemüht sich näherhin darum, Theorietypen anhand von semantischen, ontologischen, epistemischen und motivationalen Annahmen zu klassifizieren und auf ihre Leistungsfähigkeit zu prüfen. Ein wesentliches Ergebnis dieser Bemühungen ist, dass mit Hilfe kategorialer Begriffe Typen ethischer Theorien unterschieden werden können. 4 Einen Theorietyp dieser Art stellt der ethische Intuitionismus dar, wobei zwischen einem engeren und einem weiteren Verständnis von Intuitionismus unterschieden werden muss. Legt man ein engeres Verständnis zugrunde, dann besteht das spezifische Charakteristikum dieses Theorietyps vereinfachend und lediglich in erster Näherung in der epistemologischen These, dass 1 Vgl. Frankena (1951, 44). 2 Vgl. Mackie (1977, 9, 15 25). 3 Vgl. Darwall/Gibbard/Railton (1992, 125 126). 4 Einen kurzen, aber überaus informativen Abriss der Entwicklung der Metaethik ausgehend von George Edward Moores Principia Ethica (1903) über die Hochzeiten des Nonkognitivismus in den 1930er und 40er Jahren, das maßgeblich durch John Rawls beeinflusste Wiedererstarken der normativen Ethik zu Beginn der 1970er Jahre, die danach einsetzende Diversifizierung der Debatte bis hin zum Revival der Metaethik seit den späten 1970er Jahren, vor allem aber den 1980er und 90er Jahren geben Darwall/Gibbard/Railton (1992, 115 125). In der deutschsprachigen moralphilosophischen Debatte hat die Metaethik lange Zeit keine besondere Rolle gespielt. Und auch wenn sie heute sicher nicht mehr als»fremd«angesehen wird und auch nicht grundsätzlich in einem»schlechten philosophischen Ruf«steht wie Monika Hofmann-Riedinger im Jahr 1992 noch konstatiert hat, hat sie nach wie vor nicht annährend den Stellenwert, der ihr im angelsächsischen Raum zukommt; vgl. Hofmann-Riedinger (1992, 55).

12 1. Einleitung: Das Revival des ethischen Intuitionismus sich ethische Rechtfertigungsansprüche nicht inferentiell einlösen lassen, sondern dass sie zumindest in letzter Instanz nur durch Rekurs auf moralische Tatsachen wobei dieser Begriff hier zunächst in einem weitest möglichen Sinne zu verstehen ist, d. h. ohne irgendwelche ontologischen Festlegungen zu einem Ende gebracht werden können, die intuitiv erfasst werden. 5 Dabei variiert die Bedeutung, die inferentiellen Begründungsmethoden eingeräumt wird. Einigkeit besteht jedenfalls darüber, dass solche Begründungsmethoden grundsätzlich nicht als ausreichend angesehen werden. Weitgehende Einigkeit besteht des Weiteren darüber, dass die intuitiv erfassten moralischen Tatsachen den besonderen epistemischen Status der Selbstevidenz haben und sie damit ein Fundament für moralische Urteile bilden. 6 Selbstevidenz kann dabei im Sinne von a priori verstanden werden. 7 Der Intuitionismus ist insofern eine Spielart des foundationalism. 8 Einem weiteren Verständnis zufolge beinhaltet der ethische Intuitionismus neben der epistemologischen auch noch eine ontologische These, nämlich dass es sich bei den Tatsachen, die intuitiv erfasst werden, um Tatsachen sui generis handelt, die nicht vom Menschen gemacht, sondern vorgefunden werden und die zudem nicht vollständig mit Hilfe eines reduktionistischen Verfahrens auf empirische Tatsachen zurückgeführt werden können. 9 Dieser Auffassung nach handelt es sich also auch um eine Variante des nicht-natürlichen Realismus ( non-natural realism ). Schließlich wird mit dem Intuitionismus häufig noch die zusätzliche These verbunden, dass es eine irreduzible Pluralität von moralischen Prinzipien oder Werten gibt, es sich also um eine Spielart des ethischen Pluralismus handelt. 5 Es gibt zahlreiche andere, zum Teil sehr unpräzise Definitionen des ethischen Intuitionismus. So schreibt Donald Hudson beispielsweise in seiner kurzen Einführung in den ethischen Intuitionismus des 18. Jahrhunderts, dass das charakteristische Merkmal dieser Position die Annahme einer»immediate awarness of moral values«beim Menschen sei; vgl. Hudson (1967, 1). Solche Beschreibungen haben sicher Missverständnissen mit Blick auf den ethischen Intuitionismus als ethischem Theorietyp Vorschub geleistet. 6 Genau genommen können nicht moralische Tatsachen selbstevident sein, sondern nur Propositionen. Die Rede von selbstevidenten moralischen Tatsachen, Prinzipien oder dergleichen ist etwas unpräzise, aber durchaus gebräuchlich. 7 Vgl. Stratton-Lake»For a proposition to be self-evident is for it to be knowable on the basis of an understanding of it. So understood, there is no difference between a proposition s being self-evident and it being knowable a priori.«(stratton-lake (2002b, 18)). 8 Die gelegentlich anzutreffende deutsche Übersetzung Fundamentalismus ist wenig glücklich. Im Folgenden wird daher durchgehend der englische Begriff foundationalism verwendet. Zum foundationalism, speziell in der Ethik vgl. Timmons (1987). 9 Die eher naive Rede von gemachten und vorgefundenen Tatsachen wird im weiteren Verlauf präzisiert; vgl. unten Abschnitt 3.2.2.

1. Einleitung: Das Revival des ethischen Intuitionismus 13 Wie unübersichtlich die Lage tatsächlich ist, wird deutlich, wenn man einschlägige Handbuch- bzw. Lexikonartikel zum Begriff Intuitionismus auswertet: David McNaughton kennzeichnet den Intuitionismus als deontologische, pluralistische Theorie, die sich dadurch auszeichnet, dass sie in epistemologischer Hinsicht den begründungstheoretischen Gedanken selbstevidenter Pflichten ins Zentrum rückt und sich insofern von anderen deontologischen Theorien unterscheidet. 10 Walter Sinnott-Armstrong hingegen betont, dass die epistemologische These nicht-inferentiellen moralischen Wissens das alleinige Merkmal des Intuitionismus sei. Pluralismus und nichtnaturalistischer Realismus seien hingegen nicht notwendig mit dem Intuitionismus verbunden. 11 Jonathan Dancy weist auf eine historische Entwicklung hin: Zwischen den 1860er und 1920er Jahren sei Intuitionismus schlicht ein anderer Name für Pluralismus gewesen. 12 Dies habe sich dann aber geändert und nun werde der Begriff für eine epistemologische Position verwendet. Philip Stratton-Lake versucht Klarheit zu schaffen, indem er eine terminologische Differenzierung vornimmt: Er nennt die pluralistische Variante»methodological intuitionism«, während er das engere, auf epistemologische Aspekte beschränkte Verständnis von Intuitionismus als»epistemological intuitionism«bezeichnet. 13 Die vor allem vor Henry Sidgwick gebräuchliche Verbindung von Intuitionismus und Pluralismus hat John Rawls wiederbelebt. Er kennzeichnet in A Theory of Justice den Pluralismus nämlich als eigentliches Merkmal des Intuitionismus, räumt indes ein, dass es sich dabei um eine allgemeinere Redeweise als üblich handele. 14 Robert Audi hingegen vertritt die Auffassung, dass das, was Moralphilosophen heute zumeist vor 10 Vgl. McNaughton (2000, 269 270). An anderer Stelle verneint McNaughton sogar, dass der Intuitionismus durch eine»distinctive epistemology«von rivalisierenden Theorien unterschieden sei. Bezugnehmend auf James Urmson macht er geltend, der Intuitionismus wobei er naheliegenderweise nur Prichard und Ross als Repräsentanten nennt sei durch einen Pluralismus charakterisiert; vgl. McNaughton (2002, 76); dazu Urmson (1974/75, 111 112). 11 Vgl. Sinnott-Armstrong (1992, 628). 12 Vgl. Dancy (1993, 411); so auch Williams (1993, 101). Vgl. auch die kurzen»historical Remarks«, in denen Urmson berichtet, dass im Umfeld von Prichard der ethische Intuitionismus als Theorietyp verstanden worden sei, der sowohl dem Utilitarismus als auch dem Kantianismus entgegen stehe und nicht etwa dem Emotivismus oder dem Präskriptivismus oder gar dem Relativismus. Im Zentrum des Intuitionismus steht diesem Verständnis nach also ein normativer Pluralismus und nicht eine spezifische Moralepistemologie; vgl. Urmson (1974/75, 111 112). 13 Vgl. Stratton-Lake (2002a, xii xiii); Stratton-Lake (2002b, 2). Die Unterscheidung zwischen»methodologischem«und»epistemologischem«intuitionismus geht auf Bernard Williams zurück, der in einem Beitrag das Verhältnis beider Varianten analysiert hat; vgl. Williams (1995). 14 Vgl. Rawls (1999, 30); anders dagegen die Charakterisierung in Rawls (1980, 557).

14 1. Einleitung: Das Revival des ethischen Intuitionismus Augen hätten, wenn sie von Intuitionismus sprächen, ein Theorietyp sei, der drei Haupteigenschaften aufweise, nämlich erstens einen Pluralismus Rawls liegt demnach entweder falsch oder, was wohl zutreffender ist, er hat mit seiner Auffassung prägenden Einfluss gehabt 15, zweitens eine spezifische Auffassung von Abhängigkeit zwischen natürlichen und moralischen Tatsachen und drittens einen intuitiven Zugang zu moralischen Tatsachen. Anders gewendet zeichnet sich der Intuitionismus demnach also durch eine strukturell-logische, durch eine ontologische und durch eine epistemologische These aus. 16 Ein nicht-natürlicher Realismus sei wie Audi explizit betont durch diese drei Eigenschaften nicht impliziert. Auch sei der Intuitionismus nicht wie Kritiker gelegentlich unterstellten zu der starken These verpflichtet, dass die Intuition als rationales Vermögen unanfechtbares Wissen von selbstevidenten Wahrheiten liefere. Zentral für den Intuitionismus sei vielmehr nur die schwächere These, dass Intuition eine Verstandesleistung darstelle und Verstand schlicht diejenige mentale Fähigkeit bezeichne, die entscheidend für das Verstehen logischer und mathematischer Wahrheiten sei, eine Fähigkeit also, die sich wesentlich von sinnlicher Wahrnehmung und anderen möglichen Zugängen zu nicht-inferentiellem Wissen unterscheide. 17 Im Übrigen macht Audi William David Ross dafür verantwortlich, dass mit dem Begriff Intuitionismus nicht nur eine (enger oder weiter gefasste) metaethische Theorie bezeichnet wird, sondern auch eine umfassende ethische Konzeption angesprochen wird, die zusätzlich spezifisch normative Inhalte umfasst. 18 Ethische Theorien, die unter dem weiten Begriff des ethischen Intuitionismus zusammengefasst werden, weisen eine Reihe von theoretischen Vorzügen auf, die sie zumindest auf den ersten Blick attraktiv erscheinen lassen: Ein 15 Vgl. Williams (1995, 182). 16 Vgl. Audi (2004, 21). Später formuliert er insgesamt vier Bedingungen, die ein Intuitionismus seiner Meinung nach erfüllen muss; vgl. Audi (2004, 33 36); siehe dazu ausführlich unten Abschnitt 4.2.4 sowie 5.4. Neuerdings spricht Audi auch von»generic intuitionism«als metaethischem Konzept in Abgrenzung zu»an intuitionism«, als konkreter Theorie, die ein bestimmtes Set grundlegender moralischer Regeln enthält, die direkt auf alltägliche Situationen anwendbar sind; vgl. Audi (2008, 476). 17»Reason is often conceived as a rational, intuitive faculty, but it is not confined to apprehension of self-evident truths. It may be better understood in language that is relatively neutral psychologically: as the mental capacity crucial for understanding logical and mathematical truths, a capacity viewed as differing in crucial ways from sense perception and other possible routes to non-inferential knowledge or justification. A number of writers, particularly critics of intuitionism, take it to imply the stronger thesis that the intuitive faculty in question yields indefeasible knowledge of self-evident moral truths.«(audi (2004, 22)). 18 Vgl. Audi (2004, 20).